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Wo stecken denn eigentlich die Befürworter des Volksentscheids? Noch zwei Wochen trennen uns vom Stichtag, und wir spüren nichts von einer Agitation. Jetzt müßten doch jeden Abend Versammlungen stattfinden, die Straßen von Flugblättern überschwemmt sein, Plakate aufklärender, herausfordernder, satirischer Art an den Anschlagsäulen kleben! Wir haben Heute mehr witzige Zeichner und Versemacher denn je, die nach Betätigung hungern. Warum läßt man sie feiern? So ein Feldzug gegen die Potentaten und ihre Everlinge könnte doch frei sein von der Popeligkeit gewohnter Parteiagitation: – das müßte ein Volksfest sein voll Laune, Knallbonbons und Feuerwerk. Statt dessen entweder feierliches Schweigen oder abwimmelnde Verlautbarungen. Das Reichsbanner erläßt eine Erklärung, die mehr vermiest als spornt. Die demokratischen Prominenten warnen mit erhobenem Pädagogenfinger. Die sozialdemokratische Presse haspelt täglich ein unlustiges Pflichtpensum ab. (Die Welse sind ja schon lange wieder kompromißfertig.) Und die Kommunisten spekulieren auf Fehlschlag des Volksentscheids, weil sie von der Enttäuschung in der Nachbarpartei Ernte erhoffen. Das nennt man republikanische Front. Dabei sind in allen Linksparteien mutig rebellierende Minoritäten, unbekümmert um das Stirnrunzeln der Bonzen, am Werke. Ihnen, nicht den Parteizentralen, kommt das Verdienst zu, daß man vom Plebiszit überhaupt noch spricht.
Die Auseinandersetzung des Ministerial-Direktors Abegg mit den Deutschnationalen im Preußischen Landtag ist nicht ganz so glanzvoll verlaufen, wie es nach den Berichten der Linksblätter scheinen mochte. Herr Abegg befand sich in der unglücklichen Lage, eine Rede nicht pointieren zu dürfen. Er mußte nicht nur das schwebende Verfahren berücksichtigen, sondern durfte auch aus leicht begreiflichen Erwägungen nicht die Personen aus dem Lager der Rechten nennen, die die Polizei erst auf die Spur gebracht haben. So mußte er sich nur auf Andeutungen beschränken und den stürmischen Rufen: »Namen nennen!« Schweigen entgegensetzen. Das brachte ihn von vornherein ins Hintertreffen gegenüber der lungenstarken Opposition. Warum schickte man Herrn Abegg allein vor? Es ist nicht Brauch, einer randalierenden Obstruktion einen Ministerial-Direktor entgegenzustellen. Dessen Aufgabe ist lediglich der Tatsachenbericht; die politische Umrahmung fällt dem Ressortminister zu. (Da Severing beurlaubt ist, hätte Ministerpräsident Braun nochmals persönlich eingreifen müssen.) Schade, daß eine schlechte Regie diese Sitzung verpuffen ließ. Was Abegg mitzuteilen hatte, war bedeutsam genug, brauchte aber Unterstreichung durch den Chef des Kabinetts. So blieb der Eindruck einer persönlichen Beamtenleistung, nicht einer Staatsaktion. Die Rechtspresse hat es denn auch herzlich leicht, die Sache als Belanglosigkeit zu behandeln. Eine Ministerrede hätte man zwar auch mit Insulten spicken, aber nicht einfach unterschlagen können.
