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»Gestern nachmittag erschoß nach kurzem Wortwechsel der 22jährige X. das 18jährige Frl. Y. und richtete dann die Waffe gegen sich selbst. Frl. Y. starb nach einer Stunde, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. X. wurde in hoffnungslosem Zustande ins Krankenhaus geschafft. Er war, wie verlautet, in das junge Mädchen verliebt, ohne daß sie seinen Anträgen Gehör schenkte.«
Mit erschreckender Gleichförmigkeit kehrt alle paar Tage in den Zeitungen diese Meldung wieder. Solche Häufung kennzeichnet eine Situation. Eine neue geistige Epidemie droht.
Auch der Selbstmord unterliegt Wechsel und Mode. Zwar gibt es doch immer genügend Unglückliche, die wie durch die Hintertür aus dem Leben schleichen. Alte, Kranke, Zermürbte, Opfer des täglichen Guerrilla-Krieges um das bißchen trockene Brot, die resigniert in die ewige Schmerzlosigkeit gleiten. Doch daneben reckt sich ein Größenwahn, der laut und protzig durch die Vordertür fällt und gleich zur Gesellschaft ein anderes Leben mitreißt. Es ist, als brülle jemand: »Schaut alle her, so sterbe Ich!«
So unantastbar das Recht bleibt, einem sinnlos gewordenen Dasein selbst ein Ende zu bereiten, so aberwitzig ist es, einen zweiten Menschen, der leben will, mitzuziehen. Furchtbar mehren sich die Fälle, wo ein jämmerlicher Hysteriker ein unerfahrenes sentimentales Mädel so lange psychisch unterminiert, bis sie bereit ist, ihm in den »Freitod« zu folgen, oder wo einer, der kein Entgegenkommen findet, in einem verrückten Affekt erst auf die Begehrte schießt und dann den Revolver gegen sich selbst kehrt. Weil ein junger Fant seine Nerven nicht beherrschte, deshalb werden blühende Leben ausgelöscht, und in viele Familien zieht Trauer und Öde ein.
Es dreht sich da meistens nicht um Eifersuchtsszenen, Zwistigkeiten, Auseinandersetzung vor der Trennung, um nichts, was Eruptionen von Leidenschaften begreiflich machen kann. Sondern: der Kavalier bestürmt, das Mädchen lehnt ab, der Kavalier zieht das Schießeisen ... Romantische Gemüter mögen um die Problematik des Jünglings einen Roman spinnen, seine Psyche durchwühlen, Motive ausbrüten. Die Vernunft sagt höchst unromantisch: Was hier geschieht, ist blanke Scheußlichkeit. Hier rast nicht desperat gewordene Liebe, sondern ein Militarismus des Gefühls, kranke Lust am Knalleffekt, Minderwertigkeit, die sich heroisch aufmutzt und im Stürzen noch ein Anderes, Wertvolleres mitzieht.
Es gibt eine Beratungsstelle für Selbstmordkandidaten; ihre Aufgaben sind wohl vornehmlich sozialer Natur, – sie kann sicherlich viel Nützliches bewirken. Doch was fehlt, ist eine Beratung für Liebende, die sich nicht zu helfen wissen, eine erotische Auskunftei für jene ewigen Tölpel des Herzens, die die schöne Leichtigkeit nicht finden, sich selbst in einer wechselreichen Praxis zu schulen. Da könnte dem entsicherten Jüngling beigebogen werden, daß Liebe, die nicht im Herzen wachsen will, sich nicht mit Revolverkugeln hineinjagen läßt. Daß es aber außer dem ultimativen Standpunkt »Liebe oder Tod!« noch andere Methoden gibt, die sich gelegentlich schon bewährt haben sollen, z.B. etwas natürliche Liebenswürdigkeit, ein freundliches Gesicht und ein wenig Galanterie, obgleich die heute nicht hoch im Kurs steht. Segensreich wäre auch Unterweisung, wie man mit Anstand einen Korb entgegennimmt. Der Findige wird auch diesem unerfreulichen Moment von der kühlen Verbeugung bis zum gemütlichen »Na, denn nich!« zahlreiche individuelle Nüancen abgewinnen können. Applikation des Revolvers jedoch, das müßte auch dem Wildesten plausibel gemacht werden, zeugt nicht von tragischer Lebensauffassung, sondern lediglich von schlechten Manieren.
Übrigens könnten auch die Apotheker sich ein wirkliches Verdienst erwerben, wenn sie mit entsprechender Empfehlung für Liebeskranke irgendein hanebüchenes Laxativ, das für mindestens drei Tage zu strengster Konzentration und Abkehr von allen weltlichen Eitelkeiten zwingt, sichtbar ins Fenster stellen würden. Wie viel Unheil könnte durch rechtzeitiges Einnehmen verhindert werden.
Scherze um ein ernstes Thema? »Sterben ist kein Harlekinsprung«, sagt der Dichter, und in Jahren der Verwilderung und Geringachtung des Menschenlebens sind die Prinzipien der Zerstörung bis ins privateste Leben eingedrungen. Auch in Liebesdingen herrscht noch immer Spannung, Krampf und elektrisch geladene Atmosphäre. Draußen in der Welt ist indessen einiges milder geworden; der Paroxysmus weicht der Ermattung, man wird wieder versöhnlicher. Ich plädiere für ein Locarno der Erotik.
Montag Morgen, 31. Mai 1926