Rahel Varnhagen von Ense
Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen
Rahel Varnhagen von Ense

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56.

Rahel an Marwitz.

Freitag Mittag halb vier Uhr, d. 26t. Dezember 1811.

Die Götter wollen es, Sie sehen es, daß ich gleich schreibe. Als Sie gestern zur Tür hinaus waren, kämpft' ich zwischen Schlafbedürfnis und Neugier V[arnhagens] Brief durchzusehn, und finde Goethens. Sprechen Sie einmal mit! Ich freue mich unsäglich, daß es ihn freut, denn das zeigt sein Brief. G. bin ich, das wußt' ich nicht, und es war mir dadurch nur noch deguisierter, weil in V[arnhagen]s letztem Brief stand, G. nur sei aus einer Stadt, die er durch Hamburg verberge. Varnhagens Brief wird Ihnen gefallen. Ich habe ihm gestern Nacht sogleich einige Zeilen geschrieben, in denen ich ihn bat ja Goethen Zeit zu lassen und es ganz ihm anheimzustellen. Der denkt gewiß etwas Schickliches aus. So sehr mich das Ereignis freut, mir und meinem Herzen schmeichelt, so ist es mir doch äußerst leid, daß Goethe nun sehen muß, welche durchaus nichts bedeutende Person dies G. in Welt und Literatur ist, und obgleich er wohl nie daran gedacht hat, so wird's ihm nicht neu sein, daß ich ihn so liebe, und in der Zahl seiner Wohlwollenden geht ihm nun eine ab. Jedoch hab' ich Varnhagen geschrieben, er soll ihm nicht einen Augenblick länger raten lassen; es ist mir unerträglich, Goethe vor einem Rätsel zu wissen. Wüßte doch dieser Fürst unter Menschen, wie sehr er geliebt wird, könnte er doch z. B. unsere unschuldigen Gespräche hören, lesen, was Sie mir schreiben! Ich finde den Brief an Varnhagen über jede Erwartung freundlich, zutunlich und herablassend, einlassend. Erkennen Sie seine lieben Worte? Sie schicken mir sogleich den Brief zurück. Mich freut's rasend!

Um halb zwölf bin ich nach einer Hundenacht aufgestanden, Meyer und Hanne schon vor meinem Bett. Kaum war ich in die Anziehstube, so meldet man mir Madam Schleiermacher. Sie war mir so lieb, daß ich als monstre vor sie trat. Sie war freundlich und gut; wir sprachen von den Bekannten, den Freunden, von Ihnen. Ich finde, sie wird immer bestimmter, fester, regierender. Ich beneidete sie sehr, nicht um ihr Schicksal, ihre Lage; wir sind unser Schicksal. Aber dies beneidete ich ihr, sie hat die einzige Eigenschaft, die mir fehlt und ohne welche ich nichts bin, und die, welche ich habe, zu nichts werden. Sie herrscht in sich, über andere und über alles um sich her in sicherer, bestimmter, heiterer Wahl, die so schön kleidet, so glänzend macht, daß es sich wie coqueterie ausdrückt und Anmut ist. So wühlen auch ihre Augen allein umher außer der gemeinen Welt; sie ist nicht beleidigt, nicht betastet vom Gemeinen; auf einem hohen Königsthron ist sie weit darüber, und Freude begleitet eigentlich den feinspähenden Blick. So viel für heute. Ich muß essen, schlafen und Frau von Crayen (und einige) um halb – denken Sie – sieben empfangen. Ihre arme, schläfrige, einsichtige, ballotierte Furie. Die Nachricht vom Tod des Kindes gleich hinter Goethe. Adieu.

R. R.

Ich antwortete, nämlich ich schrieb Josephinen Pachta gleich in Varnhagens Brief. Mut hat sie eigentlich, die Schleiermacher.

Varnhagen macht zu dem Briefe von Goethe folgende Anmerkung: »Cotta hatte gewünscht, daß einige vorzüglich Goethen betreffende Briefstellen, bevor sie gedruckt würden, zu Goethes Kenntnis gelangen möchten. Sie waren demnach von mir zugesandt worden. Rahels Name war durch G. bezeichnet.« Goethe schreibt in seinem Briefe vom 10. Dezember über Rahel: »G. ist eine merkwürdige, auffassende, vereinende, nachhelfende, supplierende Natur ... sie hat den Gegenstand, und insofern sie ihn nicht besitzt, geht er sie nichts an ...« – Josephine Gräfin von Pachta, geb. Gräfin Canal-Malabaila, durch Schönheit und Wissen in der Wiener Gesellschaft berühmt, später durch widrige Schicksale verfolgt, starb 1834.


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