Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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39.

Rahel an Marwitz.

Sonnabend Abend gegen sieben, hellster Mondschein in meine Stube hinein, d. 25t. Oktober 1811.

Teuerster, lieber Freund, welche Worte aus Ihrem Briefe soll ich erst aufnehmen? Sie stürmen alle auf mich ein und bewegen, rühren und beruhigen mir das Herz. Als ich ihn zuerst las, waren mir die liebsten, heilendsten, treffendsten, wie ein goldglänzender Pfeil. Das Ende Ihres ganzen Briefes: »Gleich Antwort. Ihre Briefe sind mir unentbehrlich.« Ich bekam aber den Donnerstag geschriebenen Brief (wenn er auch erst Freitag abgegangen wäre; wie schrecklich langsam gehn die Briefe. Meine auch?) erst heute, als man bald Licht anzünden mußte (mit einem von Barnekow zugleich). Als ich ihn ohne Schlüssel sah und so schwer, so wußte ich, er mußte viel für mich enthalten, aber ganz Liebes kommt einem immer ganz unverhofft. Vieles, liebster Freund, habe ich viel einfacher gesagt, als es ausgesehen haben muß. Nämlich grade das, was Sie anführen. Und haben Sie mich mißverstanden, oder ich Sie, o, so ist es mir göttlich lieb! Freilich seh' ich Ihnen in die Augen, aber zu meiner größten Ehre eher, als Sie mir es sagten, unbefangen, mit voller Liebe. In die Augen, wo ich alle Menschlichkeit finde, wahren Trost, Sicherheit, Ersatz. Ich erlasse Ihnen viele Worte des echtesten, strömendsten Wohlwollens; sie strömen besser als alle Vorwürfe. Aber Sie sollen frei davon sein; ich will sie allein, selbst bekämpfen, diese Flut. Ich sagte es ganz ehrlich, zwingen Sie sich nun nicht mehr mir zu schreiben. Nun, da ich so lange trotz ihrem Versprechen gleich zu schreiben hatte warten müssen. Zwingen Sie sich nun nicht, da ich dies ausgehalten habe, wo es mir so notwendig war, Sie es so einsahen. Die übrigen Stimmungen, in denen man nicht schreibt, sollte dies heißen, kenne ich. Und dies selbe sollte es auch heißen, wenn ich die Briefe gleich zurückforderte, ohne ein Wort von Ihnen. Böse, Marwitz, war ich nicht, denn haben Sie nicht den offenbaren Vorwurf gelesen, wie er aus meinem Herzen kam, ganz wie er mich nur drin schmerzte? Sie sahen, fühlten mein Bedürfnis, so daß Sie selbst es mir zum Trost versprachen, und der Brief kam nicht! Dies sagte ich Ihnen klar; und haben wir nicht längst verabredet, daß arge Vorwürfe gar nicht gemacht werden können? Sehen Sie bis auf meinen schwarzen Herzensgrund; ich freue mich, daß ich Sie quälte, aber, bei Gott, ich wollte es nicht und dachte es nicht. Verzeihen Sie mir aber überhaupt meine Stimmungen jetzt! Ich habe ergründet, was es ist. Meine Brüder haben mich zu sehr gekränkt. Es waren die Letzten, die es konnten. Sie wissen, wie ich gegen Menschen stehe und was ich erwarte und wie hoch abgewandt ich mich von einem