Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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92.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam, Dezember 1812.]

Vorgestern, Sonntag, erhielt ich inliegenden himmlischen und schrecklichen Brief von Scheibler. Ob er mich umgeworfen hat, mögen Sie ermessen. Ich antwortete ihm den ganzen Sonntag und gestern früh, und habe überhaupt seit dem Empfang seines Briefs das Labyrinth der ewigen Gedanken an diese Verhältnisse nicht verlassen können. Heute morgen wachte ich seit sechs Uhr im Bett und schrieb fünfzig Briefe in meinem Innern an Sie und die S[chleiermacher], gegen welche dieser schon darum ganz schlecht wird, weil er draußen entsteht durch die zu irdischen Werkzeuge. Wäre es möglich? Sollte er über sie Recht haben? Ich kann es nicht glauben, sie war zu gefaßt, zu heiter, wie ich sie das letzte Mal sah; ja sie war froh. Und Sie, Rahel, haben auch Sinne. Aber wie soll ich die am Rande angestrichene Stelle seines Briefs verstehn? Hat sie das wirklich gesagt, oder deutete er nur ihre Blicke und ihr Betragen so? Hat sie es gesagt, unter Fremden, so steht es sehr schlimm, ganz anders, als wir meinen. Mir ist eins heute früh eingefallen, liebe Rahel. Sie schrieben mir, Sie wären durchaus wahr gegen sie gewesen in dem Gespräch, das Sie mit ihr hatten. Haben Sie mich vielleicht kälter und gleichgültiger ihr gegenüber geschildert, als ich bin, und hat sie das sehr betrübt? Ich schließe das daraus, weil sie Ihnen hernach gesagt hat, es täte ihr leid überhaupt gesprochen zu haben. Ich fände das auch sehr natürlich von Ihnen, denn ich bin nie in der Stimmung gewesen, wo ich Ihnen ganz hätte sagen können, wie sehr ich die Frau liebe. Gehn Sie doch hin, prüfen Sie sie und schreiben Sie mir, wie es steht; ich komme Freitag und sehe die S[chleiermacher] Sonnabend früh. An sie mag ich nicht schreiben, um nicht durch Unsicherheit oder Leidenschaftlichkeit von neuem zu verwirren, wenn alles auf dem Weg zur Ruhe ist. Wäre sein Brief nicht gekommen, so hätte ich ihr ausführlich heiter, intim geschrieben über tausend Dinge. Denken Sie mich nicht so, wie dieser Brief mich vielleicht darstellt; sonst irritieren Briefe, dieser hat mich gelassen gemacht, ja verdumpft, weil ich alles, was darin steht, und viel mehr Ihnen schon ausführlich im Innern gesagt hatte, und es mich nun angeekelt und zur Gedankenlosigkeit gebracht hat, es mechanisch langsam niederschreiben zu müssen. Nur in sinnig ruhigen Stimmungen kann ich Briefe schreiben, in bewegten verwünsche ich Feder und Papier, die mich dann allemal durch ihre schneckenartige Langsamkeit veröden. Ich bitte Sie, beste Rahel, mir gleich zu antworten und die reine Wahrheit. Sie sehen, wenn es so ist, wie Sch[eibler] es meint, so kann nichts hergestellt werden, die Tulpe ist vom Stengel abgebrochen, und es ist vergebliche Mühe sie anheilen zu wollen. Im Gegenteil wird seine Gegenwart ihr unerträglich werden, und sie wird sich von ihm trennen. Ich denke, daß ich sie dann heirate. Nehmen Sie es nicht für Gewißheit, liebe Rahel; ich will gewiß mich nicht von einer momentanen Wallung hinreißen lassen und dadurch neues Unglück hervorrufen, sondern besonnen bleiben und prüfen. Aber glauben Sie auch nicht, daß ich mich jetzt etwa steigere. Ich fühle keine leere Stelle im Herzen, die auf ein erzwungenes Streben deutete. Verliebt bin ich nicht in sie, aber ich liebe sie sehr und schätze sie über alles, und ich fühle es, daß bei ihren Gesinnungen gegen mich Innigkeit und Glück mir wachsen würden in einem dauernden Verhältnis. Doch dies sei nichts gesprochen, denn ich glaube, daß Sch[eibler] sich ganz irrt. Adieu, beste Rahel. Ihren Brief durch Gerlach habe ich erhalten. Mein Herz ist gewaltig abgearbeitet und der Körper matt, doch ist kein Keim zu einer Krankheit da.

A. M.

Vergessen Sie nicht die Nachschrift zu Scheiblers Brief zu lesen, auf der ersten Seite. Grausam! Und diese himmlische Gelassenheit und Liebe bei der entsetzlichen Niedergeschlagenheit. – Schicken Sie mir Scheiblers Brief in dem Ihrigen zurück.

Während Schleiermacher in den Briefen an seine Frau die Neigung Marwitzens in der zartesten Weise berührt, erwähnt er den Namen des bereits genannten Scheibler gar nicht, auch in keiner Andeutung. Es scheint sich mehr um eine stürmische Neigung Scheiblers zu handeln. Rahel schneidet in diesen Episoden nicht gut ab, indem sie gradezu als Vermittlerin zwischen Marwitz und Frau Schleiermacher auftritt. Schleiermacher selbst konnte die Rahel nicht gut leiden.


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