Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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16.

Marwitz an Rahel.

[Friedersdorf d. 19t. Mai 1811.]

Goldne göttliche Worte, liebe Rahel: »leben, lieben, studieren, fleißig sein, heiraten, wenn's so kommt, jede Kleinigkeit recht lebendig machen, dies ist immer gelebt und dies wehrt niemand«. Ja ich weiß das; fernab sind mir längst alle Träume von Heldengröße und äußerer Bedeutsamkeit gezogen; führt mich das Schicksal dahin, wo ich in großen Kreisen zu wirken habe, so will ich auch das können; aber meine Hoffnungen, meine Pläne sind nicht darauf gestellt. Ich will nichts als das Rechte, Gute, Ewige, und das läßt sich in allen Formen darstellen und also auch in der lieben, himmlisch einfachen, die jene Worte aussprechen. Ich klage auch nicht über die Zeit; ganz dumm ist, wer das tut. Wenn das Herrliche im Gemüte gegeben ist, dann wird alle Zeit herrlich. Und worüber klage ich denn? Darüber, daß ich dem Gemeinen Gewalt in mir gegönnt habe, daß ich mich habe übertölpeln lassen durch pöbelhafte, nichtige Meinungen, so daß es mir zuweilen scheint, als ob sie sich krebsartig unheilbar in meine Seele hineingefressen hätten. Wie kann die Besonnenheit, die Sanftmut einem so ganz entweichen, wie mir zuweilen!

Montag [d. 20t. Mai].

Sie werden es diesen Zeilen ansehen, daß ich ruhiger geworden bin. Ein Paroxismus ist vorüber. Ob er wiederlehrt? Es ist jetzt Abend nach einem drückend warmen Tage. Die Sonne steht vor meinen Fenstern hinter gelben Nebeln, und ein frischer Baum- und Blütengeruch weht durch die Luft. Ob ich arbeite? Nein. Ehe ich nach Berlin ging, konnte ich's und recht tüchtig, jetzt nicht mehr. Ich habe mich zu zwingen versucht, aber umsonst. Darum lass' ich mich jetzt gehen. Ich habe Philosophie treiben wollen, aber grade dazu gehört die religiöseste Ruhe, die frischeste Heiterkeit des Gemüts, die angestrengteste Sammlung.

Sonnabend [d. 25t. Mai], Mittag ein Uhr.

Heute habe ich zu baden angefangen. Ich fühle mich wunderbar dadurch erweicht, aber nicht schwach, und jetzt erst, nachdem ich lange gelesen, regt sich wieder ein leiser Schmerz im Gehirn, überhaupt hat mein Übel zwei Symptome. Zuweilen zieht es nach dem Herzen hinunter und äußert sich dann bald durch starkes Schlagen, bald durch ein ängstliches Zusammenziehn. Dann steigt es wieder hinauf nach dem Kopf, und wenn es nicht gradezu eine widerwärtige Dumpfheit hervorruft, so ist mir, als ob kleine trübe Wolken in dem Gehirn herumzögen und es leise zerrüttend bewegten. Ich lese jetzt ziemlich viel, aber sehr durch einander: [Adam] Müller, über den ich Anmerkungen niederschreibe. Er ist ein unechter lügenhafter Gesell, bei dem Echauffement die Stelle der Begeisterung und hin und her schweifende, gemeine Witzigkeit die Stelle des strengen Denkens vertreten muß. Alles liegt in seinem Kopf chaotisch neben einander, und nie wird er den Einen leuchtenden Punkt auffinden, der diese verwirrte Masse seiner Ansichten zu einem organischen Ganzen ordnen könnte. Dazu ist er zu faul und zu irreligiös. Und was für eine Unangemessenheit, welcher Tumult in der Darstellung! Wo man erwartet, daß er die Grundsteine seines Gebäudes legen werde, da schweift er ab zu allerlei Auseinandersetzungen, die darum unverständlich sind, weil sie ganz am Ende einer Reihe liegen, deren erste Glieder nicht gegeben sind. Wo er gründlich überlegen soll, da spaßt er, und wie unedel, unmilde, unsicher, wie pöbelhaft zuweilen. An Talent fehlt es ihm nicht, aber seines kleinlichen Gemüts halber dringt er nicht ein in den Kern der Sache, denn statt sich dieser zu ergeben, denkt er überall nur an die vornehme Rolle, die er vor Zuhörern und Zeitgenossen spielen will. Daher die Hohlheit und pfuschernde Unsicherheit seiner Ansichten, die Unzahl schiefer verfehlter und ganz nichtssagender Ausdrücke. Was sagen Sie zu dieser Phrase (S. 32): »Denn sie (die Idee) trägt die Seele aller Ordnung, den Mut des wahren Regierens unüberwindlicher in sich, als die eigne Lebensflamme.« Dieser Gegensatz! S. 2: »Wer vergleicht ihn (den Staat) mit kalten Steinmassen, die das Eisen erst regieren und formen und dann das Winkelmaß ordnen und führen muß.« Wie gefällt Ihnen das? Wenn er nichts anderes findet, um seine Perioden voll zu machen, so greift er ungescheut zu offenbarem Unsinn. Und in seinen Ansichten ist es grade eben so. Erinnern Sie sich unter anderm der Darstellung von dem Gegensatz des Begriffs und der Idee (worauf sein ganzes Buch fundiert ist)? Diese ist nicht bloß lose und ungründlich, sondern stellenweise eben so sinnlos, wie jene Phrase. Auch [Karl Philipp] Moritz lese ich (seine Reise nach England, jetzt die nach Italien). Er gefällt mir sehr wohl, denn er ist ein ächter Mensch, ganz ohne Schein und Lüge. Er hat ein mildes, offnes, freundliches Gemüt und eine große Sehnsucht nach dem Edlen und Ungemeinen.

