Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Herrenloses Land

Zwei Wirte zugleich im Schottengelände haben schwer regieren, denn die Gäste konnten Herrn Kortüm ersuchen, doch gelegentlich den neunundzwanziger Bordeaux bei Langloff zu kosten: der sei um fünfunddreißig Pfennige billiger. Und Elvira fand auf einer ihrer Speisekarten neben dem Angebot »Grießschmarren eine Mark zehn« die von unbekannter Hand mit Bleistift geschriebene Anmerkung: »Vergleiche Echostube – um gleichen Preis Kaiserschmarren!«

Aber gar kein Wirt im Schottengelände, mitten in der Hauptsaison, das ist noch schlimmer. Sanatorium, Echostube, Lohberghaus standen, wenn auch voraussichtlich nur für einige Tage, plötzlich verwaist. Die Regierungsgewalt lag drüben in den Händen der Frau 598 Mimi Langloff und des Fräulein Elvira und hüben in denen Lottes. Der Kampf drehte sich also mit einem Male nicht mehr um Ideen, sondern um Dinge. Männer verlieren bei Feindseligkeiten die allgemeinen Gesichtspunkte nicht aus den Augen und haben oft unerwartete mildernde Einfälle, welche die Waffen abstumpfen. Lotte jedoch und Elvira ließen sich weder auf Gesichtspunkte ein, noch schlugen sie in ihren hineilenden Gedanken plötzlich den bekannten männlichen Winkel, der beim von Hunden verfolgten Hasen »Haken« genannt wird. Lotte und Elvira standen jetzt noch eine Stunde früher auf, heizten ihre Küchenherde an und zeigten einander vom ersten Frühstück bis zum letzten kleinen Mitternachtshappen, was sie konnten: »Die da drüben soll ja nicht denken, daß es ohne 'n Herrn nicht geht.« Und – wahrhaftig, es ging herrlich! Die Gäste lebten im Paradiese. Schwerste Anforderungen mußten sie an ihre Verdauungskräfte stellen. Früher speisten sie »mal hier, mal da«. Jetzt nahmen sie erst Lottes Hauptgericht zu sich und anschließend Elviras Spezialplatte. Selbst ein Gast wie Wodtke, der unter Doktor Langloffs Aufsicht eine dringen nötige Abmagerungskur im Sanatorium vollzog, konnte solchem Wohlgeschmack bei solcher Preiswürdigkeit nicht widerstehen: Wodtke blickt seitwärts, wenn er an der Personenwaage vorbeikam.

Vorgestern früh hatte Doktor Langloff mit seinem Handköfferchen auf dem Bahnsteig gestanden und den Achtuhrzug erwartet. Kurz vor dem Achtuhrzug lief jedoch, ebenfalls mit einem Handköfferchen versehen, Herr Kortüm ein.

»Ah.«

»Ah.«

Das war doch für beide eine Beruhigung: der Kerl verreist auch, dachten beide.

»Ein betrübender Anlaß für mich«, sprach Herr Kortüm gemessen.

Langloff seufzte.

»Auch für Sie, Herr Doktor?«

»Mein Vater ist erkrankt. Keine ernsten Bedenken, hoffe ich. Aber es ist besser, man sieht gleich nach dem Rechten.«

»Unbedingt ist das besser. Bei den Jahren des Herrn Kapitäns ist Vorsicht geboten. Bleiben Sie so lange als möglich an seinem Krankenlager.«

Das könnte dir passen, dachte Langloff und fragte: »Gedenken Sie längere Zeit zu verreisen, Herr Kortüm?«

»Mich veranlaßt leider ein Todesfall, mein Haus für einige Tage zu verlassen.«

599 »Oh . . .«

»Ja. Das Ereignis geht mir nach.«

»Darf man fragen –«

Aber da lief der Zug ein. Langloff suchte ein Nichtraucherabteil; Kortüm reiste grundsätzlich »Raucher«, seit die Reichsbahn die Frauenabteile abgeschafft hat.

»Gute Besserung für Ihren Herrn Vater!« rief Herr Kortüm.

»Gleichfalls gute Besserung!« antwortete Langloff eilig, der schon zwei Abteile voll besetzt gefunden hatte und nun die dritte Türe aufriß.

