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Die Monate zogen ihre wechselnden Kleider über das Kortümgelände. Im Oktobergold strahlte die Landschaft, troff von Regen im späten Herbst, schneite ein, grüne Knospenpunkte bestickten die braune Erde, das Grüne blätterte auf, quoll in duftender Breite aus der Ackerkrume, zitterte lechzend im Sonnenlicht.
Das Lohberghaus hallte wider von Stimmen lufthungriger Urlauber. Im Sanatorium erholten sich Gäste, die es bezahlen konnten. Langloff ließ sich wenig blicken. Lotte wirkte von früh bis spät. Die Blumen an Kortüms Grab strahlten in lachenden Farben. Von dem Inhaber dieser Stätte, von Friedrich Joachim Kortüm, war trotz emsigen Forschens nicht mehr zu sehen, als man von Grundbesitzern solcher Art auch sonst zu erblicken vermag. Kortüm blieb unsichtbar. Seine Abwesenheit durfte immer zuverlässiger als dauerndes Verschwundensein betrachtet werden. Aber die sehr erwünschte Ruhe, welche sogar Mickewitz als das beste Heilmittel für erholungsuchende Gäste bezeichnete, kehrte damit leider nicht im Schottengelände ein. Eigentlich war es hier nicht viel anders als in der Zeit, da Kortüm noch in Person regierte: jeden Augenblick kann etwas Unerwartetes geschehen – ja, es mußte etwas geschehen! »Hat man etwas erfahren?« war die ewige Frage. Im dunklen Gebüsch schwankten Zweige; der späte Wanderer schauerte zusammen. Erhob sich da im Halbdunkel der tote Kortüm? Wer seinen Mitgast im tiefen Walde traf, sagte nicht mehr lobend: »Wunderbar einsamer Weg«, sondern sah sich um und sprach: »Nun, bisher ohne Bedenken.« Mancher kam wohl aus Neugierde in das nun weitberühmte Schottengelände, aber wenn er die Koffer ausgepackt, die ersten Spaziergänge gemacht und die ersten Fragen gestellt hatte, wollte er selbstverständlich neben gutem Essen nunmehr Ruhe haben. Die Urlauber auf dem Lohberghaus brachten die Wirtin in keine solchen Verlegenheiten. Ihre Nerven waren unverbraucht. Sie hätten viel darum gegeben, dem Toten einmal zu begegnen im Walde. Das glückte keinem. Als Entschädigung beteiligten sie sich an der Vermehrung der Kortümgeschichten, mit denen schon die Einwohner allein die Direktion des Sanatoriums zur Verzweiflung brachten.
739 Elvira Stichling wohnte in diesem Sommer im Flügelhaus, gewissermaßen als Halbgast. Frau Langloff hatte sie dringend gebeten, die guten Wochen der Saison in ihrem Hause zuzubringen und nach dem Rechten zu sehen, da die jetzige Wirtschafterin, die Wissel, seit jener furchtbaren Kortümnacht ganz verdreht und unzuverlässig war. Nun wohnte Elvira zwar umsonst, aber ohne ihren Gatten in dieser schönen Gegend. Der Urlaub des Amtsschössers begann diesmal erst Mitte August.
Keiner hatte mehr Grund, den Kortüm zu fürchten, als Elvira; sie hatte Kortüm sich verdoppeln sehen auf dem Maskenfest, sie war dabei in jener Nacht im Konversationsraum, als er eine große Gesellschaft bezauberte mit seinen Geschichten. »Hier ruht Friedrich Joachim Kortüm«, versicherte ihr der Grabstein an der Hauswand: jawohl! Elvira kannte den Kortüm! Jeden Augenblick war sie seiner gewärtig.
