Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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37.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam] Donnerstag Nachmittag drei Uhr, d. 24t. Oktbr. 1811.

Was ist das, liebe Rahel? Mißverstehe ich? Warum schreiben Sie mir so? Der äußern Veranlassung wegen hätte ich Ihnen geschrieben? Zwingen Sie sich nun nicht mehr, mir zu schreiben, sagen Sie mir darauf. Ich kann mich darüber gar nicht erklären, weil ich es wahrlich nicht verstehe. Haben Sie meinen Brief denn erst am Mittwoch erhalten? Er war am Sonntag geschrieben, wie wahrscheinlich auch darin steht. Mittwoch war ich angekommen; große Schläfrigkeit am Abend. Donnerstag, Freitag stetes Herumlaufen wegen der Anstellung und des Quartiers, zerstreuendes Leben im Wirtshause, dann am Sonnabend fand ich eins, zog ein, packte den ganzen Tag, am Sonntag war ich gesammelt und schrieb Ihnen. Liebe Rahel, quälen Sie mich nicht, sehen Sie mich an bei diesen Worten; ich sage Ihnen dies mit lächelnder Miene, ganz an Sie, an Ihr Wesen denkend, erfüllt, getröstet, angeregt in meiner Einsamkeit durch Ihren Brief, und mit meiner Seele schon weit hinaus über die kleine Disharmonie, die jene ungerechten Worte in mir hervorriefen. Liebe Seele, was schwankst Du mir so! Ich freue mich, daß Sie Wolf so, daß Sie Harscher so gesehen haben. Sie müssen beide viel sehen, Wolf paßt ungemein für Sie; sein versatiler Geist, seine angenehme, gesprächige, feininnige, zuweilen mit allen möglichen Grazien geschmückte Geselligkeit, die große Haltung, die ihm seine tiefe Kenntnis des Altertums giebt, der Blick auf alle Gebiete des Lebens. Auch hat er durch das Altertum, welches alle Richtungen der Menschheit in großartigen Massen erscheinen läßt, nichts Zersplitterndes, nichts Abgefallenes von dem großen Grundgedanken des Seins, nichts in ein kleinliches, beziehungsloses Treiben Verlorenes darstellt. Es ist ein immenser Vorteil der wahren Philologie, daß sie ein ganzes, nach allen Richtungen hin vollständig gebildetes Leben zu ihren Füßen hat. Varnhagens Brief hat mir nicht gefallen, was darin nicht, kann ich nicht sagen, und doch: es ist das Beziehungslose, Wüste, durch welches bald Eitelkeit hindurch bricht (wie in der Geschichte von Nostitz. Warum in aller Welt erzählt er die? Dergleichen erzählt man richtiger Weise nur dann, wenn man alles erzählt und das tut er nicht), bald Unverständnis (wie über den Staatswirt Kraus, der den Ad[am] Smith auf die geistloseste und impertinenteste Weise abschreibt, so gemein, daß er zwar dieselben Beispiele gebraucht, aber wo A. Smith etwa einen Tuchmacher nennt, setzt er an dessen Stelle einen Leineweber. Wo Ad. Smith sagt: Calecut und London, er Trankebar und Kopenhagen. Beides wörtlich wahr. Das weiß V[arnhagen] zwar nicht, weil er Ad. Smith nicht kennt, aber doch sollte ihn der dürftige Gesell anekeln. Das über sein Verhältnis zu mir ist ein wenig unsinnig, besonders die Erwähnung eines möglichen Duells. Auch gut, liebe Rahel, daß Sie nicht nach Schlesien gehn; ich werde Sie nun den Winter oft sehn. Wann gehn Sie nach Polen? Wenn Sie Sonnabend über acht Tage noch da sind, so komme ich, trete aber nicht bei Ihnen ab, so lange Meier da ist; es würde ihn genieren und mich auch ein wenig; später immer; sagen Sie das mit den 50 Rtl. ihren Brüdern, wenn es noch paßt. – Roberts Betragen ist einzig, ganz erklärlich im übrigen, nur der Unsinn mit Goethe und ihm in Töplitz ist zu groß. Ich irre mich hierin, auch das ist aus einem Stück mit allem andern. Leute ohne richtigen Sinn für menschliche Verhältnisse und ohne Liebe sind auch vergeßlich.

