Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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79.

Rahel an Marwitz.

Donnerstag Morgen, d. 2t. Juli 1812.

Hören Sie diesen Traum! Es war ein großes Diner, man hatte aber schon Licht, denn es war Abend. An einer von den reichlichen Tafeln war auch unter vielen andern Bekannten Urquijo, ich in einem Zimmer nebenan, wieder mit vielen. Man steht von Tisch auf, und ein Teil meiner Gesellschaft und ich gehen in Urquijos Zimmer, wo sich eine große Gruppe im Fensterraum stellt und setzt; ein allgemeines Gespräch ist im Gange, es kommen immer mehr Herren und Frauen aus den Zimmern zusammen, und Urquijo behauptet mit einem Male im Laufe des Gesprächs ganz in meinem Sinne vieles gegen Lüge, falsche Scham, Betrug und schlechtes Liebesbetragen; ich stutze im Ärger, bekräftige dies und frage immer indirekt mit meinen Antworten, wie er dies behaupten könnte. Auch er wendet seine Reden, sich verteidigend und streitend, nach mir, auf mich; ich sage ihm am Ende: Muß nicht ein Mensch sich geliebt glauben, wenn er den andern in der besinnungslosesten Eifersucht sieht? Und mehr solche Angriffe und Fragen; alle andern schweigen; in höchster Aufgeregtheit und Verachtung scheinen sie mir wie Marionetten der Natur, und nur Blicke des Zuviel gleiten noch über ihre gespannte Wundermienen von mir über sie her. Urquijo spricht immer verwirrter und im Ton des Streitens Dinge, die mir Recht geben; endlich halt' ich ihm faits vor, die auch meine Behauptung im allgemeinen ganz unterstützen. Seine Verwirrung, seine Scham steigt aufs äußerste (Geschwister und Bekannte sehen mich mit hemmenden Blicken vergebens erschrocken an; wie von jener Welt seh' ich im Aufruhr über sie weg); er weiß sich nicht zu helfen und sagt mir auch faits ins Gesichte von mir, aber Lügen. Ich frage mit konzentrierter Wut in gelassenen Worten, ob er das wirklich behaupte, für wahr ausgeben wollte; er wiederholt es und sagt Ja und bleibt dabei, in einer an Wahnsinn grenzenden Verwirrung (so wie ich ihn kenne). Ich springe auf, packe ihn an und frage ihn (alles in französischer Sprache), ob er denn nichts von den Menschen wüßte, wieso er nicht dächte, wieso er hoffte, daß ich ihn nicht auf der Stelle morden würde; und so greife ich ihn stärker an und schüttle ihn am Halse. Darauf fällt er in entsetzliche Krämpfe (wie ich sie an ihn kenne, und ärger). Mich erschrickt das Hideuse; ich bleibe bei ihm und helfe, reibe ihn, knöpfe und binde alles auf; keiner wagt es sich zu nähern, nur mein Bruder Louis steht einen Schritt von mir hülfebereit. Urquijo wird nicht besser. Mit einem Male, als ich ihn lange angesehen hatte, auf einem gegenüberstehenden Stuhl sitzend, reißt er sich von seinem, stürzt in den heftigsten Tränenausbruch an meinen Hals, küßt mich, ich küsse ihn wieder und weine auch, er sagt: Du hast recht! daß es alle hören können, und will mich anders als gerührt küssen, welches ich aufs zärtlichste aber wehre; und ohne Worte, nur wie in einer übernatürlichen Mitteilung sagt er mir durch lauter Tränen, Schluchzen, Andrücken und Küssen, er habe mich doch geliebt; er habe sich so sehr geschämt, er habe nur Unrecht getan, er sei unglücklich etc., am Herzen und im Herzen hörte ich dies alles. Er bekömmt wieder Krämpfe und wird sterbend, sehr gefährlich. Alle sagen: Er stirbt! Und als eine Art Mörderin stehe ich unter Brüdern und Bekannten, deren Blicke alles sagen, sie mir nichts. Diplomaten, die ganze Welt ist gegenwärtig, auch Urquijos Mädchen mit einem großen Hut, rührt sich aber auf ihrem Stuhl nicht; er schrumpft ganz zusammen, wird immer hideuser und mumienartig; ich mit einem leichten Angstgedanken an das Mädchen, daß ich mir alle Hülfe herausnehme, mit einem halben Blick auf sie und ihren vermeinten Schmerz. Ihr Gesicht konnt' ich nicht sehen (auch habe ich es nie gesehen, nur ein Mädchen im Hute kommt mit ihm), nehme Urquijo, der zur Furcht leicht wird, auf den Arm und trag' ihn weit weg, im Hause, in ein Zimmer auf ein Bette. Louis folgt mir; ich will ihm das Herz reiben (wie sonst wirklich auf sein Geheiß in Krämpfen geschah), er macht eine agonisierend schmerzhafte Bewegung, die mir Nein zeigt; er wird schlechter, starrer, und meine Angst so groß, daß ich erwache.

Also so denkst du von ihm? sagt' ich mir in der Nacht, du mußt ihm alles verzeihen, du hast ihm alles verziehen (ich habe längst). Sollt' er nichts von diesem Traume wissen? Und dann freute ich mich auch, daß ich erwacht war. Ich schlafe wieder ein, und träume weiter, es sei Morgen, ich in eines von den alten Quartieren, worin wir gewohnt haben, und ich frage ziemlich beruhigt nach einem guten Schlaf unsern Bedienten Feu, der noch die Geräte des Mahls bei Seite bringt: War er drüben (in einem Hause, wo Urquijo wohnte)? Was machen die Herrschaften (nämlich er und sein Mädchen)? Er ist sehr schlecht, sagt Feu. Schlecht! schrei' ich. Heim, Formey,Ernst Ludwig Heim und Geh. Rat Formey, bekannte Ärzte. alle Arzte waren dort gewesen, und alle sagten, er müsse sterben, er agonisiert. Nun lief ich agonisierend in Höllenangst in meinem Zimmer umher; Feu sagte, er ist tot; ich aber konnte es gewiß in meiner Seele nicht aufnehmen, denn es war gewiß (wie Leben oder so etwas), daß, sowie er stirbt, ich mit sterbe. Und laufend dachte ich immer, also das ist sein und mein Ende, so sterben wir, das ist unser Tod, also du hast ihn doch umgebracht, du stirbst ja mit! Es mußte so sein, es war die ganze Zeit auch so, und alles löste sich in einer großen Naturbetrachtung, in unendlichem Liebesgefühl gegen ihn auf. Dann sprach Feu von seinem Tod, ich agonisierte noch laufend, so als sollte er hingerichtet werden, sah ihn sterbend und leidend, ohne vor Angst hingehen zu können, und so erwacht' ich aus der Angst.

Nun sagen Sie: Lieb' ich ihn noch? Ja, sagt mir der Traum und mein ganzes verzaubertes, übernatürliches Herzensdasein. Sollte er gar nichts von dem Traum wissen? Wie finden Sie meine Wut, meinen Zorn? Glauben Sie, so bin ich. Was mich aber im Leben abhält so zu handeln, das kenne ich nicht genau, weiß es nicht zu nennen. O, in welchem inneren Horizont leb' ich heute! Mir ist es nicht unangenehm, mir ist es lieb, daß ihn mein Herz noch liebt, da drin ist ein anderes Land, Freiheit, Wahrheit, Einheit, Heimat. Ich schrieb lieber den Traum gleich, damit ich ihn doch auch behalte. Man vergißt alles. Adieu!


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