»Besserung?« murmelte Kortüm und sah dem Doktor nach. »Wem? Mir?«

Aber er mußte sich beeilen.

»'n bißchen los!« sagte der Schaffner und half ihm einsteigen.

Herr Kortüm traf es gut. In der Ecke des Abteils saß eine Dampfwolke und in dieser Wolke ein Forstmann, der Kortüm sofort Feuer anbot. Herr Kortüm rauchte Brasil, der Förster jedoch eine von leichter Sumatradecke verhüllte Pfälzer Einlage. Kortüm rauchte stark, um den Pfälzer niederzurauchen. Es gelang ihm nach der dritten Haltestelle. Der Förster probierte gern einmal eine der angebotenen Brasilzigarren. Nachdem Kortüm solchermaßen die Einheitlichkeit der Doppelwolke hergestellt hatte, begann er ein Gespräch.

Der Förster reiste zur Jagdausstellung nach Berlin und vernahm mit Interesse, daß Herr Kortüm zu einer Auktion führe: »Kein Spaß so was. Verdammt nochmal. Kenn ich von den Holzauktionen. 'n ganzen Tag stehen und aufpassen. Vorne wird auktioniert und hinten gestohlen. Auktioniert der Herr auch im Freien?«

Herr Kortüm schüttelte den Kopf: »Hausrat. Todesfall.«

»Oh – kondoliere. Kondoliere bestens.«

»Danke. Schmerzlich. Ganz überraschend teilt mir das Gericht mit, daß ich Universalerbe bin.«

»Ach so – haha. Gratuliere. Gratuliere bestens!«

Aber Kortüm wies mit einer vornehmen Handbewegung die Erbfreudigkeit von sich: »Ach – erben . . .«

Der Förster nahm die Zigarre aus dem Munde, zog die Stirn in unzählige Falten, hob den Zeigefinger und sprach abermals: »Ach so!« Er glaubte jetzt den sonst unverständlichen schmerzlichen Ausdruck im Gesicht seines Reisegefährten zu verstehen: »Verpflichtungen ohne Positivum dahinter? Ablehnen, sage ich dem Herrn. Rundweg ›Nee-Danke‹ sagen. Ich habe mal 'n Hund geerbt. 'n Hühnerhund. Schönes 600 Tier. Und als ich ihn hatte, zeigte sich's, daß die Steuer von einem Jahr nicht bezahlt war. Kann ja heute nicht mehr vorkommen, Gott sei Dank. Jetzt wird man eine Woche nach dem Termin gepfändet. Aber damals hatte man's noch nicht so gut. Da erbte man, und dann kam ein Brief vom Vater Staat: ›Sie werden hiermit nochmals erinnert, daß die Hundesteuer des vergangenen Jahres‹ – na ja. Ohne Positivum – bloß Nee-Danke sagen.«

»Von all diesen Dingen«, sagte Kortüm, »weiß ich vorläufig noch gar nichts Näheres. Die Hinterlassenschaft ist mir nicht sehr wichtig. Aber sie selbst, die alte Dame . . .«

»Wie alt, wenn ich fragen darf?«

»Hoch siebzig.«

»Nu – da kann man nichts gegen sagen.«

»Doch. Man kann. Man kann viel sagen! Es ist nicht wahr, daß niemand unersetzlich ist.«

»Ich habe je bloß . . .«, begann der Förster.

»Auch ich, Herr Förster, wollte nur sagen: kein guter Mensch ist ersetzlich. Die alte Dame war meine Freundin. Wenn Sie das Glück gehabt hätten, sie zu kennen –«

»Wie hieß sie denn?«

»Erdmuthe Haupt. In der Umgebung von Memleben nannten sie die Leute das alte Pastorfräulein. Sie stirbt. Und ich weiß nichts davon. Sie wird begraben. Und ich war nicht dabei.«

»Kommt vor«, tröstete der Förster. »Wenn einer zuletzt noch ganz allein dasteht im Leben. Das Fräulein hat gar keinen Verwandten mehr gehabt?«

»Einen Bruder. Einen gewissen Missionar Ernst Haupt. Der lebte in der Gegend um den Pamir herum, wissen Sie?«

»Und Sie treten nu als Universalerbe auf? Ob Sie da nicht besser gleich mitm Rechtsanwalt gereist wären?«

