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Die Franzosen sind sehr stolz auf ihren großen nationalen Film »Das Mirakel der Wölfe«. Das ist eine sehr turbulente Geschichte aus der goldenen Ritterzeit, da die eisernen Männer des Königs gegen die eisernen Männer des Herzogs von Burgund stritten und die guten Bürger, wie immer, die Kosten für das muntere Ringelstechen zahlten. Eine Generation nach der Heiligen Johanna macht sich ein tapferes junges Mädchen in schauriger Winternacht auf, um das gesalbte Haupt des Königs aus der Hand haßgieriger Feinde zu retten. Aber ein Rudel hungriger Ardennerwölfe hetzt die Arme durch den nächtlichen Wald, bis sie endlich zu Tode erschöpft niedersinkt, in frommer Ergebung die mörderische Schar erwartend. Doch anstatt sich auf ihr Opfer zu stürzen, ziehen die Bestien einen magischen Kreis um das Mädchen, legen sich lammfromm zu ihren Füßen nieder. Das Mirakel ist geschehen. Es rauscht wie Glockengeläut durch die kahlen Baumkronen, frohe Botschaft allen Ungläubigen: durch das Medium eines reinen Mädchens ist der König gerettet; das unvernünftige Getier selbst hat für Frankreich entschieden und fletscht die Zähne wider Burgund. Gloria in excelsis deo! Noch für Jahrzehnte wird Ludwig XI. seine Feinde köpfen, hängen, rädern, pfählen.
Soweit die Filmlegende. Inzwischen wurde die Welt viel wunderloser, immer seltener Intervention himmlischer Mächte. Selbst Lucifer manifestiert sich nicht mehr persönlich, sondern überläßt die Wahrnehmung seiner Interessen den Menschen selbst, weil er sie da in guten Händen weiß. Und dennoch geschehen auch heute noch Zeichen, die wie mit erhobenem Zeigefinger ins Unbegreifliche weisen und zu stiller Demut auffordern. Es gibt noch immer Mirakel, wenn auch in profanerer Hülle.
Im Oktober 1917 wurde in Vincennes die Tänzerin Mata Hari als Spionin erschossen. Was sie ausspionierte, wird wohl die heute noch streng verschlossene Aktengruft einmal ausplaudern und soll uns hier nicht bekümmern. Aber nicht soll vergessen werden, daß von den zur Exekution kommandierten Soldaten zwei in Ohnmacht fielen. Zwei Soldaten, mit dem dienstlichen Befehl, auf eine Frau zu schießen, fielen in Ohnmacht.
Diese Frau war nicht jung und schön und nicht von jenem Glanz von Reinheit umflossen wie die kleine Heldin der nationalen Legende. So sahen die Soldaten sie vor sich: ein gezeichnetes Lastergesicht, das schwarze Haar im Angstschweiß an der Stirn verklebt, ein Weinen zerrt um die Mundwinkel und aus den aufgerissenen Augen fliegt letzte weibliche Neugierde in die Gewehrläufe. Das war keine heilige Märtyrerin Cäcilia oder Metella, von Sphärenmusik erfüllt und auf der Stätte der Qual schon von Cherubsflügeln umrauscht. Das war Mata Hari, die Pariser Bajadere, die Tänzerin aus Mischblut mit der gelben Haut der Asiatin, die mit ein paar Perlenschnüren behängt zu nächtlichen Orgien jener Welt tanzte, die auch im Kriege scharfe Mittel zur Bekämpfung der Langenweile anwenden mußte. Und wenn in diesen gräßlichen Sekunden etwas von den Geräuschen ihres Lebens in ihr klang, so war es das Gerassel von Tanzmusik in nächtlichen Bars, das Klirren der Sektgläser und das Gewieher aufgepeitschter Laffen.
Nein, kein Seraph schwebte für die herab. Nur zwei Soldaten sahen plötzlich schwarze Flecke vor den Augen, wankten etwas, tasteten vorschriftswidrig nach der Herzgrube und kippten wie gefällte Stämme. Was mag sie gefühlt haben in diesem Augenblick? – Schleuderte Hoffnung eine Leuchtrakete vom Herzen ins Hirn? Präludierte ein zitterndes Stimmchen ein Lebenslied? Da zerfetzte die Salve den letzten Klang.
Aber diese zwei Soldaten, diese Duponts oder Lerois, was ließ sie in Ausübung harter militärischer Pflicht so schwach werden? Hatten sie sich von ihren kriegerischen Funktionen höhere Vorstellungen gemacht? Nichts, nichts sprach für das Weib auf dem Richtplatz. Diese Frau hatte, woran wohl kein Zweifel war, den Müllers und Schulzes, Duponts und Lerois Feinden, verräterische Signale gegeben, und wenn nächtlich Bomben auf die Häuser von deren Eltern und Kindern klatschten, so war es dieser Frau Schuld. Und doch, wie die Poilus die Gewehre auf ihr menschliches Ziel richteten, da war es nicht die vielmals todeswürdige Sünderin, da war um sie der magische Kreis der gepeinigten Frau und in ihren aufquellenden Augen lasen sie die ewigen Schriftzeichen der Todesangst, und es sprang ein Zittern daraus in ihre Knie und warf sie.
Das ist vielleicht nur ein mageres Wunder. Denn Mata Hari wurde nicht gerettet, um als büßende Magdalena für die unverwelkliche Heilbotschaft zu zeugen. Vielleicht war es auch gar kein Mirakel und alles ging mit rechten Dingen zu. Vielleicht gibt es nämlich heute gar keine richtigen Soldaten mehr, vielleicht hatte schon das Geschlecht von 1914 zu dem Handwerk gar keine Beziehungen mehr. Wir können ja alle im Grunde gar kein Blut mehr sehen. Nicht gemeinsamer Mut, gemeinsame Furcht hält diese Heere falsch beschäftigter Zivilisten zusammen, läßt sie bald nach hinten fliehen, bald vorwärts in den Feind hinein. Der Krieg ist nur noch Sache beruflich Passionierter, und wer, wie die beiden Soldaten, in die Augen der zu Tode Geängstigten sah, der blickte in den Spiegel der eigenen Todesfurcht und schwand dahin im Entsetzen vor dem entschleierten Bild.
Wahrscheinlich sind Dupont und Leroi von ihren Vorgesetzten nachher furchtbar gerüffelt und zur Nervenauffrischung schleunigst an die Somme geschickt worden. Aber sie haben in ihrer Schwäche ein Zipfelchen vom Kleide der Menschheitsehre erhascht und gerettet. Und wenn sie heute nicht von Gas erstickt oder von einem Projektil zerrissen, irgendwo im Massengrab ruhen, so wünschen wir ihnen von ganzem Herzen ein behagliches Rentnerdasein, unbeschädigt von der Inflation, und eine friedlich blühende Nachkommenschaft. Und wenn sie einmal ins Jenseits eingehen, dann bitte nicht in die Abteilung kriegerischer Helden, sondern dort, wo Kinderseelchen mit Bleisoldaten spielen. Da werden niedliche kleine Lausbubenengel, das Käppi schief aufs Ohr gesetzt, zu ihrem Empfang Ehrenwache stehen. Denn wenn der Mensch auch nicht gerade gut ist, das haben Dupont und Leroi demonstriert, so ist er doch bei weitem besser als sein Ruf.
Prager Tagblatt, 18. Februar 1926