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Freitag [d.17t. Mai 1811]
Morgen um halb elf, im dicksten Sonnenschein, die Laden nur ein wenig offen.
Wenn Sie nicht geschrieben hätten: »Antworten Sie gleich«, so wüßte ich gar nicht einmal, ob Sie dergleichen Briefe von mir haben wollen, wo so alles darin steht, wie es an mir vorübergeht, wie ich darin wühlen muß, so wenig antworten Sie oder tun nur dergleichen. Diesmal haben Sie Recht; und dies eine hier angeführte Wort ist Antwort auf alles, was ich schrieb. Künftig aber forschen Sie auch ein wenig zu mir zurück. Lesen Sie Adam Müllers Buch z. B.? Ihr Haus gefällt mir ja sehr gut. Es ist sinnig und bequem eingerichtet und einzurichten gewesen. Darin könnte einem wohl werden; Sie müssen gut in den Zimmern schlafen, die dicken Mauern beruhigen und halten Hitze und Kälte ab. Sind die Kastanien dicht vor Ihren Fenstern, daß Sie sie anfassen können? Können Sie auf die Wipfel sehen oder gar drüber weg? Beschäftigen Sie sich? Können Sie arbeiten? Lassen Sie Ihrem Körper ja Zeit, Fortschritte zu machen. Dazu müßte die Seele erfrischt werden, und gesunde Seelen werden dies doch am Ende nur durch Menschen. So wie die bestorganisiertesten Gesundheiten am leichtesten leiden, so können nur dumpfe Seelen in Einsamkeit gedeihen. (Sehen Sie dies Schreiben! Ich schreibe mit einem Stück Holz, welches ich mit der Scheere zugestutzt habe.) Ich grüble mich zu Tode über Sie, bis ich Sie fertig habe. Was kann ein Mensch mit solchem Bewußtsein ausrichten, wie Sie es haben, ich möchte sagen, ein wissenschaftliches Bewußtsein, ausrichten. Sie können der Zeit nicht entfliehen. Es giebt nur Lokal-Wahrheiten, und die Zeit ist nichts als die Bedingung, unter welcher sie sich bewegen, entwickeln, leben, wirken. Alle bekannte Wesen sind darin streng gebannt, jeder Mensch in seiner Zeit. Unsere ist die des sich selbst in's Unendliche bis zum Schwindel bespiegelnden Bewußtseins. Und die größten Heldenanlagen, die wirkungsreichste und fähigste Natur muß austrocknen, vergehen, in Luft und Flammen aufgehen, wenn sie doppelt begabt, recht menschlich begabt ist, wenn ihr ein spekulativer, sinnender Geist zugesellt ist, ein scharfes, intelligentes Verständnis, eine zu bewegende Dichterphantasie, ein starkes, aber zartes Herz. Einem verstehenden Menschen ist in der zerstückelten neuen Welt, wo Griechen, Römer, Barbaren und Christen ausgehaust haben, nichts übrig als das Heldentum der Wissenschaft. Staatshelden, die erst vernichten und erobern sollen, haben und dürfen kein großes Bewußtsein haben. Sogar Staatsverwalter müssen den Kranken, den sie vor sich haben, talentartig, ziemlich empirisch und instinktartig behandeln. Auf eine andere Weise gebricht der Mut, und der Augenblick, mit allen Vorteilen schwanger, abortiert. Sie nun sind der Mensch mit den doppelten Gaben, mit dem zwiefachen Sinn, und wie geknebelt, erdrosselt stehen Sie mitten drin. Dies ist Ihr Unglück, Ihr Leid. Sie scheinen zu schwanken, und eine ausgesogene Welt ist es, die farb- und marklos um Sie her wogt. Ich spreche nicht wie alle Menschen von der armen französischen Revolution; die war schon da, eh' sie ausbrach. Zu zerrieben liegen die Elemente der Menschheit von den Jahrhunderten da, weil es der Staub der Trümmern ist, die Gottlosigkeit und Blödsinn geschlagen haben, nicht eine heilsame Mischung, durch frommes Beginnen und