Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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55.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam,] Donnerstag Abend fünf Uhr, d. 19t. Dezember 1811.

Ich komme eben mit ganz verklammten Fingern von einem abendlichen Spaziergang zurück, liebe Rahel, und will nun Ihren Brief beantworten. Aber sehen Sie meine Buchstaben; mit größter Mühe und Not werden sie grade und deutlich. Es ist wie alle diese Tage unangenehmes Wetter draußen; bis gestern Mittag regnete es immerwährend, da brach die Sonne einige Augenblicke durch das Gewölk hindurch, schwere dunkelblaue Wolken zogen in den wunderbarsten Schattierungen darauf am Horizont herum. Das dauerte von zwölf bis zwei Uhr; seitdem ist es wieder grau und trübe. Ich habe wie ein Maulwurf unterdes in meiner Klause gesessen und immerfort gearbeitet; manche Tage habe ich keinen Menschen gesehn, nicht einmal auf die Regierung bin ich gegangen. Ich stand um acht Uhr auf, saß kontinuierlich bis zwei, ja drei Uhr bei meinem Aufsatz, aß dann schnell in der Stube, spazierte bis vier Uhr in meiner großen Vorderstube herum. Dann Licht und Aristoteles Politik bis acht Uhr; darauf Tee, Goethe, Müller und Jean Paul bis halb elf. Glauben Sie nicht, Johannes Müller in dieser Beschreibung zu hören? Der studiert in dieser Art. Nur einmal war ich im Neuen Garten, gestern mit Redtel auf der Glienicker Brücke, Freitag und gestern Abend in Gesellschaft. Mein großer Aufsatz ist fertig; Ihrem Befehle gemäß habe ich die homerische Stelle ausgestrichen; über Adam Smith bin ich auf dem sechsten Bogen und werde wohl morgen fertig werden. Mit dieser Arbeit bin ich zufriedener als mit der andern; die Hauptsachen sind berührt und gründlich heruntergemacht, auch ist einiges gut geschrieben. Ich bringe es Ihnen Dienstag oder Mittwoch mit nach Berlin. Aber wie müde bin ich von all dem Schreiben! Große Bücher zu machen wäre für mich entsetzlich! Je weiter man in den Gegenstand eindringt, desto klarer wird es einem, wie man von Anfang alles hätte besser ordnen, gründlicher, faßlicher und energischer darstellen können, und dann hängt doch wieder alles so genau zusammen, daß man nichts einflicken, nichts herausreißen kann, sondern alles umarbeiten müßte, wozu denn natürlich die Lust fehlt. Wie bewundre ich Goethe. Ich habe viele seiner Aufsätze in den Propyläen zum zweiten Mal gelesen. Es sind die höchsten Muster des Stils; jedes Wort ist bedeutsam, organisch von Geist und Bildung durchdrungen, die dargelegte Ansicht individuell nuancierend. Diese bis ins kleinste hineindrängende Bildung hat in dem Grade keiner von allen großen Schriftstellern, auch von den Griechen keiner, bis auf Thucydides, der sie aber in einem ganz andern Sinne hat. Man muß bei dem auf jedes Wort aufmerken, weil jedes drastisch, energisch und von den furchtbaren Grazien durchdrungen ist, welche ihn beseelen; bei Goethen ist jedes –

Abend neun Uhr.

