Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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78.

Rahel an Marwitz.

Berlin, d. 29t. Juni 1812. Montag Abend um sieben Uhr.

Um fünf Uhr, lieber Freund, erhielt ich Ihren Brief von Sonnabend. Könnt' ich Ihnen die Unruhe deshalb benehmen! Sonntag geht keine Journalière, Sonnabend gaben Sie ihn, heute Mittag kam er an, Nachmittag brachte man ihn mir. Ich zog mich grade an, lief gleich nach der Stadt – wo ich bis jetzt bleiben mußte –, übermorgen soll ich Bescheid erhalten, da nichts gleich geht und immer einige Bedingungen obwalten, als z. B. Beschäftigung für die Person. Ich schaffe in jedem Fall einen Ort, also seien Sie ruhig. Liegt viel daran, daß die Person zum Ersten gehe, so kann sie gradezu zu mir kommen und bei mir indes wohnen; ich will schon die Acht auf sie haben, die nötig ist, meine plus ample connaissance wird sie ja doch nicht missen. Mein Haus ist das stillste und diskreteste der Welt. Sie wissen, daß Dorens Anverwandte da unbefragt und unbewußt von meiner famille und allen Menschen herbergen, und daß niemand mich über nichts questioniert und questionieren darf. Sobald ich ein näheres Wort weiß, so schreibe ich es Ihnen. Dieser Brief geht morgen Mittag, zu morgen um sieben bekomme ich ihn nicht mehr auf die Post, weil heute schon sieben vorbei ist. Danken Sie mir nicht, mein teurer Freund, sondern freuen Sie sich, daß das Glück dem K[inde] eine edle Mutter auf der Erde angewiesen hat, die wahrscheinlich noch lange genug zu leben hat, um ihm aus der ersten Jugend zu helfen, um ihm für ewig Sitte einzuflößen, und die einen Schatz, ein ganzes Herz voll Zärtlichkeit für ihn in Bereitschaft hat. Freuen Sie sich mit mir, wie ich, meine ich. Gott, was habe ich heute schon für Menschen gesprochen, für Verhältnisse berührt, für drückendes, klemmendes, darbendes Unglück nahe gesehn! Was erspähe, was erfrage ich auch alles, wie ist die Welt! Welche Schicksale, welche stille, ungerühmte Größe, Religion im höchsten Sinn, lebt in Weibern, die ich in grasbewachsenen, vergessenen Höfen fand. Wie ist alles anders, als es von den berühmtest Klügsten ausgeschrieen, gedruckt, gelesen und geglaubt wird! Gott weiß nur die Bewandtnisse, die inneren Herzensbeweggründe und manche von ihm herabgelassene, wahrhafte, unbetrügliche, einfache gute Menschen. Mich hat er auch dazu erwählt. Der furchtbringendste Frevel wär' es, wenn es nicht wahr wäre und ich es sagte. Aber alle Tage werde ich frommer und innerlicher und reinige mich mehr. Und was sah ich für Wolkenspiele! Wie find' ich durch ein Wunder Gottes einen neuen Sinn, neue Sinne möchte ich sagen, das Feld in der leibhaftigen Stadt! Wie sah ich jetzt eben erst aus! Ich komme von der Spandauerstraße über die lange Brücke durch das Schloß über den Opernplatz. – So klingt's nach nichts. Wie war's aber, wie sah's aus, wie war ich, was hatte ich besorgt, welches Kind gesehen? Auch solches, von dem der Vater nicht weiß, daß – es existiert, die Mutter mir es leugnet, und ich es doch weiß. Also hat es meine ganze Zärtlichkeit und alle Wehmut und mehr Verehrung, als wäre es meines. In welchen Stimmungen – nicht allein der Kinder wegen – bin ich mitten in Berlin, in der Stadt, in der gleichgültigen Frevelstadt, wie jede ist. Wie dankbar, wie hoffnungsreich für's innere Leben, und alle Existenz dadurch? Dabei las ich Athalie und EstherRacines Tragödie »Esther« war 1689, »Athalie« 1691 erschienen. von Racine, mit ganz anderem Sinn, mit der größten Erhebung. O, könnte man seine Seele seinen Freunden zum Genuß und Gebrauch schicken! Könnt' ich Sie froh machen! Manche ungewohnte Angst und Sorge, ich weiß es, schleicht um Ihr Herz. Ach, daß ein jeder seines leiden muß, und Liebe, die so viel ist und hilft, so wenig helfen kann! Adieu! Donnerstag reist Minna; welch Schicksal hat die! Ich erwarte sie, sie will sich bei mir ausruhen und etwas essen. Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes Unglück kommt. – Meyer hat mir einen sehr guten Brief geschrieben. Adieu.

R.R.


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