Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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62.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam,] Montag d. 19t. Januar 1812, früh zehn Uhr.

Wie soll ich Ihnen danken, liebe Rahel, für Ihren lieben Brief, den ich in diesem Augenblick erhalte, und wie mich entschuldigen. Aber ich konnte Ihnen nicht schreiben. Ich kam spät in der Nacht nach zwölf hier an, fand alles greulich kalt, konnte daher nicht einschlafen, stand am andern Morgen spät auf, mußte auf die Regierung, ließ mich zwingen (denn Sie wissen doch, daß ich darin bin wie Sie) mit dem kleinen Gerlach spazieren zu gehn, zu reden und zu streiten, während ich Ihnen in den letzten einsamen Momenten hätte schreiben sollen. Wie ich zu Hause kam, war Scheibler da, der nun den ganzen Tag neben mir sitzt und das Klima seines Wesens über mich verbreitet hat, welchem ich mich erst jetzt entziehen kann, wo Ihre lieben, mir an die Seele dringenden Worte hindurch reißen, wie plötzliche heitre von oben. Ich habe mich übrigens recht wohl befunden in diesem Klima. Scheibler war durchaus milde, teilnehmend, eingehend, komisch, unpersönlich und hin und her sehr edel gestimmt; sein Gemüt hat einen sehr liebenswürdigen Grund, der aber in fremder Gesellschaft schwer hindurchscheint durch eine Decke von körperlicher und geistiger Ungewandtheit. Er ist nicht vielseitig und großartig gebildet, wodurch man allein die Ecken natürlicher Häßlichkeit (dies im weitesten Sinne, ausgedehnt auf Haltung, Bewegung p. p.) abschleift, aber er hat ein weiches Herz, einen kräftigen Sinn und ist tapfer. Von allen deutschen Dichtern kann er nur noch Goethe lesen (Tieck nicht mehr). Er bringt Ihnen diesen Brief und wünscht Fouqué zu sehn (aus äußern Gründen), ich habe ihn auf den vorbereitet und ihm gesagt, daß er ihn von der ritterlichen und soldatischen Seite angreifen muß. Können Sie sie beide zusammenbringen, so ist es mir lieb, und für die Gesellschaft wird nichts Ungeschicktes oder Verlegenes daraus entstehn. Ich habe mich übrigens mit Scheibler nicht so zersprochen, wie mit Reinhardt; am Morgen und Abend arbeitete ich doch wenigstens sechs Stunden, war also selten ermattet, wenn die Gespräche wieder anfingen. Diese waren mannigfach, da wir so sehr viel mit einander gelebt haben (von frühester Zeit an) und es also weder an Erinnerungen fehlte, noch bei der spekulativen Tendenz (die er umgebildet), bei der Begeisterung für das echt Sittliche und Edelstarke und poetisch Heroische (die er rein in sich trägt), an Untersuchungen und Erzählungen aus der großen Historie von meiner Seite. Wie wenige haben für das letzte Sinn! Nun saßen wir aber den ganzen Tag (auch wenn wir arbeiteten) in der nämlichen Stube, ich am Schreibtisch, er hinter mir lesend auf dem Sopha; da konnte ich Ihnen nicht schreiben; ich war zu befangen, auch gab es zu viele Störungen durch den Salemon, die ihn genau kennen. Verzeihung, Liebe. Wenn ich meine Einsamkeit wieder habe, will ich alles wieder gut machen durch die weitläufigsten Briefe. Alles in Ihrem Briefe ist mir lieb. Mein Herz dankt Ihnen für den Anfang; was Sie mir über Fouqué, Stuhr, die Schleiermachers und Iffland schreiben, interessierte, erregte und ergötzte mich. Nur Ihre Briefe können einem das Leben unmittelbar in seinen Massen und zugleich in allen seinen kleinen bedeutenden Beziehungen vor die Seele bringen. Ihre wachsende Vornehmheit hat meine größte Approbation. Adieu, liebste Freundin. Ich muß jetzt auf die Regierung. Spätestens Sonnabend sehe ich Sie, doch schreibe ich wohl vorher.

AM


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