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[Friedersdorf,] Mittwoch, d. 31t. Aug.[=Juli]. Nachmittags sechs Uhr [1811].
Ich schreibe Ihnen, liebe R., ganz begeistert von Genelli, der eben hier war und die größten Szenen vor mir aufgeführt hat, redend, richtend, prophetisch, priesterlich. Mit mir hat er die wahrsten und scharfsinnigsten Dinge gesprochen über die Lage der Welt und unsres Staats, über die Bildung der Deutschen, Goethe, Schiller p. p. Dann ging er mit mir und der jüngsten Gräfin Fink (einem hübschen, schuldlosen Mädchen) zu einem toten Kinde meiner Schwägerin (hier ist nämlich großes Herzleid. Mein Bruder ist entfernt, das jüngste Kind ist vorgestern an Krämpfen gestorben, und das älteste, der Knabe, von dem ich Ihnen schrieb, liegt tödlich krank an der Ruhr danieder). Das Kind im Sarge lag vor uns in einem Helldunkeln grünen Zimmer; ich stand hinter dem Sarge; links von mir saß auf einem Ruhbett meine Schwägerin in Tränen, neben ihr auf der einen Seite Genelli, auf der andern stand die kleine Fink. Er sah eine Weile das Kind an, dann küßte er meiner Schwägerin mehrere Male die Hand, die er mit beiden Händen gefaßt hielt, und sagte mit tiefer Rührung und aus der innersten Überzeugung: »Dafür giebt es keinen andern Trost als Gott. Fühlen Sie, daß der ist, so lassen Sie Ihre Tränen reichlich fließen, sie werden Ihnen nicht zu Schaden kommen.« Wir gingen, ich mit ihm, in ein andres Zimmer. »Ich möchte eine Mutter sein«, hub er wieder an, tiefgerührt und mit Tränen im Auge, »nur um diesen Schmerz zu fühlen; eine solche Fülle des Herzens ist darin, sich selbst, seine eigne Seele sterben zu sehn.« Wir kamen nun auf andre Gespräche. Ich kenne keinen Mann, in dem der Kern des Menschen so ausgebildet, alles einzelne so auf die höchsten Ideen bezogen wäre, wie bei G[enelli]. Das Herz brannte mir, mit ihm über Sie zu reden, aber teils war keine Gelegenheit, teils hat er das Unbequeme, daß er mehr Reden hält, als Gespräche führt, und daher den andern oft überhört. Mit einem solchen ist schwer zu streiten, wenn man nicht eben so gute Reden halten kann, wie er. Dann versteht er mich auch oft nicht und glaubt mich wahrscheinlich viel dümmer, als ich bin.
Donnerstag, d. 1t. August, Abends neun Uhr.
Wenige Stunden, nachdem ich Ihnen diese Zeilen geschrieben, starb der Knabe, am Abend um ¼ auf 11. Der Arzt, der bei ihm war, hatte den ganzen Tag über aus grober Unwissenheit gute Hoffnungen gegeben, obgleich der Tod sich schon der Züge des Gesichts bemeistert hatte. Ich sahe das, lies mich aber täuschen durch die wiederholten Versicherungen des Mannes. Um neun Uhr kam Berends aus Frankfurt, er sagte gleich, daß der Knabe im entsetzlichsten Fieber läge, mir, daß er agonisiere. Wie soll ich Ihnen die Szene beschreiben, die hierauf folgte? Die Mutter, der nun mit einem Male die fürchterliche Bedeutung der Züge offenbar wurde, die über ihn gebeugt verzweifelnd das fliehende Leben aufhalten wollte. Noch immer höre ich ihren Ruf: Ach mein Rudolph, wie siehst du aus? Bleib' bei mir, mein Kind; dies in dem Tone, als ob ein Beil ihr durch die Seele schnitte. Der Knabe, der nun anfing zu röcheln, in der Brust kochte es ihm wie siedendes Wasser im Kessel (haben Sie dieses Entsetzliche je gehört?). So eine halbe Stunde, dann starb er. Nun ging Berends, nachdem er ein paar edle starke, aber wohltätige Worte zu meiner Schwägerin gesprochen. Sie blieb sitzen zu den Häupten des toten Kindes; ich stumm neben ihr, hatte sie bei der Hand gefaßt; zu den Füßen des Kindes saß Karoline Fink, die Vestalengestalt, still weinend. Das dauerte bis 1 Uhr nach Mitternacht. Nun legte sich die Mutter nieder, ich ging zu Bett, hatte aber bis drei Uhr mit einem Gedankenfieber zu kämpfen, dann schlief ich ein. Um fünf Uhr Morgens trat mein Bruder in mein Zimmer. Er kam aus Spandau, wohin ich zu ihm geschickt hatte nach dem Tode des jüngsten Kindes, und wo man ihn hierauf freigelassen. Er hatte den Knaben sehr geliebt und mit Recht viel von ihm gehofft, und wie gewaltig er sich erweichen kann ungeachtet seiner großen Strenge, habe ich Ihnen ja wohl gesagt. Alle Glieder zitterten ihm, wie nach dem Tode seiner ersten Frau. Wie der übrige Tag bald in stummer, bald in gesprächiger Trauer verging, wie wir das tote Kind besuchten, das unentstellt in schuldloser Ruhe zwischen Blumen mit einem Asternkranz auf dem Haupte vor uns lag, das kann ich Ihnen nicht weiter beschreiben.
