Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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81.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam, d. 4t. Juli 1812] Sonnabend Nachmittag sechs Uhr.

[Vorher gehn Mitteilungen über das vorerwähnte Mädchen]

... Liebe Rahel, Sie schreiben mir in Ihrem ersten schönen Brief, Sie wüßten, wie ungewohnte Angst und Sorge um mein Herz schlichen; die nicht, aber ein unangenehmes, peinliches Gefühl wegen der nahen, mir nun verwandten, nicht fortzustoßenden und auch nicht zu bessernden Gemeinheit, die kein liebendes und kein strafendes Wort versteht. Nicht leer, nicht geängstet habe ich mich die Zeit her gefühlt, aber ohne Erhebung, ohne den stillen innern Frieden, den reinen ungetrübten Herzensschlag, das tiefe Gefühl und die lebendige Empfänglichkeit des Gemüts, ohne den Zug nach dem reinen und höchsten; kurz, ich war und fühlte mich unbedeutend. Ich habe gearbeitet und gelesen und Menschen gesehn und manches nicht Uninteressante erlebt, aber kein reines und gedeihliches Gefühl ist mir davon zurückgeblieben, und so mag ich Ihnen auch nichts davon erzählen, ich müßte mich erst in eine Stimmung hineinschreiben, und das hat immer etwas widerwärtig Absichtliches. Auch war ich ein paar Tage nicht wohl und in der Natur, die sich auch nicht besonders zeigte, nie allein. Gerlach war gewöhnlich mit mir, den ich nicht genug loben und nicht genug tadeln kann, so ernst und so frivol, so wach und so blind, so lebhaft und so unerregt, so scharfsinnig und so vorschnell ist er zu gleicher Zeit. Burgsdorff mit seiner Frau und dem jungen Voß, dem zweiten Sohn des Ministers,Der Minister Otto Karl Friedrich Graf Voß (1755–1813). war einen Tag hier wahrlich bis zum Ridikülen blasiert, so daß Gerlach, der mit mir in seiner Gesellschaft war, später darauf, als auf etwas Kolossales, während mannigfaltiger Gespräche immer wieder zurückkam, lachend und voll Erstaunen. Voß blieb hier von Dienstag bis gestern; Sie haben ihn ja wohl gesehn; im tiefsten Innern ist er unbedeutend und schwach; auf diesem Fundament ist allerlei halber Sinn, Tätigkeit und Regsamkeit nach mannigfaltigen Richtungen, und daher allerlei Wissen aufgebaut, so daß sich ganz gut mit ihm reden läßt, um so mehr, da er sich einen falschen Enthusiasmus abgewöhnt hat, in den er sich sacht von Zeit zu Zeit hineinarbeitete und in dem er dann ungeschickt und unausstehlich deklamierte. Gute Gesellschaft, die er viel gesehn, hat ihn den von der Haut gerieben, so daß er jetzt anspruchslos und gutmütig erscheint.

Adieu, liebe Rahel. Sehn wir uns wieder, so lächeln wir, sagt Brutus zum Kassius bei Shakespeare und darauf: Wo nicht, ist wahrlich wohlgetan dies Scheiden. Worte, die mir immer unglaublich gefallen und oft einen tiefen Eindruck auf mich gemacht haben. Der erste Vers ist: So leb' denn wohl, mein Kassius für und für, sehn wir p. p. Sie gehn darauf in die Schlacht, wo der eine in sein Schwert fällt, und am nächsten Tage der andre. – Heute regnet es den ganzen Tag draußen, es fängt schon an zu dunkeln, doch merkt man, daß die Sonne noch fast eine Stunde hat bis zum Untergang. Ich sitze auf dem Sopha dicht am Fenster, höre den Regen plätschern und sehe von Zeit zu Zeit hinaus nach den grünen Bäumen, die manchmal von Windstößen bewegt werden, dem hohen Schieferdach des Komödienhauses, das über sie hinaussieht, und dem trüben Himmel. Es ist unglaublich still; wenn ich grade schreibe, höre ich nur die Feder; auch innerlich ist mir so. Von Kindheit an habe ich solches Wetter und solche Stimmung dabei sehr geliebt. Man denkt, man fühlt aber nichts; aber eine stille Genügsamkeit geht durch die Seele, und trifft sie dann etwas, so hat sie die vollste, lebendigste Empfänglichkeit dafür. Wie oft habe ich an solchen Tagen stillsinnend verloren und ganz erfüllt Dürersche Holzschnitte in Friedersdorf angesehn.

A. M.


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