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Der negative Ausgang der deutsch-belgischen Besprechungen um Eupen-Malmedy hat in Deutschland beträchtliche Verstimmung hervorgerufen und die außenpolitischen Wetterwarten in den großen Redaktionen sind sich nur noch nicht einig darüber, ob der Fehlschlag auf englische oder französische Ränke zurückzuführen sei. Unbestritten ist nur, daß von Belgien ein Angebot vorlag, ein ihm durch den Friedensvertrag zugesprochenes Territorium gegen entsprechende finanzielle Kompensationen zurückzugeben.
Wer diese Absicht auch durchkreuzt hat, Chamberlain oder Poincaré, oder, wie am wahrscheinlichsten, Parker Gilbert, der Reparationsagent, er hat, ohne zu wollen, ein gutes Werk getan. Menschen sind kein Handelsobjekt wie Vieh oder Baumwolle. Mit einer solchen Abtretung, ohne die Bevölkerung zu befragen, wird nichts gut gemacht und der Verständigung nicht gedient. An Stelle der Deutschen wären plötzlich die Wallonen Minderheit geworden, und das Problem hätte nur die Farbe gewechselt. Die Not der Minoritäten ist international und heischt zentrale Lösung. Die Willkür eines Tauschgeschäftes könnte generelle Regelung in absehbarer Zeit nur erschweren.
Eines ist jedoch bemerkenswert an dieser belgisch-deutschen Episode: hier wird deutlich aufgezeigt, wie Deutschland jetzt im Spiel der Mächte dem beherrschenden Mittelpunkt näher rückt. Hier zu Lande stöhnt man noch immer über den Schmachfrieden und daß man vor lauter Ketten gar nicht laufen könne. So wie ein alter Drehorgelmann, der ein Vermögen geerbt hat, aus verwurzelter Gewohnheit noch immer tagtäglich am Wege seine Bänkelmelodie dudelt, den schäbigen Filz zwischen den Knien. Denn trotz Hungerfrieden und Dawes-Versklavung: die deutsche Wirtschaftsmacht arbeitet so intakt wie je und lädiert ist nur Väterchen Staat. Zwar sinkt die Lebenshaltung der Lohnempfänger tiefer und tiefer. Zwar ist das früher so wohlhäbige Bürgertum aus Kriegsfuror und Revolutionsangst expropriiert erwacht (es waren nicht die Roten, die geplündert haben!), aber die Kapitalsmacht steht fester als je zuvor. Aus der Niederlage des Kaiserreichs ist der unerhörte Triumph der deutschen Schwerindustrie gewachsen; und wenn in Frankreich, in Polen, in Italien noch immer von einer deutschen Gefahr gesprochen und die Möglichkeit deutscher Geheimrüstungen in dunkelsten Farben ausgemalt wird, so geschieht das nicht aus einem schon sagenhaft gewordenen Deutschenhaß, sondern aus Furcht, daß über kurz oder lang die neue Tatsache ihren politischen Ausdruck finden muß.
Besiegtes Land? Rundum kranke Wirtschaften, bresthafte Valuten. In Deutschland überall Konzentration. Belgien, ein Siegerstaat, bietet Land für Geld. Das alles sieht man draußen schärfer als bei uns, wo man noch die Ohren voll hat von den Klängen hochoffizieller Jammerarien. Die Ketten von Versailles liegen nur noch zum Hausgebrauch da, und man jongliert damit so gelenkig wie Rastelli mit seinen Bällen.
Erhöhte Konfusion um Genf. Alarmruf aus Paris: »Der Völkerbund in Gefahr!« Antwort aus Berlin: »Deutschlands Haltung zu den bevorstehenden Ereignissen bleibt kühl und sachlich. Wir werden erst kommen, wenn die Andern einig sind. Wenn nicht, dann bleiben wir eben draußen. Deutschland braucht nicht den Völkerbund, sondern umgekehrt.« Stolze Spanier, stolzer als die im Escorial, die noch schnell das Tanger-Geschäft fingern möchten. Ob aber Deutschland seinen Ratssitz erhält oder nicht, – der Völkerbund hat einen ernsthaften Echec erlitten. Auch durch Erfüllung des deutschen Anspruchs ist der Schaden nicht repariert.