jeden zurückziehen kann. Wie anders aber ist es mit Geschwistern, wo Eltern, Vergangenheit, Blut, Gott und die Welt, Gesetz und Staat sie so vereinigt haben, ganz ohne Wahl, daß ein Trennen ein Zerreißen eben so vieler organisch-lebendiger Fäden wird. Ich sehe sie noch, diese Geschwister; äußerlich hängt noch alles zusammen, ich fühle aber eine Beleidigung, wie ich sie nie von nichts fühlte. Verletze ich sie, so verletze ich mich mit, und völlige Trennung von ihnen, da ich ihre Fasern so kenne und sie ewig meiner Hülfe bedürfen werden und wahnsinnig drauf rechnen, verletzt und trifft mich wieder. So lauf' ich, wie Sie mich schon gehämmert kennen, dumpf, mit geschlagenen Herzen in dieser Stadt umher, wo nichts ist, wie Sie auch wissen, als was ich Ihnen beschrieben, ärmer in allem, als ich sonst war (mit physisch krankem Herzen). Nun nicht mehr, Lieber. Schon vor Ihrem Brief überlegt' ich's mir oft. Die Einsamkeit ist nicht für mich; trotz meiner regen, tätigen Sinne ist der stärkste, ich sehe es nun wohl (kurz vor meinem Ende beinah) mein Herz; soll das schweigen und ohne Gegenstand sein, so entsteht die Kerkerangst bei mir (der wahre Tod ist Kleinigkeit, der ist ein Aufhören einer Natur in die andere hinein, er sei nun, wie und was er wolle), verdumpfen tun alle meine Sinne und Funktionen, und das ganze Leben zieht in die Angst diese hinein, über diesen Zustand. Ich seh' es ja; darf ich hoffen Sie zu sehen, sind Sie hier, wäre Pauline hier, die mich tausendfach erheitert, die ich vielfältig lieben kann, die ganze kadavereuse, verstaubte Stadt wäre mir belebt, und voll wären meine Tage, ich vermißte nichts, obgleich ich alle sterbliche Güter zu genießen wüßte. Ihre ehrenvolle, herrliche Anrede an mich paßt also nicht auf mich, mein lieber, lieber Freund. Mein Geist und Gefühl sind andere Helden. Ich kann mir die Herrlichkeit des wahren Lebens nur schaffen an der Seite eines Sterblichen, den ich lieben kann. Aber der Gott in mir wird mich aufrichten; denn ich schaffe mir gewiß, was ich brauche, aber beweine es. In Dumpfheit wird mich mein Schöpfer nicht lassen. Jetzt muß ich Sie verlassen. Ich bin zu Madam Frohberg auf ihre Schwester Julie gebeten. Wegen des Landrechts habe ich schon zu Hitzig geschickt, es ist mir erst zu Montag versprochen, ich bin aber mit Marcus in Unterhandlung drüber, von dem ich's vielleicht bekomme. Nach Polen reise ich nicht; Meyer reist Montag (übermorgen) über acht Tage dahin. Und ich freue mich auf Marwitz! Adieu. Die Anekdote von dem sächsischen Handwerksburschen ist eine der großartigsten; es ist mir unendlich lieb, daß sie Ihnen begegnet ist, dem einfachsten Menschen. Ich gönne sie Ihnen mehr als mir. Sie sind nicht böse. Ich freue mich in der Seele, daß Sie es waren. Adieu, Liebster! Lieber Hamlet, welch ein Zufall!