Zweimal hatte Elvira das Zimmer gewechselt, weil etwas knackte. Jetzt wohnte sie im ersten Stock. Nebenan lag die kleine Kammer, in der das Zimmermädchen Mariechen schlief, welches den Nachtdienst versah. Hier fühlte sich Elvira sicherer. Aber es knackte erst recht. Einmal gab es sogar einen Polterschlag, als ob ein Mensch längelang ins Zimmer gefallen wäre. Unheimlicherweise hatte Mariechen nicht das geringste Geräusch gehört. Lange saß Elvira wach in ihrem Bett. Wodtke aber, der das unter Elviras Kammer liegende Zimmer bewohnte, tat in dieser Nacht überhaupt kein Auge zu. Beim Abendessen war Wodtke eine Kleinigkeit über das erlaubte Maß hinausgegangen. Er nahm Tropfen und konnte trotzdem nicht schlafen. Wehmütig gedachte er der köstlichen Kortümschen Geflügelpasteten, die leicht waren wie ein lieblicher Gedanke. Wo sind diese Pasteten hin! Da geschah etwas – in dieser Kortümgegend geschah immer etwas: oben, gleich unter der Gardinenstange, erschien auf dem weißen Vorhang ein Schattenbild – Fußzehen, Füße, Beine kamen herab, es flatterte etwas – lautlos schwebte eine Gestalt hernieder – verschwand – Wodtke blieb erstarrt liegen, nur den dicken runden Kopf erhob er mit Kraft vom Kissen, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Lange lag er so. Dann stand er leise auf, schlich ans Fenster, horchte, lugte durch den Vorhangspalt. Er riß plötzlich den Vorhang auf, schloß ihn ebenso rasch wieder, horchte. Alles blieb still. Jetzt erst begann er vorsichtig den Vorhang wirklich zu öffnen; nichts war zu sehen. Das klare Mondlicht lag breit und silbern glitzernd auf dem Land.
Wodtke schüttelte den Kopf; was er gesehen hatte in dieser Nacht 740 vom Sonnabend zum Sonntag, hatte er gesehen. Mit seinen Augen! Niemand, der Nachtwächter nicht, Mariechen nicht, konnte ergründen, wer geschwebt war in dieser Nacht. Als dem Doktor Langloff nun das allerneuste Gerücht zu Ohren kam, Kortüm wohne heimlich in einer abgelegenen Kammer des Ostflügels, erklärte er in scharfen Worten, sein Sanatorium sei ein auf wissenschaftlicher Grundlage ruhendes modernes Institut und beherberge keine Abwesenden. Am anderen Morgen hatte Wodtke einsilbig neben seiner Schwester gesessen, gefrühstückt und wiederholt auf die Uhr gesehen.
»Emilie, sage mal, was meinst 'n du, wenn wir heute morgen 'n bißchen so nach Besenroda zu gingen? Durch die Anlagen, ja? So nach der Kirche hin, wie? Oder auch mal in die Kirche, du?«
Emilie hörte auf zu kauen und sah ihren Bruder sprachlos an.
»Ich meine bloß, weißt du? Der Pastor in Besenroda soll gar nicht schlecht predigen. Warum guckste'n so? Wieso denn? Ich zahle doch auch meine Kirchensteuer. Alles können die Ärzte auch nicht machen. Nee nee. Weshalb soll ich denn nich mal in die Kirche gehen? Selbstverständlich gehe ich in die Kirche, wenn mir das paßt.«
Es geschah. Geschwister Wodtke gingen in die Kirche.
Auf dem Wege sprach Wodtke: »Als er da war, hat's gespukt.«
»Vom wem redest du, Udo?«
»Na, von wem! Von Kortüm. Da spukte es. Weißt du noch, das Erdbeben? Un nu is er fort, un 's spukt erst recht. In diese Gegend komme ich nich noch einmal. Nee. Ich nich. Udo Wodtke nich!«
Arcularius predigte jetzt in Kranichstedt. Er sah die Wodtkes nicht sitzen und beten und singen. Keine Ahnung hatte er von diesen verwickelten Zusammenhängen: allgemeine Kortümunruhe, Polterschlag in Mariechens Kammer, Wodtkes Vision, Kirchgang . . . »O Kortüm!« hätte Arcularius nach der Kirche gesagt, die Kortümsche Grabrede wieder einmal aus dem Schubfach geholt und sich lesend und meditierend im Sessel zurechtgerückt: »O Kortüm, deine Physik buk den Gästen Pasteten, aber deine Metaphysik drückt ihnen das Gesangbuch in die Hand.«