Es wird bei uns übersehen, daß Deutschland, indem es seinen Beitritt an Bedingungen knüpfte, sehr viel zur gefährlichen Komplizierung der Situation beigetragen hat. Das war das Signal für die meisten Regierungskanzleien, die Pandorabüchse des sacro egoismo zu öffnen und Kompensations-Forderungen anzumelden. Der Saal der Reformation wurde zur Schacherbude. Der Geist des Wiener Kongresses stand wieder auf.
Ist der Fall Völkerbund überhaupt noch kurierbar? Selbst 1924 wäre der Eintritt Deutschlands noch ein großes moralisches Ereignis gewesen. Denn damals bestanden noch Möglichkeiten, den Völkerbund wirksam zu machen. Da zerschnitt Stresemann den Faden. Denn was unsre Außenpolitik an überstaatlicher Organisation goutieren kann, das ist nicht der Friedensbund demokratischer Nationen mit fester Bindung der Mitglieder, sondern ein zu nichts verpflichtender Honoratiorenkonvent, wo man sich auf der Bank der Großmächte dicke tut.
Die Tragödie des Völkerbundes: der Krieg hat seinen eignen gut geschmierten Mechanismus, der selbsttätig läuft; der Frieden aber hängt noch immer von dem guten Willen der Menschen ab. Und diese Menschen sind nicht in der Überzahl, nirgends an der Macht. Mit Herriot und MacDonald sind die einstweilen letzten Chancen der Völkerbundsidee entschwunden. England wird heute vertreten durch Austen Chamberlain, in dem Albions pedantischer Weltbeherrschungsdünkel seine trostloseste Knochenwerdung gefunden hat. Für Frankreich steht Briand da, ein zeitweilig erleuchteter Occasionist, gleich brauchbar für Frieden wie Krieg. Wo ist der europäische Staatsmann, dem der Völkerbund die große, die erobernde Zukunftsidee ist und nicht eine hübsche rhetorische Floskel? Alle Außenpolitiker vertreten nur nationale Interessen, suchen nur diplomatische Erfolge. Deshalb gehen sie nach Genf, um für ihre Kabinettspolitik zu werben, zu streiten, zu mogeln. Der Völkerbund ist völlig zum Instrument der verschiedenen Imperialismen geworden. Das ist schlimm. Schlimmer, daß der Glaube an seine Möglichkeiten, an seine Zukunft immer mehr schwindet. Die Fragwürdigkeit der Form erschüttert die Idee.
In der Welt geht ein unerhörter Umformungsprozeß vor sich: unterdrückte Völker erwachen, ausgebeutete Rassen stehen plötzlich in einem mit modernen Mitteln geführten Emanzipationskampfe. Was hört der Völkerbund vom Brüllen Chinas, was von Afrikas dumpfem Grollen? Die Genfer Exzellenzherren wagen nicht einmal von den Bestialitäten in Marokko und Syrien zu sprechen. Aufgabe des Völkerbundes in einer Zeit, wo es überall revolutionär rumort, kann aber nur sein, nicht konservierend, sondern weiterführend zu wirken. Nicht Einbalsamierung modernder Präponderanzen, sondern Schutz des Werdenden, Versuche, unvermeidliche Entwicklungen möglichst zu entbarbarisieren, das müßte sein Programm sein.
Vielleicht würde ein Deutschland, das sich von vornherein um seine Aufnahme bekümmert hätte, manches Gute bewirkt haben. Das Deutschland Herrn Stresemanns steht heute, nach offizieller Lesart, »kühl und sachlich« vor der Tür. Wartet kühl und sachlich auf den Ausgang der vor ihm angerichteten Verwirrung. Was für eine Veranlassung bestand zum Beispiel, gegen Spaniens Ratssitz zu protestieren? Die Antwort ist so einfach: die Herren wollen im Triumph in den Völkerbund. Es muß etwas Prestige dabei sein, jemand muß sich darüber giften, sonst macht der ganze Pazifismus keinen Spaß.