Elf Uhr abends.

Zu meiner eigenen Ruhe nur noch ein Wort. Heute an Sie! Sonst schlaf' ich trotz meiner unbändigen Schläfrigkeit nicht. Ich habe Hitzig noch heute geschrieben, daß es ihm Madam Frohberg morgen ganz früh schickt, er soll mir das Buch noch morgen schicken. Marcus seines ist mit Annotationen, und er darf's nicht weggeben. Gute Nacht! Morgen noch über vieles. Sie schlafen schon im ruhigen Hause. Adieu!

Sonntag, neun Uhr morgens.

Ich habe Ihnen gestern Abend in der entsetzlichsten Eil rasend schlecht geschrieben, nicht eins, wie es aus dem andern hervorgeht, nicht ein Bißchen Zustand, Stimmung ausgedrückt, Gedanken dargestellt. (Auch jetzt hat mich Meyer schon bei den wenigen Worten dreimal herausgeholt zu einer Consulta.) Daß Sie mir das Geld schickten, lieber Marwitz, darin hatten Sie ganz recht. Ich aber, die so gewiß einen Brief als viel dringendere Schuld erwartete, war betroffen, daß das Paket grade die erste Veranlassung war, wie es immer meiner Voraussetzung nach schien, und dankte wirklich beinah dem Gelde. Daß ich mich gestern Abend in allem ärmer nannte, damit meinte ich nicht besonders das Geld, aber ich meine es sehr mit. Bedenken Sie, welche Gesellschaft ich verlor, welchen reichen, geselligen Umgang, – den Aufenthalt bei einer Mutter, der noch Sinn in mein Leben brachte – mein einziger nennbarer Titel –, und bei der ich wirklich dreimal reicher war, als noch vor einem Monat. Wie behaglich wenigstens dies alles meinen Aufenthalt hier machte, wie ich mich für andere regen konnte, ihnen und Freunden zu allen Tagesstunden angenehm sein konnte. Dies alles müssen Sie nur noch hören, damit Sie eine Einsicht in meine Zerschlagenheit bekommen und mir die dumpfe Klage, den benommenen Sinn zu gute halten, mit dem ich Sie seit Potsdam quäle. Rechnen Sie dazu die Art meiner Komplexion und was Sie schon von mir und meinem Leben wissen. Ich hatte beinah nie ein Reelles mir Gehöriges, und mir ist genommen worden und genommen. Schlag auf Schlag auf mich gefallen seit Jahren. Dies alles erwägend werden Sie bei mir sogar noch Fassung finden. Kommt mir das Leben entgegen auch noch so kärglich, so bin ich immer da; selten dauert's länger als Augenblicke, daß ich ganz losgelassen meinen persönlichen Schmerz aus dem Herzen lasse und nur mit meiner eigenen Erlaubnis in Gegenwart eines Freundes; bald bin ich immer wieder gefaßt und zu seiner Rede, zu was ihm lieb ist, fertig. Nur in Briefen ist das anders. Wo kein Gegenstand meinen Blick trifft, kein fortschreitendes Verhältnis mich auffordert und in Anspruch nimmt, da bin ich nur mir selbst gegenüber und schaue immer nur in mein Inneres, in ein Vergangenes, Untätiges, was wahrlich zu herb wenigstens, wenn auch nicht zu schlecht der großen sich bildenden Folgen wegen für ein so zartes, leicht tonangebendes Innere war. Dies ist aber alles schon wieder vorüber mit Ihrem gestrigen Briefe. Seine Worte und die Hoffnung Sie zu sehen entbanden mir das Herz, Leben sehe ich wieder überall, wie der Sommer den Winter wegtreibt, man weiß nicht wieso, weil er da ist; man weiß nicht, wo der Winter bleibt, der vorher so wirklich da war, mit seinem Zusammenziehen, Erstarren, Dunkelheit, Trübe und Zugeschlossenheit. Sie sehen, ich habe wieder mit einem Lobe von mir geendigt. Ich kann die Furie bei Ihnen nicht untergehen lassen. Sie und diese sind mir beide zu lieb. Aber wenn ich auch oft denke, auch ihm lügst du doch, man ist nicht wahr, so bedenke ich wieder, Sie kennen mich doch und auch mein Elendestes, und ich bin aufrichtig genug zu wünschen, es möchte wahr sein. So ist es auch; denn nach und nach sage ich Ihnen ja alles, und es zeigt sich auch alles solchen Augen wie Ihren. – Harscher habe ich noch nicht gesehn – pensez!, vorgestern morgen aber Madam Herz, sehr hübsch und ganz natürlich. Sie frug mich nach Ihnen, ich sagte, Sie lebten sehr einsam, wären sehr fleißig und freuten sich auf Gerlach, sie wollte wissen, welchen; ich kannte aber die Vornamen