Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

57.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam,] Mittwoch am Neujahrstag 1812. Abend fünf Uhr.

Nicht in der besten Stimmung ergreife ich die Feder, um Ihnen, liebe Rahel, zu antworten. Ich bin müde und stumpf vom vielen Arbeiten, und das Auge und der Sinn »suchet lebendigen Reiz« und findet ihn nicht. Denken Sie! Seit ich Berlin verließ, bin ich bis gestern früh, wenige Abendstunden ausgenommen, ununterbrochen zu Hause gewesen und mußte es sein wegen des schmähligen Wetters und fehlender Gesellschaft. Redtel nämlich ist in Berlin, Salemon, der mich eben wieder durch grenzenlose Stumpfheit gequält hat, kein rechter Umgang für mich, weil er alles nur halb fühlt und faßt, wenig weiß und dabei nicht unschuldig und freundlich ist, nicht rein aufnimmt, sondern meist auf eine unreine Art gegen fremde Überlegenheit ankämpft; überhaupt ist er mehr auf einen persönlichen und darum selbst gemeinen Krieg gegen das Gemeine gestellt, als auf ein Ergreifen und Würdigen des Hohen und Rechten, ohne welches jener Streit doch roh und leer bleibt. Ich sehe ihn daher selten. Zur Bassewitz gehe ich nicht, weil ich mit ihrem Mann in einen unsichtbaren Krieg verwickelt bin (wir fühlen nämlich beide den furchtbaren und nie zu versöhnenden Gegensatz unsrer Naturen), und er haßt mich deshalb; sie aber hat mich nicht so eingeladen und behandelt mich überhaupt nicht so, daß ich dessenungeachtet ohne große Unbequemlichkeit kommen könnte. Außerdem nun ist kein Mensch hier, mit dem ich etwas haben könnte, und wäre Berlin nicht so nah, so müßte ich verzweifeln. Denn hören Sie einmal. Donnerstag Abend kam ich von Berlin. Freitag war ich den ganzen Tag zu Hause (ich esse nämlich auch zu Hause); am Morgen las und schrieb ich an einer juristischen Arbeit, die ich zum Examen machen muß, von halb neun bis drei. Dann gegessen und bis fünf in meiner großen Stube umhergegangen, am Ofen gestanden und den Gedanken freien Lauf gelassen. Gegen fünf Licht. Ich las und excerpierte Niebuhrs Römische Geschichte bis elf Uhr. Sonnabend früh bis zwei Uhr wieder die juristische Arbeit; darauf ging ich zu Salemon, las dem ein Memoire meines Bruders über den Preußischen Krieg vor, welches ich Ihnen bei Gelegenheit schicke oder bringe; um vier Uhr kam ich zurück, aß, erhielt Ihren Brief, war sehr abgespannt und dabei etwas unwohl, hatte zu hastig gegessen, freute mich nicht besonders daran. Salemon hatte mich sehr gequält am Abend zu ihm zu kommen, ich konnte es ihm nicht abschlagen, war indes lange bei mir unschlüssig, ob ich Wort halten solle, denn eigentlich wollte ich Niebuhr lesen; jedoch, da ich später ihm einen Abend hätte widmen müssen und ich einmal aus der rechten Ruhe heraus war, so ging ich. Er mußte mir im Simplizissimus, den ich mitgenommen, vorlesen; ich ließ mich ganz gehen, hörte auf das gelassendste zu und kam so wieder zu einer kräftigen Stimmung, in der ich zu den Gedichten des Malers Müller griff, die er auf mein Anraten gekauft hat, und ihm daraus vorlas. Sie sind stark und naiv, setzen aber die rohe Naturkraft überall als das Höchste und sind daher dürftig, wo sie in ein vielseitig gebildetes Leben hineingreifen (wie in seinem Faust); seine idyllischen Darstellungen dagegen sind göttlich, unvergleichlich, alles Liebliche und Schmerzliche und Starke der Liebe, das Edle der Leidenschaften und von der andern Seite die Gemeinheit und schwächliche Verworfenheit, die sich in unserm Leben für Recht und Tugend und Sitte ausgiebt – dies alles kennt und schildert er, wie kaum einer. Lesen Sie ihn ja. Genelli pries ihn mir zuerst. – Weiter in der Chronik. Ich blieb bis zwölf Uhr bei Salemon. Den andern ganzen Tag las ich an Niebuhr (denn es geht mit dem unendlich schwer und langsam); ich ging zwar am Nachmittag zu Redtel, indes der war grade nach Berlin gereist, und