Dieser Art von Außenpolitik kommt es nur immer darauf an, sich so weit zu decken, daß niemand ihre Korrektheit bezweifeln kann. Diese Korrektheit braucht nicht das Gleiche zu sein wie Ehrlichkeit: es kann sehr viel pfiffige Kalkulation dahinter lauern, sehr viel durch die glatte Maske schimmernder Affekt. Aber entspräche die zur Schau getragene Gleichgültigkeit auch Wunsch und Gesinnung, so bleibt doch die Frage, ob das heute noch genügt. Grade von Deutschland, dessen Haltung so viele böse Geister in Bewegung gesetzt hat, müßte jetzt ein warmes, ein entwaffnendes Wort kommen.
Wir haben bisher von keinem deutschen Außenminister ein helles Bekenntnis zur Völkerbundsidee gehört. Was wir vernommen haben, war immer nur: »Wir müssen hinein, weil es unsre Interessen gebieten. Wir müssen hinein, um unser Recht dort zu vertreten. Wir müssen hinein, als Patron unterdrückter Minoritäten. Wir müssen hinein, um unsre Kolonien und das Recht auf Aufrüstung wieder zu erlangen. Wir müssen hinein, trotzdem der Völkerbund die Gründung des Mannes mit den vierzehn Punkten ist.«
So hat zuerst die Erfüllungspolitik der Ära Rathenau-Wirth, dann die nationale Realpolitik Luthers und Stresemanns gesprochen. Das ist trotz alledem recht vernünftig, gewiß, und wahrscheinlich sehr viel für Politiker, die von Rechts kommen, wo man immer noch glaubt, ein besonderes götzisches Verhalten sei den deutschen Interessen am dienlichsten. Aber, daß mit dem Völkerbund ein übernationaler Gedanke verknüpft ist, das hat Keiner der Regierer seit 1918 bisher zum Ausdruck gebracht. Der Weg nach Genf wurde immer nur auf seine geschäftlichen Möglichkeiten hin beleuchtet. Das aber hat zu einer gefährlichen innenpolitischen Festlegung geführt. Man muß entweder mit Glanz und Glorie einziehen oder draußen bleiben. Man muß entweder einen Privilegiertensitz erzwingen oder schallend absagen. Nicht Mitarbeit im Verein aller Nationen, sondern Mitbestimmung im Rat der Großen, das ist die deutsche Völkerbundsparole. Was ein Friedensfest sein könnte, wird zur Machtprobe mit Paukenschlag und Trompetengeschmetter.
Es sieht im Augenblick trotz alledem nicht so aus, als ob sich in Genf für die deutsche Politik große Ovationen vorbereiten. Erst in den letzten Tagen bequemt sich die gouvernementale Presse zuzugestehen, daß die Schwierigkeiten, die der Märztagung ein tragikomisches Ende bereitet haben, noch keineswegs beseitigt sind, daß, im Gegenteil, jeden Augenblick neue Widerstände auftauchen können.
So steht man denn in kühler, sachlicher Erwartung. So hat man seit dreißig Jahren immer an den großen Entscheidungen vorbeigewartet. Einstweilen ist die Stimmung der diplomatischen Truppen noch vorzüglich. Noch immer diese Miene knorriger Verschlagenheit, so charakteristisch für den Kurs Stresemann. Noch immer diese Zwiespältigkeit der Attitüde: europäisches Tremolo für Außen, nationaler Dröhnbaß für Innen. Halb Händler, halb Held, halb Cherusker, halb Schadchen, feste Contenance und innerlich etwas bibbernd, so wartet man.
Traurig, wenn durch irgend einen querköpfigen Mello Franco im letzten Augenblick wieder Alles zu Wasser würde.
Denn dieser Völkerbund scheint uns für Deutschlands Mitwirkung völlig reif zu sein.
Die Weltbühne, 31. August 1926