nicht, ob Sie nicht herkommen würden, das wüßte ich nicht. Sie erzählte mir von Humboldts und Schlegels sehr einfach, und nach Gentz vergaß ich zu fragen. Wie sehr ich ihn geliebt habe, habe ich ihm gesagt; was ich ihm bin, weiß er; wie er ist, weiß ich; er hat das Bedürfnis nicht mich zu sehen; tut dazu nichts, in so langer Zeit also liegt er in meinem Heiligtume auch still, weit zurück. So kam es. Ich lieb' ihn für ewig und werde ihm auch wohl schreiben. Dank für den Anfang, ich hatte ihn vergessen. Wolf habe ich seit der Zeit nicht wieder gesehen; Sie schreiben mir göttlich über ihn, das erzähl' ich ihm. Schreiben Sie ja über A. Smith, es ist notwendig, finde ich nach Ihren Worten, die ich ganz verstehe. Er ist mehr als ein Mitregent Napoleons, ein Zeichen, Produkt und Triebrad der Zeit; was er aber treibt, muß den vorschnellen Faulen gezeigt werden. Tun Sie es ja, so lange er Ihnen noch gegenwärtig und ganz wichtig ist, ehe Sie wieder zu noch größeren Kreisen mit Ihren Gedanken kommen, und der Ihnen auch nur ein kleineres Bedingnis, eine kleinere Wirkung des großen Umschwungs aller Dinge scheint, bewegt von so Hohem, daß ein Mensch schon zufrieden sein kann, wenn er sie in sein Bewußtsein kriegt zur Ausdehnung und Bereicherung alles Denkens. Machen Sie sich den jetzigen Augenblick zu Nutze und setzen Sie ihn gleich auseinander; Sie können die Worte über ihn, die Sie mir gesandt haben, sehr gut dazu gebrauchen. Wo möglich, schaffe ich Ihnen heute noch irgendwo Fr. Schlegel. Sie sind so fleißig, wie ich Ignorant es sein sollte, aber ich gönne es Ihnen doch lieber als mir. Sprechen Sie nur von allem mit mir, ich verstehe es doch. Sie wissen es auch und tun es. Ich bin wahrlich geboren zum Ignoranten; werde ich doch auf diesem wilden Eiland, und fehlet alle Geistesspur des tätigen, sinnigen Menschengeschlechts, so sind gute Dämonen, die sich dieser Wildnis annehmen und Anspruchlose herrlich bewirten. Bei Ihrem Reichtums müssen Sie auch einen solchen wilden Park haben, wo der Dämon gar aufpassend lauert und Sie versteht; der ist mein Trost, nicht wie nichtige Nymphchen, die nicht wissen, was man will und sagt, finden Sie doch wenigstens à qui parler und können immer denken, ich habe einen Herrn besucht. Sie sehen, ich werde ganz toll. Ich verfolge Sie alle Tage in Sanssouci, aber ich bitte, legen Sie sich nicht auf kalte Steine und Stufen! Auf sandigen, sonnigen, trockenen Boden, wenn ich bitten darf! Ich habe darin mit zu sprechen. Sie haben mir auch zu befehlen. Wie gerne käme ich hinüber! Ich will mich doch bei Leuten erkundigen, die hin fahren. Ich weiß, warum Sie's wünschen, damit nicht alle Blätter schon ab seien. – Noch habe ich, es ist nach halb elf, das Landrecht nicht; ich habe hingeschickt. Als ich gestern der Frohberg und Julien die Anekdote vom sächsischen Gesellen las – denn es mußten Ihre Worte sein –, sagte Julie ganz blaß, das ist zum schaudern, man wird ganz kalt, als wie nach einer Pepermünze. Ich finde die Anekdote übernatürlich schön. So wirkt Geschichte, und ihr Wirken ist Geschichte. Seit fünfzig Jahren steht Sanssouci, und Welten haben sich umgekehrt, die Sieger es umwühlt; nun denkt der Sachse mitten im Garten, er ist nicht drin, das Lager soll erst kommen. Solche Kerle wandern noch in Deutschland umher, und in fünfzig Jahren weiß so einer erst von den Schaffwerken der jetzigen Eroberer. Und wie still macht die Anekdote! So still wird von Gemüt zu Gemüte Großes in schützender Unwissenheit bewahrt. Adieu! Sie kommen? Und ich schreibe Ihnen noch unterdes ein Stücker fünfzig bis sechszig Mal. Ihre Fr[eundin]

R. R.

Ich antworte noch nächstens über vieles aus Ihrem Brief. Leider sehe ich, kriege ich das Landrecht vom häßlichen HitzigJulius Eduard Hitzig, der Berliner Kriminalist. nicht. – Halb zwölf. Das Landrecht will nicht kommen. Der Brief muß fort, damit Sie wenigstens heute wissen, daß Sie es morgen bekommen.


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