nun war es schon spät und widerwärtig kalt, so daß ich nicht spazieren gehn mochte. Ich daher wieder nach Hause und den Abend geharzt (nach Harschers Ausdruck). Montag schrieb ich wieder von halb neun bis drei an der juristischen Arbeit, dann aß ich, ging dann zu einem Herrn von Röder, Capitain bei der Garde, einen Mann, der den Verstand und die Bildung hat, die in unsrer Zeit so sehr gang und gebe sind, und mit dem ich allerlei reden kann, weil ich in vielen Verhältnissen mit und zu ihm gestanden habe. Eigentlich wollte ich nicht zu ihm, sondern nach Sanssouci spazieren, aber es schneite zu arg, und so wandte ich um. Ich blieb bei ihm bis fünf, wo er zu Prinz Karl mußte, um dort Komödie zu spielen. Nach Hause und wieder Niebuhr. Ich kam am Ende in eine Begeisterung für die Römer hinein, wie ich sie oft hatte, und las in der Schlegelschen Elegie Roma mit großer Lust laut. Es war elf geworden. Der andre Morgen verging wieder in Arbeiten. Abends war ich auf einem großen Ball im Saal des Komödienhauses. Wie ich gegen halb acht hinkam, war der König mit dem ganzen Hof schon da; unendliche Offiziere tanzten und standen gedrängt, einige Zivilisten, meist ruppig, dazwischen. Ich sprach mit sehr vielen und zerstreute mich an dem Anblick der vielen bunten Gestalten, unter denen auch einige hübsche Frauen waren, aber keine interessante, keine reizende. Ich erstaunte von neuem über die unglaubliche, durchgängige Nichtigkeit der Offiziere; ich bin nun ganz über sie blasiert und behandle sie mit der bequemsten Rücksichtslosigkeit. Bei keinem ist nur ein Anklang des echten militärischen Wesens, nur eine Spur roher oder gebildeter Kraft, nur ein schmerzliches Andenken der Vergangenheit, ein ernster Blick auf Gegenwart und Zukunft. Ekossaise und Quadrille sind die Blüten ihres Daseins, der Mittelpunkt ihrer Gedanken, der einzig ungeheuchelte Ernst, dessen sie fähig. Der lange Neumann war auch da; er entschuldigte sich Ihretwegen und verspricht Federn zu liefern. Einen, der mich ignorieren wollte, zwang ich durch die determinierteste Grobheit freundlich gegen mich zu sein, zu grüßen p. p. Die einzig richtige Manier. So wie man das Lumpenpack dem Verdienst nach en canaille behandelt, fängt es an mit dem Schweif zu wedeln. Ihr Betragen gegen Frau von Reck bleibt das ewige Muster. Ich blieb bis vier Uhr auf dem Ball, stand heute spät auf und las Niebuhr bis drei; nach Tisch kam Salemon und desesperierte mich, ich machte, daß er ging, und wäre nun vor Abspannung und Leerheit in Verzweiflung, wenn ich Ihnen, liebe Freundin, nicht schriebe. Gesellschaft nämlich wäre mir heute noch Bedürfnis, und es giebt keine; ich muß zu Hause bleiben auf die Gefahr, morgen früh wieder abgespannt zu sein. – Über den höchst merkwürdigen Niebuhr könnte ich Ihnen in anderer Stimmung vieles schreiben; jetzt nichts und nicht sowohl, weil mir nichts gegenwärtig ist, als weil ich keine Lust habe.

Von Barthold G. Niebuhrs Römischer Geschichte war der erste Band 1811 erschienen. – Das Memoire von Friedrich von der Marwitz ist dessen »Letzte Vorstellung der Stände von Lebus und Beeskow-Storkow an den König«, in welchem Hardenbergs Reformen scharf angegriffen wurden.– Grimmelshausens Vagantenroman »Der abenteuerliche Simplizissimus« war 1669 erschienen. – Friedrich Müller, der »Maler Müller«, seine Werke, von Tieck herausgegeben, erschienen in drei Bänden 1811–25, sein Drama »Fausts Leben«, 1. Teil, 1778. – Erhardt von Röder, seit 1808 Flügeladjutant Friedrich Wilhelms III., oder sein Bruder Wilhelm, der Freund und Schüler Scharnhorsts, der bei Kulm fiel. – Prinz Karl Friedrich August von Mecklenburg, 1805 Major in der Garde, der viel angefeindete spätere General und Präsident des Staatsrates. – A. W. Schlegels Rom. Eine Elegie, war 1805 erschienen. – Frau von der Reck, Witwe des Justizministers (1784–1807).


 << zurück weiter >>