ehrliches Handeln erzeugt. Ist sie ganz in chaotischem Aufruhr, die Welt, so strebt der Geist hinweg nach dem Himmel; eine Religion bringen die Seufzer, die élans der Seele, von ihm herab; zweimal kommt sie nicht in gleicher Gestalt, und da diese für die Erde ist, ist auch keine ewige vorhanden; es ist auch jetzt eine neue Religion da. Mir ist sie verkündet, stark, in der Seele. Allein bin ich aber noch. Zu eitel sind noch meine Freunde. Die ganze Welt können jetzt nur die Schlachten umschaffen. Menschen gebäude lassen sich nicht aufführen, wehren kann man sich nicht, entfliehen auch nicht. Hütten aber und stille Anstalten sind zu treffen; dazu aber sind die Guten zu stolz. Einen Namen sollen ihre Taten, ihre Werke haben, nach Alexander, nach Moses, nach Christus sollen sie heißen. Es sind der Guten mehr da als je; seien sie gut, leben sie gut, leben sie noch, soviel als möglich; und dies für eine Tat angesehen ist viel möglich. Die Kolonie ist gleich da, nur ohne Projekt, nur das Allernächste immer gut gemacht; so sehr hindert keine Regierung, und hindern sie wirklich, die Regierungen, so ist es ja gut zusammenzusein, sich helfen, besprechen, sich da wissen, sehen. Kann einer sterbend die Welt, sein Land retten, ich rate es ihm, und wären Sie es. Geht es, nützt es? Das Grübeln über Rettung und die Zeit, die ambitiösen Versuche sind das Schlechteste. Leben, lieben, studieren, fleißig sein, heiraten; wenn's so kommt, jede Kleinigkeit recht und lebendig machen, dies ist immer gelebt, und dies wehrt niemand. Und von einer großen, immer größeren Vereinigung dieses wollender Menschen sollte nichts, gar nichts entstehen? Ein Wachstum solcher Vereinigung müßte alle rohen Anstalten sprengen, in sich aufnehmen. Aber dies hat keinen Namen, und es unterbleibt, oder es geschieht auch nur unbewußt; denn es geschieht allwährend. Aber die Braven, Sie, tummeln sich elend. Auch ich sehe Sie so, wie Sie sich mir mit wenigen Worten schilderten. Ganz sehe ich das ganze Sein und Tun Ihrer Seele, meine lehrt mich dies. Sie können »die Berührung des Gemeinen nicht dulden«; das sind ja die Strohhalme, die auch mich dem Wahnsinn nah bringen, mir alles Blut umwenden und die Besinnung rauben. Auch den »faulen Fleck« kenne ich. Sie müssen »das Gemeine verachten lernen«. Sie müssen das können. Sie müssen es absolut lernen! Durch Zwang, durch Gewalt an sich selbst ausgeübt erreichen Sie dies nie. Sonst würd' ich Ihnen, wie Hamlet seiner Mutter rät, sagen: Wirf den schadhaften Teil (des Herzens) weg! (wenn sie ihm sagt: Du spaltest mir das Herz). Durch Fleiß aber, durch unablässigen Fleiß und Anstrengung können Sie das Gemeine verachten lernen. Durch unablässigen! Ich kenne auch diese Krankheit und wehre sie mir ewig ab. Ein ununterbrochenes Untersuchen dessen, was gemein ist, rettet allein davon. Denn so unsinnig ist unser Inneres nicht, daß wir das Gemeine als solches lieben könnten und halten wollten; aber wir unterscheiden's nicht schnell und lassen uns meist von andern und oft von uns übertölpeln, und überschreien die ewige Stimme in uns. Habe ich Sie verstanden? Meinten Sie dies? so rotten Sie's aus; lassen Sie dies Ihr erstes und immerwährendes Geschäft sein, wo Sie's nur finden. Dies wird Ihnen auch die nötige »Besonnenheit« geben, es »abzuwehren«. Adieu für jetzt. Ich bin rasend echauffiert.
Sonnabend Vormittag, d. 18t. [Mai 1811] halb 12.