In der Presse gehen die Vermutungen weiter, welche »angesehene Persönlichkeit aus dem Rechtslager« wohl die Polizei über die Putschpläne informiert habe. Der zuerst genannte Herr Geheimrat Duisberg lehnt mit Entsetzen ab. Niemand will die Gans gewesen sein, die das Capitol wach geschnattert hat. Auch Herr Stresemann bestreitet ganz energisch. Das sind merkwürdige Republikaner: sie verwahren sich dagegen, die Republik gerettet zu haben. Aber Stresemann geht noch weiter: er tritt schützend vor die entlarvten Verschwörer und ihre schwerindustriellen Gönner, denen eine polizeiliche Haussuchung einen Morgenschlummer gestört hat. Er erklärt: die inzwischen bekannt gewordenen Veröffentlichungen konnten ihn bisher nicht davon überzeugen, daß die Voraussetzungen für ein derartiges Vorgehen der preußischen Regierung tatsächlich gegeben waren. Der Herr Minister der Republik rüffelt also nicht nur die Polizei, die nur ihre Pflicht tat, sondern greift auch wertend in ein Verfahren ein, das augenblicklich in den Händen des Oberreichsanwalts liegt. Das ist nicht nur eine vorbildliche staatsbürgerliche Leistung, sondern auch ein beträchtliches Charakterstück. Eingeweihte wissen, daß Herr Stresemann, der hier stramm und gottvertrauend Hans Ohnefurcht spielt, Putschängste sonst durchaus nicht als Bagatellen behandelt und zu feuchten Fingern neigt, wenn er dergleichen hört. In den Ämtern kreisen noch heute entzückende Anekdoten, wie nervös es im Reichskanzler-Palais im Herbst 1923 zugegangen ist und wie jede bescheidene Detonation leiblichen Ursprungs gleich für eine Bomben-Explosion gehalten wurde. Aber während Stresemann die Verschwörer deckt, reist der demokratische Führer Koch für die Große Koalition herum, bemüht sich der Genosse Hilferding in gleicher Richtung. Und immer wieder: warum der ganze Flaggen-Krakehl, warum die erschröckliche Aufregung um den Putsch, wenn der Sturm vor Stresemanns Arbeitszimmer in sanftes Säuseln umschlägt? In unserm parlamentarischen Rotwelsch nennt man das: verantwortungsbewußte Opposition.
Herr Artur Mahraun, der Hochmeister des Jungdeutschen Ordens, ist zur republikanischen Seite übergegangen. Endlich einmal eine moralische Eroberung! Endlich ein Bußfertiger, der es wagt, sich durchs republikanische Nadelöhr zu zwängen! Als Morgengabe hat er eine Denkschrift über die finstern Pläne seiner frühern Freunde mitgebracht und Herrn Geßler überreicht. Daran erkennt man das Greenhorn. Der gutartige Ordensritter weiß in der Republik noch nicht recht Bescheid. Er geht von der völligen irrigen Annahme aus, Herr Geßler, als der zunächst Betroffene, wisse für solche Warnungen Dank. Aber Herr Geßler ist ein Fanatiker der Ruhe: er zählt, wie Anatole France von Cicero sagt, zu den maßlos Gemäßigten. Er sieht seinen Feind in Jedem, der ihm sagt, in seinem Kanton stimme etwas nicht. Herr Mahraun hätte besser getan, seine Enthüllungen in den Landwehr-Kanal zu werfen, anstatt sie in der Bendler-Straße zu deponieren. Was für ein Gesicht der Herr Minister wohl gemacht hat? Kinder und irrende Ritter haben die Engel. Mahraun kann von Glück sagen, daß ihm der Mann seines Vertrauens nicht gleich ein Landesverratsverfahren angehängt hat.
Herr Hermes, der unvergeßliche Assignaten-Minister von 1923, ist in eine Kommission zur Untersuchung der Wirtschaftsnot gewählt worden. Es ist scheinbar in Deutschland unmöglich, unmöglich zu werden. Die Franzosen lassen ein Genie wie Caillaux nach kurzer Zeit enttäuscht fallen; wir putzen die ärgste Vogelscheuche der Finanzgeschichte wieder als Mentor auf. Es gibt wohl eine besondere deutsche Gourmandise der Niederlage.
Prälat Seipel hat in Paris über das »wahre Gesicht Österreichs« gesprochen. Solche Reden im Auslande wiegen nicht viel, beschränken sich fast immer nur auf einen Rosenkranz von Artigkeiten. Seipel redete jedoch nicht nur rein dekorativ: er fand einige durchaus persönliche Töne und verwahrte sich sogar dagegen, etwa für einen Pazifisten gehalten zu werden. Auch gegen den Anschluß sprach er. Das sollte in Deutschland zu denken geben. Nicht, als ob er damit etwas völlig Neues gesagt hätte; seine Stellung ist ja von früher her bekannt. Es scheint, daß die deutschen Anschlußfreunde die Hemmnisse oft an falscher Stelle suchen: sie sehen nicht, daß die Torsperre in Wien selbst schärfer ausgeübt wird als von den Pariser Wächtern der Friedensverträge. Das hat Ignaz Seipel wieder deutlich gemacht. Wir dachten bisher, wenn wir von Groß-Deutschland redeten, allzu ausschließlich an den idealistischen Demokraten Ludo Hartmann oder an ein paar Sozialistenführer aus Victor Adlers Zucht, die Radikalität mit seltenem taktischen Talent vereinen. Ein ganz anderes Österreich tritt uns in Seipel entgegen. Der ist im Grunde nicht mehr als ein pfiffiger und bigotter Provinzverstand, wenn auch nicht umsonst durch die Schule eines diplomatisch geschliffenen Priestertums gegangen: von den bayrischen Politikern, die wir ja zur Genüge kennen, gleichsam die Vorzugsausgabe auf Bütten. Er ist noch immer der geheime Leiter der regierenden Christlich-Sozialen Partei, die ein Sammelsurium darstellt aus schwarzem Klerikalismus, raunzendem Lokal-Patriotentum und etlichem hakenkreuzlerischen und schwarz-gelben Beiwerk. Alle Nuancen dieser Vielfalt beherrscht Seipels geschmeidiges Organ. Nur manchmal fühlt man es deutlich heraus, daß die Stimme biegsamer ist als das Hirn. Das fühlt sich zu Hause bei Horthy, bei Mussolini, überall dort, wo demokratische Instinkte mit dem Knüppel behandelt werden. Solange die Christlich-Sozialen in Österreich dominieren, bleibt Groß-Deutschland nur eine zerbrechliche Idee.