Abend sieben Uhr. Liebe Rahel, sind Sie böse? Aber Sie sind ungerecht. Daß ich Ihnen vor dem vierten Tag schreiben mußte (ich sehe das mußte an. Verstehen Sie mich? ich meine, daß es Ihr Bedürfnis und also meine Pflicht war), das wußte ich nicht. Daß Sie sich bei dem Gelde des Briefes wegen bedanken, hinzusetzend: »Sie hätten mir wohl nie geschrieben« (und das nur halb spaßhaft)ist zu arg. – Nach Geschäftsgängen bei Ad. Smith sitzend mußte ich Ihnen dies sagen. Wie konnte es Sie verwundern, daß ich Ihnen das Geld mit der Post schickte? Ich schickte es Ihnen, wie ich es in Berlin würde gebracht haben auf die unbefangendste Weise, weil ich glaubte. Sie möchten es vielleicht brauchen. Sie Häßliche, »senden Sie mir auch ohne ein schriftlich Wort die beiden Briefe zurück«. O Hamlet, welch ein Abfall! Ich bin wirklich böse.

Abends acht Uhr. Was soll ich Ihnen von mir sagen, liebe Rahel? Die Tage vergehn mir ungeheuer schnell, weil ich einförmig und beschäftigt lebe, viel in Studien, in praktischen Geschäften noch fast gar nicht, doch wird es nun angehn. Ich habe gelesen 1. Montecuculis Kriegskunst in den Tagen aus. Über den Mann habe ich Ihnen gesprochen. 2. Ciceros Brutus, ein Gespräch über die berühmten Römischen Redner, kundig, treffend und sinnvoll über das Individuelle der Römer und ihrer Kunst, mit größter Gewalt über die Sprache und mit einer Anschauung der Sache, wie sie nur aus vieler Übung und langen Studien hervorgeht. 3. viele neue Gesetze. Alle ihre Weisheit haben sie aus Ad. Smith, einem bornierten, aber in der beschränkten Sphäre scharfsinnigen Mann, dessen Grundsätze sie bei jeder Gelegenheit mit langweiliger Breite und schülerhaft nachbetend proklamieren. Seine Weisheit ist sehr bequem, denn er konstruiert, unabhängig von allen Ideen, losgerissen von allen Richtungen des menschlichen Daseins, einen allgemeinen, für alle Nationen und alle Verhältnisse gleich passenden Handelsstaat, dessen ganze Kunst darin besteht, die Leute machen zu lassen, wie sie wollen. Sein Gesichtspunkt ist der des Privatinteresses; daß es einen höhern für den Staat geben müsse, daß er kraft dieses höhern, auch dem sinnlichen Erwerb eine ganz andere Richtung geben soll, als derjenige wünscht, der nur gemein genießen will, das ahndet er nicht. Wie sehr muß eine solche Weisheit, mit einem Scharfsinn, den nur der Tiefsinn vernichten kann, mit Kenntnis, ja mit Gelehrsamkeit durchgeführt dem Jahrhunderte einleuchten, welches ganz von dem nämlichen Standpunkte ausgeht. Ich lese und kritisiere ihn. Er liest sich langsam, denn er führt durch ein Labyrinth wüster Abstraktionen, künstlicher Verschlingungen der sinnlich produzierenden Kräfte, wo es nicht sowohl schwer als ermüdend ist ihm nachzugehen. Ich möchte gern Kourier durch ihn hindurchreiten und lese daher sehr emsig, lege aber des Tags doch nie mehr zurück als etwa hundert Seiten. Vierzehn Tage lang habe ich gewiß noch zu lesen. Ich werde zusehn, daß ich einmal ausführlich über ihn schreibe; es ist der Mühe wert, denn neben Napoleon ist er jetzt der mächtigste Monarch in Europa (wörtlich wahr). 4. Friedrich Schlegels Aufsatz über Georg Forster (gestern Abend). Großartig geistreich, bei der Wurzel fassend, ohne auf Schulbegriffe zu beziehen, im Gegenteil lebendig gewandt, reich an großem Witz, einiges Willkürliche dazwischen und Spuren eines losen Wesens. Lesen Sie den Aufsatz. Er steht in dem ersten Teil der Charakteristiken.

Des Morgens lese ich Szenen aus dem Homer. Schaffen Sie ihn sich an. Ich will Ihnen dann immer schreiben, was ich gelesen habe. Lesen Sie dann gleich Ilias B. 21 v. 34 bis 135. Göttlich naiv.

Was soll ich Ihnen von dem teuern Sanssouci sagen. O könnten Sie nur an einem der hellen, sonnigen Mittage hier sein, wo der Naturgeist, ja ich darf sagen Gottes Geist, dort oben sichtbar waltet und still segnend hinabschwebt von dem blauen Himmel auf die bewegte bunte Erde und wieder hinauf. Ich habe mir dort oben zuweilen Worte gesucht, um es Ihnen zu beschreiben, aber sie waren ungenügend und sind vergessen. Ich wandle dort auf der Terrasse hin und her, sehe mir die Landschaft aus allen Richtungen an, sehe mich wohl auf die Quadern vor dem Haus und sonne mich oder lege mich auf eine steinerne Bank und lese die griechischen Gnomiker (größtenteils Elegien, die aber die höchsten Dinge berühren, kolossal einfach). Das von zwölf bis um zwei Uhr. Da las ich neulich eine herrliche Elegie von Solon, worin er das Walten der Götter in der Geschichte beschreibt. Am Abend übersetzte ich folgendes Fragment daraus, welches ich Ihnen herschreibe, teils weil es Ihnen gefallen wird, teils weil es grade an dem Tage bei Sanssouci so war, wie die Verse es beschreiben, die ich unterstreichen werde.