Sonntag [d. 26t. Mai], Morgen um zehn.

Verlangten Sie es nicht, liebe Rahel, daß ich Ihnen gleich schreiben soll, so zerrisse ich diese elenden nichtssagenden Zeilen, die noch dazu lügen. Denn es geht allerdings Besseres in mir vor, als auf diesen Blättern geschrieben steht, aber weil ich zwar weich, offen, sehend bin, aber nicht stark, nicht alles beziehend auf eine herrschende Idee, sondern dem Augenblick hingegeben und von den mannigfaltigsten Stimmungen regiert, so kann ich es nicht festhalten, nicht wiedergeben. Reisen Sie unterdes nach Töplitz und seien Sie glücklich mit Goethe, Genz und Pauline. Schreiben Sie mir recht oft, wenn es Ihnen nicht unwürdig scheint, Ihre reichen, von dem vielfachsten Leben durchdrungenen Briefe hinzugeben gegen arme kranke Fragmente (das fürchte ich in der Tat). Aber Sie müssen mir von dortaus zuerst schreiben, damit ich Ihre Adresse habe.

Die menschlichen Umgebungen sind hier ziemlich unerquicklich, mein Bruder zwar recht brav und recht freundschaftlich, aber doch festgebannt in einen engen Gesichtskreis, so daß er nicht Zeit und darum nicht Lust hat, seine Gedanken und Gefühle auf etwas anderes zu richten, als auf die doch kleinlichen Dinge, mit denen er sich abgiebt – daher armes Gespräch. Meine Schwägerin ist vor einigen Tagen niedergekommen, welches aber wegen der Größe des Hauses keinen fühlbaren Unterschied in der Lebensweise macht. Ich sehe statt ihrer ihre Schwester (die Ferdinandsche M[oltke]), die hergekommen ist, um die Hauswirtschaft zu führen, und mit der sich eben nicht viel reden läßt, aber sie ist gutmütig und macht keine Prätensionen auf Unterhaltung. Meine kleine Niece ist in Berlin. Das Wetter ist fortdauernd sehr schön, mild und glühend zugleich. Auch Mirabeau habe ich gelesen, seine Briefe aus dem Donjon von Vincennes, viel besser und charakteristischer als seine Lettres de cachet, die größtenteils schiefe und kleinliche Ansichten enthalten; die gewaltige Fülle seines Herzens, die bei dem fürchterlichsten, dem ertötendsten Unglück seinen Geist stark und lebendig erhält, die offenbart sich vielmehr in jenen Briefen. Seine Beredsamkeit ist die wahre, denn er macht, er erdenkt sie niemals, sondern sie strömt ihm ewig aus dem Quell eines immer bewegten Gemüts hervor. Ich bin überzeugt, daß er grade eben so gut gesprochen hat, wie geschrieben, denn alles ist unmittelbar gegenwärtig, er hat nicht nötig zusammenzuraffen und langsam Rat zu suchen für den Mangel des Augenblicks bei vergangenen Stimmungen und Ansichten.

Da haben Sie ungefähr mein Leben. Wie sich wieder eine bestimmte Kräftigkeit herausbilden soll aus dieser Schwäche und Nachgelassenheit der Nerven, sehe ich nicht ein; indes will ich nichts übereilen oder erzwingen, jeden Tag nur tun, was ich kann. Da muß sich das Resultat von selbst ergeben. Adieu. Schreiben Sie mir noch aus Berlin?

A. M.


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