»Der Missionar ist seit zwanzig Jahren verschollen.«

»Hm. Dann is die Sache klar – nee, nich klar! In Erbschaftsachen ist noch nie was klar gewesen. Ich würde doch –«

Herr Kortüm hörte die Ratschläge nicht mehr. Er ließ seinen Reisegefährten reden und nickte nur von Zeit zu Zeit. Kortüm sah Erdmuthe Haupt im Geiste. Ja, die war nun auch tot. Der Förster bemerkte die Versunkenheit Kortüms und sagte: »Je, wenn der Mensch sich mitm andern so zusammengelebt hat, jahrelang –«

»Sie war mein Gast«, murmelte Kortüm.

601 »Ach bloß so zu Besuch?« Der fremde Brasilraucher wurde für den Forstmann immer rätselhafter.

»Ich bin Gastwirt«, sprach Kortüm und neigte leicht den Kopf: »Kortüm«.

»Rab, Revierförster Rab . . . sagen Sie mal – Kortüm? Herr Kortüm? Sind Sie das, der im Buchenschlag Oberilm die Wege angelegt hat? Gegen die 's Forstamt damals Einspruch erhob? 'n Goetheweg und – und –«

»Und den Wolframweg.«

»Verflucht nochmal – die Brasil des Herrn ist gut, aber die Wege sind nicht gut.«

»Bitte?«

»Nee. Dort gehörn keine Fremden hin. Durch die neue Schottenstraße ist das Hochwild grade genug beunruhigt.«

»Meine Gäste auch.« Kortüm legte dem Förster eingehend die Notwendigkeit der beiden neuen Pfade dar, erzählte dem erstaunten Mann, was es alles für Gäste auf Erden gibt und schloß: »Leute, welche diese beiden Wege gehen, stören nicht. Sie können nur gestört werden. Denn sie benehmen sich ebenso wie Ihr Wild. Hochwild und, wenn ich so sagen darf, Hochgäste müssen geschützt werden. Naturschutz. Von Reichs wegen Naturschutz, Herr Förster! Sonst wird eines Tages Denkmalsschutz notwendig für sie. Und das wäre doch sehr traurig. Ich verstehe mich auf Denkmalspflege. Ich besitze ein Museum. Es wäre wirklich betrübend, wenn solche Gäste nur noch als numerierte Fragmente – Fragment heißt soviel wie Scherben – nur noch als Scherben und in Museen vorkämen. Nein nein: meine Wege sind gut. Auch für das Wild. Sie zeigen Ihrem Wild den Menschen in der Form, wie er wahrscheinlich am sechsten Schöpfungstage gedacht war.«

Rab und Kortüm hatten beim Abschied ihre eigenen Gedanken. Der Revierförster war zu seinem grenzenlosen Erstaunen mit einem Herrn gereist, der es für möglich hielt, daß Menschen auf Sechzehnender einen guten Eindruck machen – freilich, dieser Herr begab sich zu einer Auktion in der Eigenschaft als Universalerbe: in solcher Lage finden die Leute manchmal für das, was sie sagen wollen, nicht die richtigen Worte.

Kortüm aber schritt langsam durch Memleben und dachte an Erdmuthe Haupt. Er machte ihr seinen Besuch auf dem Friedhof und begrüßte dann König Heinrich, von dem bei diesem sonnenwarmen Wetter ebenfalls wenig zu sehen war. Kortüm nickte seufzend: »Es ist so. Wir bedürfen des Unwetters, um uns darzustellen.«

602 Die weiteren Besuche liefen für den Universalerben nicht so glimpflich ab. Er fand im übrigen die Menschen und die Akten in voller Wirksamkeit an ihrem Platz. Am anderen Tage mußte Kortüm sogar nach der Hauptstadt fahren, um mit Hilfe eines Rechtsanwalts sehr verwickelte Geschäfte mühsam aufzuknoten. Erdmuthe Haupt hatte Herrn Kortüm zum Erben ihrer Hinterlassenschaft eingesetzt, aber dem Testament einen Nachsatz angehängt:

»Gewiß lebt der Mensch, um bald oder erst an einem äußersten Punkt der Zeit vergessen zu sein. Aber der Mensch wäre wirklich ein Staub, wenn er selber zu vergessen vermöchte, so lange er lebt, und da die Summe der Zeit nicht Ewigkeit heißen dürfte, wenn ein Tag, eine einzige Sekunde verloren gehen könnte und fehlen, so müssen wir im Zusammenhang das Leben erkennen. Was ich vermag, soll denn getan sein, daß mein Bruder unvergessen bleibt. Weil ich nun über Ernst Haupts irdisches Verbleiben keine zuverlässige Kunde erhalten konnte und es doch den Jahren nach möglich ist, daß er noch lebt, habe ich nicht über mich gebracht, ihm auf dem Friedhof einen Denkstein setzen zu lassen: so hinterlasse ich denn meinem Erben meine Erinnerung und bestimme, daß er aus meiner und meines Bruders Hinterlassenschaft dem Missionar Ernst Haupt neben unseren Gräbern auf dem Friedhof zu Memleben einen Stein errichtet, sofern auch die Bemühungen meines Erben, Ernst Haupts Aufenthalt zu ermitteln, erfolglos bleiben. Unter seinem Namen soll in den Stein gemeißelt werden: Geboren am zwölften Dezember 1866, als evangelischer Missionar nach Kaschgar gegangen im Jahre 1895, verschollen seit 1919. Alsdann soll mein Erbe den folgenden Vers nach dem Evangelium Johannis, Kapitel vierzehn, Vers zwei, in den Stein graben lassen: für den Toten spricht der Denkstein:

Lebendig gewesen bin ich,
Beweglich durchfeuchtet wie du,
Der grübelnd die Inschrift entziffert.
Zu steinern Kristall nun gewandelt
Erkennst du mich schwer im Kristallschlaf –
Doch küßt du den Stein, grüßt du mich.
Geduld, Freund! Den Zeitlauf durchwechselnd
Begegnet mein Wesen dir wieder:
Erwacht und sich mehrend im Saft
Der wandelnden Wirklichkeit Gott.«

603 Dies waren also die letzten Worte des alten Pastorfräuleins. Herr Kortüm nahm die fromme Bitte in sein Herz auf und sprach: »So, oder so, hier oder dort.« Längere Zeit gedankenvoll nach Osten, nach Asien hinzublicken, hatte er jetzt freilich keine Zeit. Ungezählte Vorschriften, Paragraphen und Formalitäten mußte er über sich ergehen lassen, denn aus der Hinterlassenschaft Erdmuthes ging hervor, daß auch das Guthaben des verschollenen Ernst Haupt bei der früheren Ottomanbank, zur Zeit von der Handelsbank Isch Bankassi Istanbul geführt, in den Besitz Kortüms übergegangen war – mit jener Bedingung, die auf Ordnung der Begräbnisstätte des einstigen Besitzers, wenn nicht auf Erkundung seiner Schicksale in Gilghit, Taschkent und Umgebung, bedacht war.

Noch am selben Abend mußte Kortüm mit dem Autobus aus der Hauptstadt nach Memleben zurückfahren, da am anderen Tage um zwölf Uhr die Auktion des Hauptschen Hausrates anberaumt war und Kortüm zur Sicherung der Andenkenstücke für sich selbst zeitig am Ort sein wollte. Aber er hatte noch Zeit, einen Bissen zu essen, trat in einen Gasthof, und es muß gesagt werden, daß Herr Kortüm trotz aller Trauer ziemlich breit auf einem Sofa Platz nahm, sehr behaglich das Mundtuch entfaltete und dabei murmelte: »Hinsichtlich meines Kontos bei der Isch Bankassi werde ich zunächst veranlassen – ah, Herr Ober«, sagte er laut zu dem herantretenden Kellner, unterbrach seine ottomanischen Dispositionen und bat um ein Lendenbeefsteak: »Aber etwas rasch. Ich habe Eile.«

Das weinumrankte Haus Erdmuthes war von einer ansehnlichen Schar Neugieriger umgeben, die achtungsvoll dem Herrn Kortüm Platz machten. Auf der Schwelle stockte der Schritt des Universalerben. Im engen Hausflur roch es nicht wie sonst nach sauber frischgestreutem Sand. Menschen drängelten, lachten, rauchten Tabak. Gewiß öffnete sich auch hier sogleich vor Herrn Kortüm eine Gasse. Als er aber vorüber war, steckten sie die Köpfe zusammen.