Ein Sonnenstrahl fiel durch die farbigen Fenster der Besenröder Kirche auf die soliden glaubwürdigen Grabsteine an der Chorwand, der Organist spielte, die Gemeinde sang, und Wodtke betete, daß doch alles rechtens zugehen möge auf Erden – ein weitverbreitetes Gebet. Der Präfekt von Clerval richtete seine Augen nicht weniger erschrocken nach oben, wo die Physiker ein treffliches Gewebe silbern schimmernder 741 fliegender Maschinen zwischen die Metaphysiker und den Himmel gesponnen habe; Mr. Smith, dem jene dunkle Notiz der »Bengali News« bis in seine heiligsten interests gefahren war, blickte gleichermaßen hilfesuchend nach oben, wo die Imperial Airways Ltd. wohnt: möge es rechtens zugehen auf Erden. Und der Konsularbeamte Lister folgte dem Leuchtschild an der Stirnwand seiner Flugkabine – »Bitte anschnallen« – mit einem Seufzer der Erleichterung, ließ den Schlauch der Zusatzluft los, tastete nach den Lederriemen: »Stickig heiß, und unsereiner muß in der Luft herumfliegen, damit es in den interests rechtens zugehe.«
Er hatte viel Mühe, Notizen über einen angeblich toten Deutschen zu sammeln. Als er zum Schluß die wenigen zuverlässigen Erkundungen in seinem Büchlein überflog, konnte er nur von zwei deutschen Reisenden sprechen, die angeblich noch weiter ostwärts gegangen waren, um das Grab eines dritten Deutschen zu suchen, eines gewissen Missionars Haupt, der ebenfalls hier durchgekommen wäre, vor langer Zeit aber, vor dreißig Jahren angeblich. Das wenige Neue, was Lister notieren konnte, war die Feststellung, daß sich der Fall nicht um breath zu drehen scheine, sondern um tomb. Breath and tomb – wie reimt sich das: Puste und Grab? Aber Mr. Lister war froh, überhaupt wieder europäischen Boden in Gestalt von läuferbelegtem Aluminium unter den Füßen zu haben und ein unnützes Aktenstück mehr zu dem übrigen legen zu können.
Der Rückflug dauerte länger. Über einer Falte klotzigen Gefelses faßten Böen die Maschine. Der schwarze Dickkopf draußen vor dem Kabinenfenster senkte sich, stieg. Die Maschine flog an dem Gebirgsstock hin. Von Süden her trieb kobaltblauer Duft gegen die Sonne, die weit in der Ferne ein Häuflein weißer Hauspunkte aufglänzen ließ. Da ist der wunderbare blaue Duft heran; die Maschine schwankt und stampft. Ein paar Augenblicke zerreißt das stahlgraue Gewölk unter ihnen. Die Schleife eines ockerroten Flusses wird in der Tiefe sichtbar. In fahlem Licht erglänzen messerscharf die kahlen Felsen, an denen das Flugzeug entlangfliegt. Das Gewölk zieht die Wand rasch wieder zu, und die Maschine braust nun an einem Gewitter hin, das zwischen ihr und der Felswand in gleicher Richtung wie das Flugzeug vorwärtsjagt, eine gießende Regenwolke, in der gelbe Blitze herumzucken. Mit höchster Kraft fährt die Maschine, aber das Gewitter hält das Rennen. Blitzend wälzt der Wolkenballen nebenher. Da steht plötzlich vor der tiefgrauen Wolke ein ungeheurer flacher Regenbogen, die Maschine 742 scheint in seiner Scheitelhöhe zu fliegen. Um den strahlenden Bogen bildet sich der zweite. Gebannt hängen Listers Augen an diesem Farbenspiel. Die Maschine rast vorwärts – wir müssen den herrlichen Bogen gleich zurückgelassen, verloren haben. Nein! Der Bogen wandert mit. Unten in der Tiefe erscheint wieder der rote Fluß, schon breiter jetzt. Ein Dorf. Eine Brücke. Der Fuß des Regenbogens zieht flimmernd bunt über den Fluß, das Dorf, die Brücke; der strahlende Doppelbogen weht so schnell dahin wie die zitternde Maschine.
Der Bogen Gottes steht nicht über der Erde; wir sehen ihn nur stehen, wenn wir ruhen. Wie wir wandern, wandert er mit, Verheißung des Friedens seit Sintflutzeiten. Die Verheißung ist nicht gegründet in diese Erde. Wir sehen sie bloß gegründet, und wie wir gehen, geht sie mit: vergoldend, rubinenflimmernd, überblauend, grünend wie die Saaten.
»Bitte anschnallen«, sagt die Lichtscheibe an der Wand der schwankenden, von Böen geschüttelten Maschine. Sie schwenkt links ein. Regenflut prasselt gegen die Scheiben, die Flügel neigen sich: eine baumlos kahle Stadt Asiens, in eine sanfte, baumlos kahle Kalkschale gelehnt, ein Feld mit Fähnchen, Dächer . . . landen – – –
Die Besenröder Kirchtür geht auf. Dröhnend braust das Orgelnachspiel in das sommerheiß ruhende Thüringer Sonntagsnest.
»Du, Emilie – ich lasse mich mal verbrennen.«
»Udo!«
»Sicher is sicher, Emilie.«