Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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94.

Marwitz an Rahel.

P[otsdam,]d. 31t. Dezember 1812, früh acht Uhr.

Hier, liebe Freundin, grauer Weiser, frischer und abgeblühter, toter und lebendiger Meister, Prediger in der Wüste, die verlangte Sendung. Mir geht es ziemlich. Montag Abend, wie ich in den Wagen stieg, glaubte ich, daß die Fahrt nicht so unangenehm werden würde, aber sie wurde langweilig und kalt, ich schlief zuweilen ein im Wagen und wachte dann auf mit naßkalten Schauern, – eine verdrießliche Empfindung. Wie ich ankam, war es halb eins und alles kalt; vor Kälte konnte ich im Bett nicht einschlafen. Den andern Morgen hatte ich viel zu tun mit Briefen, die an mich angekommen waren; den übrigen Tag las ich in der Geschichte des Vendeekriegs. Hätte ich es nicht mir und andern dieser Tage so oft gesagt, und wäre es mir nicht dadurch trivial geworden, so würde ich hier in ein schönes und gerührtes Erstaunen ausbrechen über die tragischen Schicksale dieses Volks, über seinen ungeheuern Aufwand von Kraft und Enthusiasmus, Tugend und Frevel jeder Art, der nur in dem allgemeinen Tode sein Ende findet. Denn die Nation ist ermordet.

Am Abend ging ich zu einem Herrn von Röder, einem Offizier, der hier am besten unterrichtet ist, obwohl er es nicht sein sollte, denn er hat weder Verschwiegenheit noch ein Talent, das ihn zu einer öffentlichen Rolle fähig machen könnte. Wie ich mit ihm sprach und mir hernach das Wesen der übrigen hier überlegte, unter denen er noch ernsthaft, gründlich und verständig dasteht, wurde mir wieder unser gänzlicher Mangel an Köpfen und Charakteren schauderhaft klar. Es ist eine wunderliche und wirklich mystische Zeit, in der wir leben. Was sich den Sinnen zeigt, ist kraftlos, unfähig, ja heillos verdorben, aber es fahren Blitze durch die Gemüter, es geschehen Vorbedeutungen, es wandeln Gedanken durch die Zeit und zeigen sich wie Gespenster in mystischen Augenblicken dem tieferen Sinn, die auf eine plötzliche Umwandlung, auf eine Revolution aller Dinge deuten, wo alles Frühere so verschwunden sein wird, wie eine im Erdbeben untergegangene Erde, während die Vulkane unter entsetzlichem Ruin eine neue frische emporheben. Und der Mittelpunkt dieser Umgestaltung wird doch Deutschland sein mit seinem großen Bewußtsein, seinem noch fähigen und grade jetzt keimenden Herzen, seiner sonderbaren Jugend (ich meine die physische, unser junges Volk).

Wie man schwanken kann! Wie einem zuweilen alles klein, vernichtet, zerrieben erscheint, alle Hoheit der Gemüter, alle derbe Kraft der Geister untergegangen! Die Sonne ihres Traums, in dem sie die entsetzliche Sandebene von den Festungswerken herab sehen, scheint über die Erde zu leuchten. Und dann ist es wieder, als ob ein neuer Himmel auf eine neue Erde sich senken sollte, sobald die jetzigen Gewitter ausgetobt und die Atmosphäre gereinigt haben werden. Ist es so, so sind wir aber noch lange nicht bei den letzten Donnern. Und so ist es wohl!

Gestern die Vendee, Kopfübel am Vormittag, weil ich vorgestern tief in die Nacht hinein gelesen und es früh am Morgen, ehe ich aufstand, in der Stube geraucht hatte, ziemliche innere Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit über die öffentlichen Angelegenheiten und meine Stellung. Doch fühle ich wohl, daß mich die Zeit brauchen wird und besonders brauchen, und warte daher im Ganzen geduldig ab und bin fähig, auch in dem jetzigen geringfügigen Moment zu fassen und zu tun, was möglich ist.

Viele liebevolle Gedanken an die S[chleiermacher] diese Tage her, doch fühle ich nicht, wie es zu dem ruhigen, reinen und ungetrübten Verhältnis kommen soll, welches ich ihr und auch ihm schuldig bin. Vielleicht doch. Adieu, Fasernkenner.

A.M.

Antworten Sie mir, liebe Rahel. Lieben Sie mich noch, wie sonst? Ich glaube es nicht. Von mir wissen Sie wohl, daß nichts in der Welt meine Meinung über Sie und mein unbedingtes Vertrauen zu Ihnen ändern wird. – Gehen Sie doch zur S[chleiermacher] und zeigen Sie ihr Ihre Träume. Ich sprach mit ihr über die Tiecksche Fete. Sie ist ganz unschuldig dabei. Das nächste Mal zeige ich ihr Ihre 275 Briefe. Die Frau versteht alles, schon um meinetwillen, aber auch an sich wird sie alles würdigen und lieben. Solchen Naturen ist man jeden Genuß schuldig.


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