»So is es nu. Wo was is, kommt was hin.«

»Un wer nischt hat, kriegt auch nischt dazu.«

»Gucke mal, wie er auftritt.«

»Uns hat sie keinen Groschen vermacht.«

»Und der hat's doch weiß Gott nich nötig gehabt.«

»Aber grade so einer erbt!«

»In China auch noch.«

604 »Nee, soweit hinten nich – wie heißt's gleich?«

»In Indien.«

»Nee doch. In der Türkei.«

»Eine Million!«

»Na nee du, so viel hat sie nich gehabt.«

»Seckerts Fritze wird's doch besser wissen wie du Ochse.«

Herr Kortüm war in die große niedrige Stube eingetreten. Hier hatte er damals mit Erdmuthe und Monich Kaffee getrunken und von den Heinrichsbildern gesprochen – ein Glück für ihn, daß die Gäste den Raum mit Tabakdampf eingenebelt hatten und nicht gleich der erste Blick zeigte, was es hier zu sehen gab. Die Stube stand gedrängt voll Menschen. Auf den Fensterbrettern saßen Frauen und befühlten die Gardinen. Ein Bauer hob den Spiegel vom Haken und besah ihn von hinten. Auf das schönste Stück des Zimmers, den großen runden Mahagonitisch, malte ein Junge mit dem Finger Figuren in den Staub. »Nu gucke mal, Gustav«, sagte seine Mutter, »wie niedlich Robertchen malen kann.« Am Porzellantisch wurden Teller und Tassen beklopft. Die Tür zum Glasschrank stand weit offen. Drei Neugierige steckten die Köpfe hinein, befingerten Stück für Stück: eine seltsame Seemuschel, ein paar Kinderschühchen, eine Medizinflasche, in der kunstreich ein papierner Weihnachtsbaum aufgebaut war. Aus dem untersten Fach zog ein Mädchen zwei altmodische weißseidne Schuhe hervor – Kortüm wußte: das waren die Brautschuhe von Erdmuthes Mutter.

»Rike, das is was für dich! Ein Groschen zum ersten!«

Der Auktionator lief eifrig mit einer Liste herum.

»Hören Sie!« ein Bauer hielt ihn am Ärmel fest, »wo sind die Betten? Da drin?«

Die Leute drängten ihm nach, schlugen Erdmuthes Bett auf, sie fühlten, schüttelten – »Sie, is da auch noch Roßhaar drin? Echtes?«

Ein Leben lang stellt der Mensch Geräte um sich und pflegt sie. Wenn es allmählich einsamer um ihn wird, weil die Freunde sterben und der geschärfte Blick die anderen zu deutlich wahrnimmt, wachsen diese Geräte von Tag zu Tag in einen geheimnisvollen Kosmos zusammen. Im allgemeinen Schwindel hat sich wenig bewährt, der Plunder an Dingen und Menschen ist am Wege zurückgeblieben und zerstäubt. Aber das Notenschränkchen von Erdmuthes Vater hat gehalten. Das verschließbare Fach unten barg seine Zigarrenkisten, den Klavierstimmschlüssel und verjährte Papiere. Auf den offenen Brettern darüber 605 lagen die schweren Notenbücher, und oben drauf standen ein nie benutztes Prachttintenfaß und eine Photographie des alten Kaisers.

»Ob ich biete?« fragte der Sägemüller seine Frau.

»Was willst du 'n bloß damit?«

Der Müller drehte den Rahmen herum: »Hier geht's aufzuklappen. Das Bild nehm ich raus un mache das Bild von unserm Linchen nein.«

Der Mensch stellt um sich herum Geräte und sorgt für sie, denn sie sorgen für seine Seele. Eines Tages aber lassen die erstarrenden Finger das Gerät los, werden kalt. Das Ding steht eine Weile herum, dann hebt es einer an, bewegt es, und nach wieder einer Weile ist es verschwunden.

Herr Kortüm sah ungewaschene Hände die Glasplatten beschmieren, über das weiße Linnen fahren, jetzt auch noch die Schärfe der Tischmesser schabend prüfen – der Tabaknebel nahm ihm die Luft: »Stehn Sie auf«, sagte Herr Kortüm zu den beiden Frauen auf dem Fensterbrett. Er stand in einiger Entfernung und bedeutete sie mit dem linken Zeigefinger.

