Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

36.

Marwitz an Rahel.

[Potsdam] Sonntag, d. 20t. Oktbr. [18]11.

Es ist Abends um acht Uhr, liebe Rahel; seit sechs Uhr las ich in Adam Smith, trank darauf Tee und wollte nun im Lesen fortfahren, als mir auf einem Spaziergang im Zimmer umher einfiel, daß ich besser täte, an Sie zu schreiben. Im Ganzen geht es mir hier recht wohl; ich fühle mich wunderbar gestärkt, so daß ich den ganzen Tag über und auch in die Nacht hinein (d. h. bis zehn Uhr) ohne die geringste Unbequemlichkeit arbeiten kann; der Ort ist ganz, wie ich ihn brauche, solitär, still und in vielen Beziehungen sinnig, mein Quartier besser, als ich je eins gehabt. Denken Sie, ich wohne in der großen Straße am Kanal in einem einsamen, wohlverwahrten Hause; drei Zimmer, das eine mit der Aussicht auf die Straße, nach Mitternacht, sehr geräumig mit großscheibigen Fenstern, Paneelen, einer roten Tapete, um die eine Weinguirlande läuft; zwei Tische, ein gutes, schwarz überzogenes Sopha, wenige Stühle, eine Kommode, ein Spiegel mit goldnem Rahm, das Bett. Vor den Fenstern eine Allee, dann der Kanal, drüben wieder eine Allee. Zwei Zimmer gegen Mittag; das eine größere im besten Stile modern, mit einer heitern grünen Tapete, an der meine Augen sich von Zeit zu Zeit erholen. Ich esse darin, werde auch vielleicht drin schlafen oder wohnen, nur daß ich für beides bis jetzt die Mitternachtsseite vorziehe. Sonst hat dies Zimmer viel Nervenberuhigendes, denn es ist immer ein dämmerndes Licht darin wegen der herabhängenden freien Rouleaux und der grünen Tapete. Kommt mein Geist über Sie, liebe Rahel? Sehen Sie aus dieser Zimmerbeschreibung, wie ich lebe[n muß]. Ganz einförmig. Um zehn Uhr gehe ich zu Bett, um sieben steh' ich auf, arbeite den ganzen Tag, nur daß ich gewöhnlich zweimal nach Sanssouci hinaus gehe und dort auf der Terrasse umherwandle. Ein königlicher Ort, das kleine Gebäude so, wie kein Privatmann es baut, und wenn er Millionen besitzt, denn für keine kleine Bequemlichkeit des Lebens, keine Sorge, keine Begierde ist es eingerichtet; nur ein einsamer Monarch kann so wohnen. Möchte ich Ihnen die Naturszenen beschreiben können, die ich da oben erlebt habe, besonders manchen Sonnenuntergang! Ich habe Stunden lang auf den Stufen der obersten Terrasse gesessen und zugesehn, wie es allmählich dunkelte in den großen Baumgruppen des Gartens, auf den Seen und drüben den Bergen, während die Wolken mit den wunderbarsten Lichtern sich färbten. Heute war es besonders schön, der Himmel glänzte in allen möglichen Farben; die Grasstücke in den Gärten sind noch ganz frisch, auch ist noch vieles Laub an den Bäumen. Menschen scheint es hier gar nicht zu geben; enge Seelen, von den vielen mechanischen Arbeiten, die sie nicht zu beleben wissen, ganz zusammengedrückt, die besseren voll quälenden Überdrusses, ohne Genuß der Gegenwart, ohne Aussicht in die Zukunft, – die schlechtern selbstgefällige Philister. Ich freue mich darum recht auf den kleinen Gerlach, einen muntern, lebenslustigen Jungen, denn was brauche ich Ihnen zu sagen, wie langweilig und ertötend die völlige Einsamkeit auf die Länge wird. Schon jetzt habe ich das einige Male empfunden, besonders in Sanssouci. Was würde ich da nicht mit Ihnen, liebe Freundin, haben reden können, wie klar würde mir der große Mann geworden sein, der da oben in gewaltiger Einsamkeit gelebt hat, da auf der Terrasse gewandelt ist und wohl oft den stillen gefaßten, aber doch trüben Blick bald auf die Natur geworfen hat, bald auf die Köpfe der großen Römischen Republikaner und Imperatoren, die neben seinem Hause aufgestellt stehn. Entsetzlich waren seine letzten Tage, als nun alle Freunde, alle geistreichen Gefährten der Jugend, alle liebe Verwandten gestorben oder abgefallen waren, und er nun allein einem fremden Menschengeschlecht gegenüber dastand, nicht ohne Härte, aber auch nicht ohne tiefes gestandnes Weh des Herzens, wenn die erfüllende Tätigkeit ihn auf Augenblicke losließ und er nun die genußlose Gegenwart fühlte, die hoffnungslose Zukunft überdachte. Apres nous le deluge hat er öfter gesagt.

Adieu, liebe R., schreiben Sie mir fleißig und alles. Sie erhalten den Montaigne und das Geld. Das über die Freundschaft ist bewundernswürdig wegen der reflexionslosen Tiefe und rührend durch die anspruchslose Wahrheit. Ich schäme mich dieses Briefes! Er sagt nichts, wie er sollte. Ein schiefer, ungenügender Ausdruck über den andern. Sehn Sie Harscher, Schleiermachers? Meine Adresse: an Hrn. v. M., Nro. 63 am Kanal.


 << zurück weiter >>