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Die Funk-Stunde AG. veranstaltet vom 3.-15. August 1925, täglich 6 12; Uhr morgens (außer Sonntags) einen geschlossenen, systematisch aufgebauten Kursus für Leibesübungen nach dem System Dr. Rudolf Bode. Die ausführlichen Erläuterungen sowie die Kommandos werden, durch entsprechende rhythmische Musikbegleitung unterstützt, auf Welle 505 gesendet, so daß also die Rundfunkteilnehmer in der Lage sind, im Hause oder im Freien die Übungen auszuführen.
Vor langen Jahren, als das Telephon noch eine kostspielige Rarität war, die sich nur Protzen leisteten, schaffte sich ein nicht übermäßig intelligenter Pariser Kaufmann einen solchen Teufelskasten an.
Einmal wurde er an den Apparat gerufen. Eine scharfe amtliche Stimme stellt sich als die Prüfungsstelle vor und läßt ihn ein Dutzendmal in allen Höhen und Tiefen A sagen. Dann läßt ihn die Stimme drei Schritte zurücktreten und zwei Schritte vor und dabei immer A sagen und schließlich kommandiert sie: dreimal Kniebeuge. Halbersticktes Lachen hinter dem Rücken des also Geprüften. Er wendet sich puterrot und findet die Korona seiner Kommis vor mühsam unterdrückter Heiterkeit fast vergehend. Er war einer kleinen Fopperei zum Opfer gefallen.
... und nun stelle man sich bitte vor, daß täglich (außer Sonntags) Hunderttausende nach der Stimme aus den Wolken ihre Leibesübungen verrichten. Daß täglich zur gleichen Sekunde und Minute Hunderttausende an den Bändern eines unsichtbaren Regisseurs zappelnd, durch rhythmische Musikbegleitung unterstützt, die gleichen mechanischen Bewegungen vollführen. Nach dem System von Herrn Dr. Rudolf Bode.
Wir haben bisher noch nicht das Vergnügen gehabt, das System des Herrn Dr. Bode kennen zu lernen. Wahrscheinlich werden es die seit dem ollen, ehrlichen Vater Jahn eingebürgerten Exerzitien sein, wie »Oberkörper vorwärts beugt!« »Beine spreizt ...!« usw. Nur daß die Terminologie, der Zeitmode entsprechend, die Kraft und Schönheit wieder vereinen möchte, wahrscheinlich etwas »gebildeter« sein wird als auf dem Kasernenhof oder in der Turnhalle. Auch hat der gute Jahn seine Bauchwelle ohne Musik betreiben lassen. (Bei allen bisherigen und kommenden Meriten des Herrn Dr. Bode, warum, warum überträgt man die Oberleitung nicht Ringelnatz, der sich mit seinen kernig-frommen »Turnerliedern« so klaftertief ins deutsche Gemüt eingesungen hat?)
Ein mächtiger Schritt zur letzten Normalisierung des Daseins ist geschehen. Bald werden wir alle nach einer unsichtbaren Flöte tanzen. Bis in die diskretesten Funktionen hinein werden wir reguliert werden von einer Zentrale, die auf Welle 505 ihre Befehle in unsere Ohren dröhnt und uns alle in ein Gleichmaß drängt. Heute Funkstunde, morgen Radiotag, Radionacht. Arbeit und Erholung, Radio überwacht alles. Essen, Trinken, Schlafen, Aufstehen, Radio kontingentiert alles. Radio bestimmt, verkürzt, verlängert, verschönt, vermiest die Schäferstunden. Je nachdem. Und vielleicht werden wir von rhythmischer Musikbegleitung unterstützt sogar schnarchen. Der Richter braucht nicht mehr ins Tribunal zu kommen. Er verhängt über eine bestimmte Kategorie von Sündern um 11 Uhr die gleiche Strafe, um 11 ein Viertel ist schon eine andere Gruppe von Missetätern dran. Der General verkündet Sturmangriff ... und legt sich auf die andere Seite. Er macht den Krieg von seinem behaglichen Heim aus. Wie einfach wird das Leben werden!
So erfüllen sich die kühnsten utopistischen Träume. Und wenn alles egalisiert ist, alles hübsch gehorsam an einer Strippe bammelt, dann wird vielleicht die Sintflut über die so vervollkommnete Menschheit hereinbrechen ... auf Welle 505.
Montag Morgen, 3. August 1925