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[Friedersdorf, d. 29t. Mai 1811] Mittwoch zwölf Uhr Mittags.
Ihren sanften, reichen, starken, verständigen Brief, liebe Rahel, habe ich in diesem Augenblick erhalten. »Eigentlich«, schreiben Sie, »müssen Ihnen meine Briefe lieb sein.« O über alles Maß sind sie mir das, und meine einzige Furcht ist nur die, daß Ihr lebensreiches, tiefbewegtes Gemüt einmal verschmähen wird sich auszuströmen gegen meine kranke, verwelkende Seele. Jetzt zur Sache. Ich bin bis jetzt hier geblieben und hatte vor, noch einen Monat hier zu bleiben, weil, ungeachtet der Gespenster, die in meinem Innern herumwandeln, doch eigentlich der Körper durch Landluft, besonders durch Bäder gedeiht, und ich jene durch eine muntere Tätigkeit, die dann folgen sollte, bald zu verscheuchen hoffte. Aber ich traue nicht mehr, denn gesunder bin ich zwar, als da ich Berlin verließ, aber nicht weniger reizbar. Ein einziger Moment, das fühle ich, kann mich dahin zurückwerfen, wo ich war, und was am Ende aus dem finstern Brüten werden kann, übersehe ich nicht. Nun sehe ich zwei Auswege. Der erste ist mit Ihnen nach Töplitz zu gehn, unbeschreiblich reizend für den Augenblick, aber bedenken Sie, daß die Schwierigkeit, mir ein Verhältnis zu bilden (das ich haben muß), mit jedem halben Jahr, das ich versäume, unmeßbar steigt. Ich bin bald 24 Jahr alt. In diesem Alter muß man tun und arbeiten, entweder studieren oder ein Amt suchen, wenn sich einem die Aussicht nicht öffnen soll auf eine müßige, verächtliche und verachtete Existenz. »Gut, werden Sie antworten, ich gebe Dir Recht, wie ich Dir Recht gegeben habe. Arbeite, studiere, wie Du kannst, aber Du kannst nicht. Darum gehe dahin, wo Seele und Leib Dir gesunden, wo die Kraft Deines Innern sich wieder aufrichtet. In müßiger Beschaulichkeit geht Dir die immer mehr zu Grunde, und Dein einsames Herz führt Dich nur zu ärgerer Versunkenheit. Fasse Dich, so lange Du kannst, suche mit Deinen letzten Kräften die Gesundheit auf, und hast Du sie gefunden, dann sei tätig.« Ich sehe die Stärke dieser Gründe vollkommen ein, meine liebe Freundin, und frage mich nur, ob es nicht zweckmäßiger ist, den andern Weg einzuschlagen, auf dem ich das Notwendige mit dem Bequemen und Nützlichen verbunden sehe, nämlich auf weite Reisen zu gehn, erstlich nach der InselDie Insel, wohin M. reisen will, ist England: von dort nach Spanien, wo er Kriegsdienste zu nehmen beabsichtigt. hin und von da weiter dorthin, wo ich Dienste nehmen kann. Ich weiß es wohl, es ist eine gewagte Sache, Abschied zu nehmen von seinem Vaterlande, besonders für einen Kranken, denn heilt ihn nicht unmittelbar die frische, rüstige Tätigkeit des Reisens, so muß ihm doppelt weh werden in den fremden Umgebungen. Was meinen Sie, liebe Rahel? Hätte ich die Aussicht, ein Heldentum der Wissenschaft in mir zu gründen, so sollte mich nichts forttreiben aus meinem Winkel hier, aber die ist mir ganz verdunkelt durch meine arge Krankheit. Soll ich mich nun anschließen an die leibliche Seite meines Vaterlandes, die ich erst begeistern, erst einer großen spekulativen Ansicht unterwerfen muß, wenn sie mir nicht ganz gebrechlich und tot erscheinen soll? Also wieder die Wissenschaft wäre da vonnöten, deren ich mich nicht mächtig fühle. Dort aber stammt ein hoher Enthusiasmus, eine große Angelegenheit wird von großen Talenten mächtig vorwärts getrieben, die eigne Tätigkeit kann sich emporrichten und stärken durch die Fremde; auch Freunde habe ich dort. Wäre es so unrecht, die Kraft der südlichen Sonne an mir zu prüfen? Ich muß schließen, liebe Rahel, denn die Post geht durch. Am Sonntag mehr, wo möglich Geordneteres, Besonneneres. Auf keinen Fall bleibe ich länger hier, als bis ich die Kur ausgebraucht habe (das dauert noch drei Wochen). Dann, wenn Ihr nächster Brief es nicht früher herbeiruft, muß das Entscheidende geschehn. Adieu.
A.M.
Meine Niece ist bei der Gräfin Brühl in Berlin, wo sie noch 14 Tage bleibt.