Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

97.

Marwitz an Rahel.

Reichenbach (in Schlesien bei Schweidnitz) d. 12t. Aug. [1813].

Müde, wie ein Hund, will ich Ihnen, liebste Rahel, doch ein paar Zeilen Antwort schreiben auf Ihren kleinen Brief vom 20. v. M., den ich auf der Herreise vorgestern durch einen mir begegnenden russischen Kurier zufällig erhalten habe. Es machte mir sehr viel Freude. Wie oft ich in dieser Zeit an Sie gedacht habe, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, es ist ausgemacht, daß wir die intimsten Freunde sind; daß ich Ihnen nicht viel öfter geschrieben habe, geschah teils, weil ich Ihren Aufenthalt nicht wußte, teils weil [ich] an Hen[riette Schleiermacher] schrieb, und zwei sehr ins einzelne gehende Korrespondenzen zu führen ist schwer. Ich bin gestern von Strelitz als Kurier hierher gekommen, eine infame Partie, von der ich aber jetzt erst (es ist neun Uhr Abends) ganz entsetzlich müde bin. Sie wissen wohl, daß ich Dörnberg verlassen und zu Czernichef gegangen bin, mit dem ich in den Affären von Halberstadt und Leipzig gewesen bin. Nicht grade vom Regen in die Traufe, aber golden ist es auch nicht. Er ist ein zu vollendeter Franzose der neusten Zeit, rastlos, gewandt, sehr beredt, spricht einzig gut Französisch, dabei ist er gutmütig und bösartig zugleich, voll Absicht und immenser Eitelkeit und doch wieder naiv, das Gesicht ist interessant und kann einen sehr verschiedenen Ausdruck haben, die Augen sind schön; Gründlichkeit fehlt ihm ganz und gar. Seine Umgebungen sind teils unangenehm, teils ganz nichtig. Daß ich dabei nicht prosperiere, können Sie denken; meine besten Kräfte schlummern. Die Landsleute haben mir wieder hübsche Streiche gespielt; man stellt mich erstlich in einem antedatierten Brief bei einem Reservebataillon an, wo ich während des gewesenen Feldzugs die Rekruten eines Zuges in irgend einer Festung hätte exerzieren müssen. Den Brief erhalte ich vor dem Waffenstillstand, protestiere dagegen, entschuldige mich meiner Gesundheit halber, bitte bei Czernichef bleiben zu dürfen und lieber in der Kavallerie angestellt zu werden; dem allen lege ich einen Brief von Czernichef bei, worin er mich gewaltig lobt. Gestern erhalte ich die Antwort. Da der General Czernichef erklärt hätte, besonders mit mir zufrieden zu sein, so wolle man mir aus dieser Rücksicht erlauben bei ihm zu bleiben, man entbände mich auch meiner Pflichten gegen das Bataillon und mache mich zum Offizier in der Armee, doch verstände es sich, daß ich kein Gehalt erhalten würde. Wie gleichgültig mir das Letzte ist, können Sie denken, aber die Gesinnung gegen mich leuchtet daraus und überhaupt aus der ganzen Form des Briefs hervor. Adieu. Il vais me coucher.

D. 13t. halb acht Uhr Morgens.

Noch ein paar Zeilen, ehe ich abreise, liebste Freundin. Während des Waffenstillstandes war ich erst drei Wochen in Berlin. Dort: Studien (über Fortifikation p. p.); der kleine Gerlach, Schleiermachers, etwas Harscher, der einen Tag beim Lützowschen Korps gewesen ist, dann eingesehen hat, daß seine Gesundheit es nicht ertrüge, zurückgekehrt ist und seitdem einen ungeheuren Bart und eine militärische Mütze trägt, beides aus Eitelkeit, welches ich ihm sagte. Nach einem dreiwöchentlichen Aufenthalt ging ich nach Giewitz, wo Voß, seine Frau, Frau von Berg, meine Schwester und ab und zu noch andre Leute waren. Es war recht gut; ich las sehr viel (Heinse, Leibniz, Malebranche, Brinckmannsche Briefe an die Gräfin Voß p. p.) und sahe ein, daß vieles Lesen das Ungesundeste auf der Welt ist. Ich war während des ganzen Feldzugs sehr gesund gewesen, alle Leute wunderten sich über meine frischen Farben, und kaum hatte ich mich ein paar Wochen in Giewitz aufgehalten, so traten die Zufälle von vor zwei Jahren wieder ein, nur schwächer und so, daß mich ein einziger Tag, in freier Luft zugebracht, wieder herstellte. Von Giwitz ging ich nach Strelitz zu Czernichef, von dort als Kurier hierher. Wie ich über die jetzige Lage denke, brauche ich Ihnen kaum zu sagen. Napoleon ist auch als Feldherr gar nicht geistvoll, nicht erfinderisch, vielmehr bis zum Gemeinen einförmig, dabei ist er tollkühn, fixiert, wenn er angefangen hat, zu sehr den einmal ergriffenen Gegenstand und verbeißt sich drin, ohne die notwendigen Nebenrücksichten zu beachten; aber er weiß doch genau in jedem Moment, was er will (wenn auch nicht, was er als Feldherr soll), handelt entschieden, und alles gehorcht ihm; das ist ungeheuer viel und macht gräßliche Fehler wieder gut. Wir dagegen – ich erspare mir die Charakteristik; Sie werden in Prag mit eignen Augen gesehn haben. Von der andern Seite haben wir die physische und moralische Überlegenheit der Armee für uns und können deshalb auf glückliche Schlachten rechnen. Was ich vom Kronprinzen von Schweden gesehn, hat mir sehr gefallen, nach allem, was ich von ihm aus guten Quellen gehört, scheint mir außerordentlich. Edel ist er gewiß, seine Manieren sind vornehm und nobel, ohne Affektation; sein Gesicht ist ausgezeichnet. Adieu, liebste Rahel, es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche, um wieder als Kurier nach Berlin zu gehen. Wenn die Franzosen Schlesien verlassen oder nicht auf das rechte Oderufer vordringen sollten (welches gar nicht wahrscheinlich), so ist der Postenkurs frei. Schreiben Sie mir alsdann: über Berlin, im Hauptquartier des Generals von Czernischef. Schreiben Sie mir genau über Henr[iette Schleiermacher], die Geschichte ihrer ersten Entrevue. Grüßen Sie sie dabei auf eine hübsche Weise, aus einem würdevollen, durchscheinenden Gefühl seiner früheren Lage, bescheiden. Grüßen Sie Gentz, Tieck, meine Verwandten, wenn Sie Gelegenheit haben.

Marwitz war von Dörnberg zu dem russischen Freischarenführer Fürst Alex. Tschernischew übergegangen, der einen kühnen Zug zum Entsatz von Berlin plante. – In Giewitz in Mecklenburg wohnte Gräfin Luise Voß. – Während des Waffenstillstandes beschäftigt sich Marwitz mit dem Lesen von Johann J. W. Heinses Roman Ardinghello, ferner mit Gottfried Wilhelm Leibniz philosophischen Schriften und mit Nicolas Malebranche, des französischen Philosophen und Metaphysiker, Oeuvres 1712.

A. M.


 << zurück weiter >>