Sonntag, d. 4t. August 1811.
Noch manches wollte ich Ihnen aus diesen feierlichen Tagen erzählen, besonders von Gedanken, die ich gehabt, aber ich bin aus der Stimmung.
Warum schreiben Sie mir nicht, Ihr letzter Brief ist vom 24t. Juni. Unterdes habe ich Ihnen durch Fichte eine weitläuftige Antwort zugesandt, die zwar durch Winterfelds Nachlässigkeit eine Weile aufgehalten worden ist, die Sie aber doch wenigstens seit drei Wochen haben müssen. Und nun muß ich Ihnen den zweiten Brief schreiben, das ist unbequem, denn in solchen Briefen, in denen man nicht das bestimmte Wort, die individuelle Situation des andern vor sich hat, redet man doch immer halb ins Leere hinein. Darum wird es mir so schwer, an jemand zuerst zu schreiben. Wie leben Sie? Ist Varnhagen noch bei Ihnen? Was macht die sinnlose F[rohberg ]? Der bequeme, liebenswürdige Herzog von Weimar? Hat er schon einmal ohne Maß vor Ihnen radottiert? Ist Goethe da? Kommt er? Aus den Zeitungen sehe ich, daß LigneKarl Joseph Fürst von Ligne, ebenso bekannt als österreichischer Feldmarschall, wie als geistreicher Schriftsteller und interessanter Unterhalter. Eine nähere Bekanntschaft, der auch ein Briefwechsel folgte, entspann sich zwischen ihm und Rahel 1811 in Teplitz. nicht da ist. Das ist doch eine Entbehrung, denn ungeachtet seiner grauen Torheit, seiner ekelhaften Jugendlichkeit ist er doch ein merkwürdiges Stück. Wollte er nicht den jungen spielen und wäre er daher nicht immer zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt, so müßte er interessant und angenehm erzählen können, doch muß er durch geschickte Behandlung auch dahin zu bringen sein. Nun, und ich Esel frage nach der Hauptsache nicht. Ist die Pauline da? Über die ein Meer von Erzählungen, wenn sie da ist. Ich bin gesund und fleißig, nur in den letzten Tagen habe ich leere Momente gehabt, weil es mir nun an Büchern fehlt, ungeachtet ich nach Berlin dringend geschrieben, daß man mir welche schicke; und man schickt keine! – eine Art von Mord! Wie schaal ist dieser Brief, wie schaal sind alle. Man schneidet willkürlich ein paar arme Stimmungen, ein paar Begebenheiten aus seinem Leben heraus, und das Meer, das ewig in einem und um einem wogt, das muß man allein ertragen. Kommen Sie wieder nach Berlin, liebe Rahel? Ich war vor vier Wochen in Ihrem Quartier, wo ich Line traf. Die sagte mir, Sie behielten es. Mein Bruder verreist auf acht Tage. So wie er zurückkommt, gehe ich nach Potsdam. Adieu, liebe. Ich muß der Post wegen schließen. Adressieren Sie Ihren nächsten Brief an Herrn Referendarius von Winterfeld I (Krausenstraße Nr. 37).
A.M.
Ich habe wieder eine wahre Angst für diese Blätter. Sie sollen mit der Post gehn. Werden Sie sie erhalten? Fragen Sie doch Rühle, ob er Brief, Hefte und Geld erhalten hat.
Hans Genelli, geb. 1763, widmete sich dem Studium der Baukunst, brachte es aber darin nicht zu besonderer Bedeutung. Er lebte bei dem Grafen von Finckenstein in Madlitz, wo er auch 1823 starb. – Rudolf und Elisabeth von der Marwitz, die Kinder Friedrichs v. d. M. starben nach kurzer Krankheit, während der Gefangenschaft des letzteren in Spandau. – Berends ist der Arzt, der aus Frankfurt zu den Kranken geholt worden war. – Karoline Finck von Finckenstein, Schwester des Grafen Karl, mit dem Rahel verlobt war. – Fichte war Professor an der neu gegründeten Universität Berlin: Marwitz war durch Rahel zu dessen Vorlesungen geführt worden und kam dann durch dieselbe in näheren Verkehr.