Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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67.

Marwitz an Rahel.

Potsdam, Montag d. 24t. Febr. 1812.

Ich nehme ein altes, an Sie gerichtetes Blatt, liebe Freundin, um darauf an Sie zu schreiben. Ein etwas matter Brief wird es werden, denn ich bin es körperlich; der Kopf ein wenig angegriffen, ein kleiner Halsschmerz, der indes nachläßt. Ich habe wenig gute Stunden gehabt, seit ich Sie zuletzt in der Nachbarschaft des dicken Viehs verließ; ich war oft unwohl, dabei faul wegen großer innerer Zerstreuung, wenig Stille war in meiner Seele und wenig Kraft, keine Richtung nach dem Einen, Höchsten. Es störte mich einen Tag, daß ich examiniert werden sollte und wurde, denn zu meiner Schande muß ich Ihnen nur gestehen, daß mich dergleichen Dinge sogar agitieren und ich erst ruhig werde, wenn ich drin bin. Die meisten Fragen waren sinnlos und, was schlimmer ist, ganz ohne Zusammenhang; sie trieben mich immer von dem Gegenstand weg, den ich eben klar hatte und der mich interessierte, auf einen andern hin, welcher mit jenem in gar keiner Verbindung stand. Ich antwortete daher oft verquer, die Leute aber entgegneten mir nichts, teils weil sie überhaupt verschüchtert waren durch meine Probearbeiten (die hier unendlichen Rumor erregt haben) und durch meine ganze Stellung zu ihnen, teils weil sie mich nicht verstanden und sich zu blamieren fürchteten, wenn sie fragten. Der (ziemlich moderne) Jurist fing sein Examen mit der Frage an: Welches ist das Verhältnis des Göttlichen zum Staat. Ich meinte, er ziele hiermit auf die Antwort, daß der Staat nicht ohne eine Begeisterung für das Überirdische zu denken sei, und gab ihn diese (mit welchem Widerwillen, welcher Scham an dem Ort, und nachdem ich unmittelbar vorher von der Girobank hatte reden müssen!). Er aber hatte auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit gezielt. So waren denn die meisten Fragen, man konnte tausend Antworten darauf geben. Genug von der ekelhaften Pasquinade. Daß ich durchgekommen, versteht sich.

Ich muß es Ihnen wiederholen, liebe Freundin, ich habe übrigens genußlos und gemein gelebt, ohne eine Seelenerhebung, ohne eine kräftige Übung des Talents. Ein paar gute Stunden habe ich mit dem kleinen Gerlach gehabt; er ist voll Geist und Lebenskraft, unbefangen, fühlt und denkt immer neu, nur mir freilich ein wenig zu neu, denn es grenzt an das Desultorische. Ich werde ihn ja Ihnen zuführen, wenn Sie gesund sind.

Ich habe den ersten Teil von Mirabeaus histoire secrete de la cour de Berlin gelesen. Von Friedrich II. sagt er: zwei Drittel von Berlin beeifern sich (nach seinem Tode) ihn für einen gewöhnlichen, ja untergeordneten Menschen zu erklären. Oh! Si les grands yeux, qui au gré de son ame héroique portoient la séduction ou la terreur, se rouvroient un instant, auroient-ils le courage de mourir de honte, ces adulateurs imbécilles. Von dem neuen Eide, den die Soldaten nach seinem Tode leisteten, ces groupes de soldats, qui pendant toute la matinée inondoient 1es rues, cette précipitation du serment légionnaire hätten angedeutet, daß der Herrschende vielmehr König einer Armee als eines Volkes sei. Sie sehen ein, daß ich diese Stelle nur anführe wegen der schönkomponierten unterstrichnen Worte. Herrliche Charakteristiken des Prinzen Heinrich, des verstorbenen Königs, des Herzogs von Braunschweig; nur schlägt er den letzten wie überhaupt die militärischen Fähigkeiten der Preußischen Generale und die Kraft des Preußischen Heeres zu hoch an, desto penetrierender durchschaut er die übrige Schwäche, den Geist des Ganzen, den gänzlichen Mangel an ausgezeichneten Menschen, den matten Gehorsam des Volks. Es sei fröhlich gewesen bei der Huldigung, sagt er, nur freilich glichen seine höchsten Emotionen kaum den ersten leisesten Bewegungen eines andern. Ein verachtender Zug geht durch das Ganze hindurch; die Einsicht in unsre Ungeschicktheit, unsre geistige Armut, unsre Ruppigkeit. Einige Zeichen der Zeit trägt er an sich, so die schon erwähnte Verehrung der Preußischen Taktik, dann den Glauben an die alte Politik und die Wirksamkeit ihrer Kunstgriffe, die Alliancen, Koalitionen p. p.

Dienstag Vormittag 10 Uhr.

Ich mußte gestern aufhören und will jetzt nur noch einige Zeilen hinzufügen zwischen dem Aristoteles, den ich eben verlasse, und den Akten, die ich vornehmen muß. Das Blut steigt mir ein wenig nach dem Kopfe, doch bezwinge ich es und nötige mich zur Klarheit und Denkkraft. Gestern Abend las ich eine kleine Schrift des Tacitus, die Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters, des Julius Agricola, sehr schön mit durchgängiger Wortbedeutsamkeit, überhaupt mit der sinnigsten Behandlung der Sprache geschrieben bei dürftigem Stoff. Die mémoires de Richelieu von Soulavie sind sehr schlecht, gar nichts Neues darin; sie sind verschieden, wie ich erst aus der Vorrede sah, von der vie privée, die wahrscheinlich alles Merkwürdige enthält. Adieu, Liebe. Ich ahnde, daß Sie besser sind; darum fragte ich gar nicht.

A. M.

Ich komme Freitag.

Honoré Comte de Mirabeau, Sur la monarchie prussienne sous Frédéric le Grand 1787 in vier Bänden. – Louis Herzog von Richelieu, Großneffen des berühmten Staatsmannes, Mémoires sind, bearbeitet von Soulavie, 1793 herausgegeben; die Vie privée von Faur erschien 1792.


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