Bis jetzt war mein Bruder bei mir, der hier durch in Geschäften nach Dessau reist. Ich habe ihn bedauert. Er war verlegen und innerlich sehr gedrückt, ja voll Gram, dabei etwas verstockt. Ich war anfangs kalt und sagte ihm sehr entschieden über unsre Angelegenheiten (den Landankauf p. p.) meine Meinung; nicht ein Wort konnte er erwidern, teils aus Verlegenheit, teils weil ich ihn überzeugte. Ich wurde nun gleich weich, wie Sie denken können, und versprach ihm wegen der schuldigen Zinsen alles Mögliche. Das Gespräch wurde nun allgemeiner, wendete sich auf militärische und politische Angelegenheiten, meine hiesige Lage, die Situation der Regierung; ich las ihm meine Aufsätze vor, war im Ganzen angeregt und sprach gut. Ich war ihm auf eine Weise überlegen, die mich wirklich jammerte, denn er blieb verlegen und unbedeutend; doch war es seine Schuld, denn ich war offen und gut gegen ihn, und er hatte gar keine Ursach zurückzuhalten. Denken Sie sich, wenn einem so etwas mit einem begegnet, den man früher in manchen Beziehungen als Vater betrachtet hat. Wie quälend ist da eine solche Überlegenheit. Und wenn ich nun dabei bedenke, worauf sein ganzes Betragen eigentlich ruht, darauf nämlich, daß er zu Grunde geht unter Sorgen und einseitigen Beschäftigungen und auch durch Unglück, daß alle seine guten und großen Eigenschaften in eine allgemeine Versteinerung übergehn, sein ganzes Dasein immer aussichtsloser wird, so grämt mich das. In alles, was er sagte, legte er dies Gefühl eigner Unbedeutendheit und Nichtigkeit hinein. Schrecklich! Den ganzen Winter will er wieder in seiner Einsamkeit zubringen. Ich kann Ihnen heute nichts mehr schreiben, liebe Rahel. Die Szene mit ihm, an die tausend Erinnerungen sich knüpfen, vibriert zu stark in mir. Er kommt Sonntag aus Dessau zurück, und ich dann mit ihm nach Berlin. Dienstag früh geht er nach Friedersdorf; ich bleibe bis Mittwoch. Morgen vielleicht noch einige Zeilen, Liebe. Ich war im besten Zug, Ihnen über tausend interessante Dinge zu schreiben, da er kam. Ich danke Ihnen für die Szene mit Harscher; ich erkenne ihn ganz darin. Auch für Varnhagens Brief. Wie man bei solcher Herzens- und Geistesbewegung so ausführliche, glatte, mit so vielem überflüssigen beladene Perioden und so bedächtig gekritzelte gradlienige Buchstaben machen kann, begreife ich nicht. Es ist mir wahrhaftig ein Problem, dessen Lösung mit Varnhagens tiefsten Gründen zusammenhängt. Genesen Sie, Liebe, sehen Sie mit munterm Aug' in die Welt hinein; ich schrieb Ihnen einmal vom Berg und vom Tal; es hat Sie sehr bewegt; ich konnte Ihnen damals nicht antworten, aber wie Sie es nahmen, hatte ich es nicht gemeint. Der Berg gehört auch zur Erde; der frische Lebensgenuß ist auch auf ihm vergönnt, nur gedämpfter, milder, weniger persönlich und an die größten geistigen Anschauungen geknüpft. Der soll, der wird Ihnen bleiben, Liebe. Sie schrieben mir früher einmal von dem Glück, das aus der Harmonie des innern Daseins, der vollendeten Klarheit über sich und die Welt hervorgeht, und nannten es das Höchste, das eines beständigen Wachsens auch für Sie Fähige. Wer hat größere Ansprüche darauf als Sie? Ich weiß es wohl. Sie brauchen lebendigen Reiz, persönlichen Umgang, aber jenes andre Glück fassen Sie doch auch. Können Sie es sich nicht näher bringen? Seien Sie nicht so betrübt, Liebe. Ich danke Meyern vielmals für seine Güte. Die Papiere meiner Schwester kann ich leider nicht verkaufen, da ich keine Antwort von ihr habe. Adieu. Sonntag Abend oder Montag früh sehe ich Sie.

A.M.

Johannes von Müller, dessen Werke 1809–19 in 27 Bänden erschienen, war viel gelesen, besonders seine Schweizergeschichte und Über den Untergang der Freiheit der alten Völker. – über die beabsichtigten Landankäufe durch Friedlich von der Marwitz ist nichts Näheres bekannt: vielleicht stehen sie in Verbindung mit den Verkäufen vieler Domänen durch Hardenberg. – Julie von der Marwitz (1789–1872) war mit dem Grafen Gustav Münster-Meinhövel verheiratet.


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