Erschrocken erhoben sich die Frauen.

»Na nu!« rief ein Mann.

Kortüm riß das Fenster auf.

Aber zu einer Auseinandersetzung kam es nicht, denn der Auktionator stieg eben auf einen Stuhl, legte seine Papiere auf die Kiste, die den Tisch zum Rednerpult erhöhte und schrie: »Achtung! Ich eröffne die Versteigerung! Ruhe! Es wird angefangen mit den Kleidern un mit den Betten! Achtung! Ein schwarzer Wintermantel! Reine Wolle!«

»Zwei Mark!«

»Zwei Mark zum ersten!«

»Zwei Mark zwanzig.«

»Zwei Mark zwanzig zum ersten!«

»Zwei dreißig.«

Kleider wurden versteigert, Unterröcke. Vom seligen Vater Erdmuthes, dem alten Pastor, der Gehrock. Jetzt reichte der Gehilfe dem Versteigerer eine große Pappschachtel hinauf.

»Damenhüte!« schrie der Mann und setzte einen Stoß von Stroh-, Samt- und Filzhüten auf den Tisch, deren Schleier, Blumen und Agraffen um achtzehnhundertsiebzig Mode waren; ein bißchen zierlich, ein wenig gespreizt, aber die vergangene Grazie war verdrückt, verblichen, verbogen.

»Einen Groschen!« schrie der Bauer Deinhardt zum Spaße – er 606 war nur im Vorbeigehen neugierig eingetreten. Aber hier stand er nicht in der Schenke zum Witzemachen. Zur Verblüffung des Bieters schmetterte der Hammer zum dritten Male: »Zehn Pfennige zum letzten!« und man schob dem alten Skatspieler Pappschachtel samt Hüten hin. Ungeheures Gelächter schmetterte gegen die niedrige Decke. Deinhardt besann sich kurz, ergriff den obersten Hut und stülpte ihn auf den Kopf eines Bengels, der sich nun großtat: er ließ die Schultern hängen, machte ein paar zimperliche Schrittchen wie das alte Pastorfräulein. Sogar der Auktionator lachte aus vollem Halse mit – der erfahrene Mann wußte Volksfeststimmung geschäftlich zu schätzen.

Aber plötzlich war das Fest aus. Es hatte einen klatschenden Schlag getan, der Samthut flog jemand ins Gesicht und der Junge dem Sägemüller vor den Bauch.

»Dunnerwetter!«

Der Junge heulte auf, hielt seine Backe. Die Mutter kam gelaufen: »Robertchen, aber – nee doch, aber –«

Aus dem Gelächter wurde Lärm, wurde Zuruf. Herr Kortüm aber, der dem Jungen hinter die Ohren geschlagen hatte, bückte sich langsam, hob den Samthut auf, blies den Staub ab, zog die Schleife glatt. Den Hut hatte Erdmuthe das letztemal aufgehabt. Utzenstorff war damals auf dem Flügelhaus, ja . . . Ganz säuberlich konnte Kortüm den Samt nicht abstäuben. Die Memleber hatten sich von ihrem Schreck erholt, riefen durcheinander, rückten näher. Der Kreis um Herrn Kortüm mit dem Kapotthut in der Hand wurde sehr eng. Glücklicherweise verstand er schlecht thüringisch, er sah nur, daß der Kreis noch enger wurde. Eine Türe schlug. Im Hintergrund drängte jemand und rief: »He, was?! Mein' Robert? Geschlagen? Wer hat hier –«

Bis in die vorderste Reihe kam jedoch Robertchens Vater nicht, die Memleber drängten zurück – es ereignete sich etwas.