Doch Zeus schauet das Ende der Ding'. Urplötzlich wie oftmals
Sausender Wind im Lenz Wolken vom Himmel verscheucht,
Schnell, der, wenn er des Meeres, des tiefaufwogenden, wüsten
Grund erregt und auf fruchtentsprossender Erde zerstört
Treffliche Werke, sodann der Götter Wohnung den hohen
Himmel erreicht und von neuem heitre gewähret zu schaun.
Wieder nun scheinet der Sonne Gewalt auf die endlose Erd' hin
Strahlend, doch vom Gewölk, siehe, ist nichts mehr zu schaun.

Also auch ist die Rache von Zeus; nicht jeglichem zeigt er
Sich jähzornigen Muts, so wie ein sterblicher Mann,
Aber auch immer vergisset er ganz des, welcher im Busen
Freveln Tücke bewahrt: sondern am Ende erscheint's.
Dieser nun büßte sogleich, ein anderer spät, und wenn selbst sie
Auch entfliehn, und sie nicht packet der Götter Gericht,
Dennoch trifft's: unschuldig sodann abbüßet die Werke
Oder von jenen das Kind oder ein später Geschlecht.

Können Sie nicht einmal herkommen, Liebe? Aber schreiben Sie mir den Tag vorher.

Ihren Spaziergang unter den Linden fühle ich. Groß, gräßlich, wahr. Muß ich Sie nun an die edlen, rührenden Worte erinnern, die Sie mir zur Zeit meines großen Elends über die Hülflosigkeit jeder bangen Seele schrieben? O es ist entsetzlich wahr. Wie vieles halb Tröstliche und darum ganz Nichtige konnte ich Ihnen sagen von der Erhabenheit Ihres Geistes, der Tiefe Ihres Gefühls, kraft deren Sie die ganze wesenlose Umgebung vernichten, sobald Sie wollen, und hineintreten können in die Herrlichkeit des wahren Lebens. Das ist nichts. Der Gott in Ihnen richte Sie auf! Adieu, Liebe. Gleich Antwort. Ihre Briefe sind mir unentbehrlich.

A. M.

Ich bin gesund. Alle meine Schwächen sind wie weggeblasen. Nur mein Herz leidet noch und macht mir sehr trübe Stunden. Kaufen und schicken Sie mir doch sogleich das Landrecht. Heute traf ich in Sanssouci einen Sächsischen Handwerksburschen. Er fragte mich, ob dies schon Sanssouci sei. Ich sagte ihm, es wäre das ganze Sanssouci. »So«, ganz verwundert. Später, »er hätte es sich ganz anders vorgestellt.« Wie denn? »Wie ein Lager.« Schreiben Sie mir doch, wenn es in Ihre Stimmung paßt, was Wolf von seinen Arbeiten hält. Haben Sie an Gentz geschrieben. »Zu Ihrem Ruhme.« Schicken Sie mir doch auch, wenn es geht, Fr. Schl[egels] Vorlesungen über Geschichte.

August Ludwig Ferdinand von Nostitz, seit 1802 Leutnant, 1810 verabschiedet und auf Reisen, später Adjutant Blüchers. – Christian Jakob Kraus, Professor in Königsberg: sein Werk »Staatswirtschaft« erschien nach seinem Tode 1808–11 in fünf Bänden. – Graf Raimund von Montecuccoli, bedeutender österreichischer Feldherr, dessen Memorie della guerra ed istruzione d'un generale, 1703 erschienen, später auch in deutscher Übersetzung, damals grundlegend für die Kriegswissenschaft war. – Friedrich Schlegels Aufsatz »Fragment einer Charakteristik der Teutschen Klassiker« in Reichardts Lyceum der schönen Künste. Berlin 1797. I. 1. 32–78; dann in W. und F. Schlegels Charakteristiken I. 88–131, handelt über Georg Forsters Schriften. – In Homers Ilias, Buch 22, wird der Kampf Achills mit Lykaon, der jenen vergebens um Gnade bittet, geschildert. – Die Gnomiker, Spruchdichter. Die Ausgabe der Opera Gnomicorum 1776 enthält im 2. Bande die Fragmente des Solon, die Fortlage herausgegeben hat. – Der Gesetzgeber von Athen, Solon, ebenso als Dichter bekannt.


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