Ich schäme mich, da ich die beklexten Bogen vor mir sehe, daß ich Ihnen dies als eine ordentliche Sendung schicken soll, Sie es ordentlich aufmachen und lesen sollen, was ich so gut zurückhalten kann. Sprechen kann man noch so ungezimmerte Dinge, die Luft und das neutrale Ohr bewahrt sie nicht, aber dergleichen Phrasen und Perioden mit dicker Tinte bleiben unbescheiden. Vieles davon wünsche ich wieder zu Ihrer Kenntnis! Andrerseits schien es mir auch wieder zu präpariert und wie eine Toilette, wenn ich es besser zu machen suchte; mir war so, als ich schrieb, und Sie nehmen es als gesproch´ne Worte hin; da ist viel erlaubt. Warum bin ich entfernt von Ihnen? Schlechtes erzeugt Schlechtes. (Hier störte mich mein Schuster, und dann Heister, der zwei Tage in Potsdam war, und den ich aber nun doch employierte mir diese Kritzelfeder zu schneiden; jetzt steht er neben mir und schneidet ein Kouvert.) Ich habe mir jetzt angewöhnt abends nach dem Tiergarten zu Marcus zu gehen; da sah ich die Kinder; die Frau freute sich, die noch gar nicht aus dem Gehege kam, Marcus ist es auch lieb, es sind viel Blumen und Blüten und schöne Bäume da; hinten geht es nach dem Felde, ich bringe mit, wen ich will. Das Asyl ist artig genug. Jedoch geh' ich auch leicht nach andern Orten. Der Wald ist göttlich! – wunderbar schön. So dünkt mich hatten sich Laub, Zweige, Blätter Scheine und Farben nie. Alles so zauberartig! Und wahrhaftig, ich befinde mich doch nicht so prächtig. Mir bekommt, umgekehrt wie zeitlebens, die Hitze nicht, und ich bin schwer wie ein Gnom; in der Tat, kaum kann ich gehen. Auch darum wähle ich Marcus nahen Garten. (Nun geht Heister.) Hören Sie, lieber Marwitz? Sie schreiben mir, und gleich! Nun bin ich nur noch vierzehn Tage hier. Den 1ten fahre ich ab, dann ist es doch schwer Briefe zu haben. Sie wissen, wie die Töplitzer Posten gehn! Auch sind sie teufelisch teuer. Ich werde es aber immer so einrichten, daß meine Briefe an Sie aufs sicherste von Leuten bis Berlin an Nettchen mitgenommen werden, und daß diese dann sie selber nach der Post trägt. Wo Sie sind, muß ich ohnehin immer zu meiner Seelenruhe wissen. Sonst hilft aller Schwefel aller Quellen nichts. Da Sie es schrieben, hätte ich Ihnen gleich geantwortet, aber da wäre der Brief nur mit der fahrenden Post gegangen und vielleicht nicht früher angekommen. Auch hätte ich gleich nach dem Empfang schreiben müssen, aber das ging nicht. Mit diesen Reden will ich nur so viel sagen, daß Sie mir diesmal gleich antworten sollen. Zwingen Sie sich zur Jugend. Wenn Sie keine Hospitäler anlegen, so können Sie in der Wildnis Friedersdorf nichts Wohltätigeres tun. Madam Herz hat mir sehr freundlich und natürlich von Dresden geschrieben, in welchem Schreiben sie unter dem Namen M. der Koloß nach Ihnen fragt, Harscher aber wie ein Kind pflegen möchte. Harscher will heute zu mir kommen, er ist sehr verschleiermachert, fuhrt sie überall. Adieu.
R.R.
Karl Philipp Moritz, Schriftsteller aus der Aufklärerzeit, Reisen eines Deutschen in England 1783, Reisen eines Deutschen in Italien 1792/93. – Die Schwägerin M.s ist die zweite Frau seines Bruders Friedrich August Ludwig v.d.M., Charlotte geb. Gräfin Moltke, mit der M. 19. April 1809 sich vermählt hatte; sie war Hofdame bei der Königin Luise. – Die Nichte M.s ist die 1804 geborene Tochter seines Bruders aus erster Ehe Karoline Franziska. Sie ist zum Besuch bei ihrer Großmutter Sophia Brühl, geb. Gomm, Gattin des Generals Karl Adolph Reichsgraf von Brühl. – Honoré Graf von Mirabeau, Lettres originales écrites du donjon de Vincennes 1792. Essai sur les lettres de cachet 1782. – Bei Auguste Brede, Schauspielerin, wohnte damals die Rahel: sie war später in Wien.