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Der Prozeß gegen den Freiherrn von Lützow hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die an Grundprobleme moderner Pädagogik rühren. Das ist das einzige Gute dieses höchst unerfreulichen und in seiner prozessualen Ausdehnung ziemlich isoliert dastehenden Falles. Unter anderem hat auch die Diskussion über die Prügelstrafe wieder eingesetzt. Es ist dabei von Elternseite behauptet und von den Vertretern der Lehrer durchweg zugegeben worden, daß in vielen Berliner Gemeindeschulen wieder reichlich und gründlich geprügelt wird, und daß selbst in höheren Schulen und bei höheren Altersstufen die Prügelsitte wieder Eingang gefunden hat. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn in einem »Landeserziehungsheim«, wie dem Lützows, in dem allerhand schwer erziehbare Berliner Rangen Aufnahme gefunden hatten, gewisse Methoden vorherrschten, die lebhaft an die prügelreichen englischen Internate erinnern.
Die Berliner Lehrerschaft hat kürzlich auf Vorwürfe aus dem Publikum geantwortet, daß sie sich durchaus zutraue, ohne Anwendung körperlicher Züchtigungen auszukommen, wenn besonders schwierige Kinder endlich in Sonderklassen gesammelt würden. Dem stehe aber noch die Notlage des Staates entgegen, der dafür keine Mittel habe. Das heißt, daß Abstellung der Mängel auf eine freundlichere Zukunft verschoben werden muß, und daß einstweilen weitergeprügelt wird. Mit dieser Tatsache werden und wollen sich aber viele Eltern nicht abfinden: sie betonen mit Recht, daß die Versicherung, die Züchtigungen hielten sich natürlich in »maßvollen« Grenzen, allzu kautschuckartig sei, um damit etwas anzufangen.
Während die moderne pädagogische Theorie körperliche Züchtigung völlig verwirft, schwingt die tägliche pädagogische Praxis wieder fleißig den Stock und legt – oder bricht – den »schwierigen Fall« einfach übers Knie, wenn sie nicht mehr weiter weiß. Ist dieser Weg einmal beschritten, dann verwischt sich auch leicht der Unterschied zwischen angeblich gebotener Notwendigkeit und Mißbrauch. Daraus entstehen dann die Prozesse und die Experten büffeln darüber, ob der siebente Schlag noch »normal« war oder schon »sadistisch«, also strafwürdig. Das Schlimmste aber, daß die Schule wieder zur Drillanstalt wird, in der nicht die feinere seelenkennerische Methode, sondern, wie einst, der Bakel regiert.
Einer der Hauptsachverständigen im Lützow-Prozeß, Herr Dr. Andresen, der Leiter einer großen mitteldeutschen Erziehungsanstalt, führte aus, indem er auf die angeblichen sexuellen Verfehlungen des Angeklagten zu sprechen kam, man müsse diesem zugute halten, daß in der modernen Pädagogik die Bedeutung einer erotischen Einwirkung des Lehrers auf den Schüler nicht gering eingeschätzt werde. Erotik ist natürlich nicht Sexualität gleichzusetzen, aber ... Man hat bei diesen Auseinandersetzungen der Fachleute ein etwas peinliches Gefühl: man ahnt eine Krise der gesamten modernen Pädagogik. Nicht nur der alten Richtung, sondern auch der modernen reformerischen Tendenzen. Auch diese brauchen bestimmte reale Voraussetzungen, um applizierbar zu werden, sind also Zukunftsmusik; für die Notlage der Gegenwart ist die Beschaffung der Instrumente zu teuer.
Wir würdigen alle Schwierigkeiten wohl. Wir wissen, daß die Jugend heute früher sich selbst überlassen bleibt, daß durch die rapide Auflösung der Familie, durch die ewige Wohnungsmisere der Schule heute soziale Aufgaben zufallen, von [denen] sie früher sich nichts träumen ließ. Wir ahnen durchaus die Zwickmühle der Pädagogik: – aber gibt es denn wirklich nichts zwischen den Extremen Kuß und Stock?!
Die Eltern wünschen sich die Schule weder als Drillanstalt noch als Übungsstätte für Päderasten, die ihre privaten Neigungen mit Redensarten von »übergroßer Menschenliebe« usw. idealistisch umkleistern. Fressen sich die heutigen Prügelsitten aber tiefer ein, dann kann man tausend zu eins wetten, daß Kuß und Stock, die Extreme sich schließlich finden und daß eine krankhafte Atmosphäre entsteht, in der auch der »Normale« straucheln kann.
Es gibt eine Möglichkeit, die häßlichen Extreme zu überwinden: die Versachlichung der Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler. Man packe der Schule nicht das auf, was sie nach einer landläufigen Phrase sich gern zuschreibt, aber niemals leisten kann: den fertigen Menschen zu formen. Das Amt der Schule ist nicht Formung, sondern Vermittlung. Vermittlung von Kenntnissen und eines bestimmten zivilisatorischen Durchschnitts. Alles weitere muß das Leben, muß das persönliche Erleben des Reifenden besorgen. Die alte Schule wollte den Menschen durch Eintrichterung von Wissen »bilden«, die neue Schule tut noch Ethik dazu, so wie man Ricinusöl mit süßem Kaffee schlucken läßt. Alte und neue Schule stehen sich als harte Gegensätze gegenüber, in einem aber begegnen sie sich: wenn sie nicht mehr weiter kommen, fangen sie an zu hauen.
Wir möchten die Schulmeister vor gutgemeinter Überschätzung warnen. Die Schule, auch die beste, ist für den jungen Menschen eine Qual. Vielleicht hat sie ihr Höchstes schon erreicht, wenn kein Fünfzigjähriger mehr in seinen Alpträumen vor den Torturen der Schulbank bebt. Ein heißes Glas Milch für ein armes zitterndes Würmchen an einem kalten Wintertag aber ist wertvoller als was sie an Wissen, an Moral verabfolgt.
Montag Morgen, 7. Juni 1926