Von den englischen Liberalen hört man nur noch, wenn es bei ihnen Krach gibt. Die einst so stolze Partei besteht nur noch aus einer Reihe von Führern sehr verschiedenen Wertes und einer Ideologie. Wie so oft wird wohl auch hier der Gedanke die Männer überleben. Man geht heute nicht mehr zu den Liberalen. Der Citymann schwenkt zu den Konservativen, die immer deutlicher zur Kaufmanns- und Industrie-Vertretung werden. Auch die jungen sozialreformerischen Elemente wenden sich, ganz nach individueller Färbung, entweder zu Baldwin oder zu Snowden. Dem Engländer fehlt nun einmal die kontinentale Vorliebe für Modergeruch. Eigentlich war die Partei schon erledigt an dem Tage, wo ein pazifistischer Flügel unter Morel und Ponsonby gegen die Kriegspolitik protestierend zu MacDonald ging. Damals haben die Liberalen verloren, was sie immer frisch erhalten hat: die Brücke zu jüngern und weitgespanntem Ideen. Damit stockte auch die Rekrutierung. Damals war der Anlaß der linken Sezession Lloyd George; heute ist der selbe Mann Objekt einer peinlichen Inquisition, ausgeübt von Asquith und Grey, den Hütern der Tradition. Man kann gegen David Lloyd George sehr viel einwenden, aber er unterscheidet sich von den würdigen Parteipriestern durch Genialität des Instinktes: er ist als Politiker ganz Nase. Deshalb wittert er aus dem Generalstreik Möglichkeiten, die den verstopften Riechorganen der alten Manchester-Männer entgehen müssen. Und deshalb nimmt er Partei für die Arbeiter und gegen die Ordnungs-Wüteriche. Niemals hat er so richtig zu den Liberalen gepaßt: Temperament, Phantasie, demagogische Beredtsamkeit, Gefühl für soziale Zusammenhänge, das Alles sprengte die Grenzen der Erbschaft Gladstones. Er pfiff immer auf Manchester und seine Doktrine, wollte ein Mann der Massen sein, Steuern mildern und gesunde Wohnungen bauen. Vieles ist er schuldig geblieben, vieles seiner Art hat er im Kriege als Prophet der wildesten Jingoes verloren. Ein Schicksal voll tragischer Ironie. Jahrelang durfte er diktatorisch schalten, dann wurde er gestürzt, von den eignen Anhängern erbittert zur Rechenschaft gezogen, oft bei Seite geschoben wie ein zahnloser Querulant, der nur noch keifen und nicht mehr beißen kann. Er weiß, daß Die um ihn vergreist sind, sein Instinkt der bessere ist und macht einen desperaten Versuch, das Steuer zu ergreifen und nach der andern Seite zu drehen. Und da rüffeln sie ihn, der Botschafter von Großmächten wie Lakaien behandelt hat, wie einen Schulbuben. Ein grausamer Abgang, und doch nicht ohne Glanz. Der Vielgewanderte kehrt zu den Anfängen seiner Jugend zurück, sendet der sozialen Rebellion seinen Gruß. Vielleicht wird er jetzt ganz ins Wesenlose versinken: ein Don Quichotte des politischen Streitplatzes, ohne Partei, ohne Kameraden, grade gut genug für den Spott grüner Pamphletisten und Journale dritten Ranges. Doch wie er sich jetzt noch ein Mal aus der Ohnmacht reckte, das war wirklich eines alten Löwen letzter Sprung. Man wird ihn wohl bändigen, das Flackerlicht zum Erlöschen bringen. Doch dann wird es auch in der zweihundertjährigen Partei der Whigs ewige Nacht sein.
Die Weltbühne, 8. Juni 1926