Herr Kortüm hatte den Hut auf den Tisch gelegt, nahm dem Versteigerer die Listen aus der Hand, ruhig, gelassen, als ob er hier allein wäre. Er zerriß die sorgfältig beschriebenen Papiere, ließ die Fetzen fallen, er stieß die Kiste vom Tisch und ergriff nun den Versteigerer an der Rockklappe, aber nur mit Daumen und Zeigefinger, zog den Mann vom Stuhl und sagte – nicht laut, nicht aufgeregt: die Maulschelle aus Robertchens Backe hatte eine tief beruhigende Wirkung auf Kortüms Gemüt ausgeübt – er sprach: »Ich habe Sie auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen, deren Kenntnis ich bei Ihnen voraussetzen darf, zum Auktionator berufen – nicht jedoch zum Hanswurst.«

607 Herr Kortüm hielt den Mann immer noch an der Rockklappe, winkte ein wenig mit der linken Hand, die Leute machten Platz: jetzt passirt was, jetzt . . . Das Publikum wartete gespannt auf ein Ereignis, selbst Robertchen schluchzte nicht mehr. Kortüm führte den Auktionator bis zur Tür, ließ ihn los und vollendete seinen Satz: »Gehen Sie jetzt.«

»Ich?! Was? Ganz vorschriftsmäßig habe ich . . . Soll mir etwa 's Lachen verboten sein, wenn mich einer zum Lachen macht?«

Kortüm hatte die Tür geöffnet: »Bitte.«

»Das is, das – un meine Gebühren?!«

»Die werden Ihnen bezahlt.« Kortüm wandte sich an die Memleber und sprach mit einem Hinweis auf die Tür: »Die Auktion ist beendet.«

Das Publikum starrte Herrn Kortüm an: gibt's das denn? . . .

Kortüm betrachtete die Leute: das gibt's . . .

Er sah die runden Augen auf sich gerichtet, sah den zerdrückten kleinen Samthut – er war wohl unter einen Bauernschuh geraten. Ja, im Fliedergang damals, da hatte ihn Erdmuthe getragen. Der Grimm stieg noch einmal in Kortüm hoch, es wurde dunkel vor seinen Augen, drehte sich. Er faßte den Hammer des Auktionators, hob ihn: »Beendet, meine Damen und Herren – zum ersten, zum zweiten und bei Gott, zum letzten!« Schmetternd krachte der Hammer auf die Mahagoniplatte des Tisches, daß das edle spröde Holz zersplitternd aufspaltete und knisternd weiterriß von dem Schlag.

Da stand der ottomanische Universalerbe, der Herr des Kontos bei Isch Bankassi Istanbul. »Meine Damen und Herren« hatte er seine derzeitigen Gäste angeredet, aber er stand da vor der zerschmetterten kostbaren Mahagoniplatte, dem wertvollsten Gerät des Hauptschen Nachlasses, und der Hammer zitterte in Kortüms Hand. Kortüm bot einen Anblick, wie ihn diese Schilderung seines Lebens und Wirkens in Thüringen noch nicht zu verzeichnen hatte. Nach wenig Minuten war der Erbe allein in Erdmuthes weinumranktem Haus.

Herr Kortüm hob noch zwei andere alte Hüte vom Boden auf. Er rückte die Andenken im Glasschrank an ihre Stelle, verschloß ihn, er stellte das Bild wieder an seinen Ort, deckte Erdmuthes Bett zu. Herr Kortüm schloß die Fenster, die Haustür. Er schob den Sessel an den zerschmetterten Tisch, nahm Platz, stützte den Kopf in die Hand und saß lange Zeit reglos inmitten seiner Erbschaft. Ja, dort wo der Hammer das Holz getroffen hatte, stand damals ein Anemonenstrauß . . .

Die Welt ist so groß, und man ist doch nicht vergessen, hatte sie 608 damals gesagt. »Nein, Erdmuthe. Nicht vergessen. Ich werde alles, was hier steht und liegt, aufs Flügelhaus schaffen lassen.« Gewiß sind in einem Flügelhaus viele Stuben, nur vergaß Kortüm jetzt, daß er in diesem Haus nichts mehr zu sagen, geschweige denn unterzubringen hatte. »Diesen Tisch«, fuhr er fort, laut mit sich zu reden, »den setze ich in die Echostube. An dem wollen wir sitzen, wenn wieder einmal ein Gedankenschlag vonnöten ist. Man braucht solche Schläge ab und an. Ich bin ihrer bedürftig. Holdermann kann sie nicht entbehren. Und Windhebel. Arcularius nicht zuletzt. Wir alle. Der Tisch kommt uns zupaß. Nur leider – man wird ihn den Kortümtisch nennen. Immerhin: sein Anblick tut unseren Gedanken wohl. Und das andere?« Kortüm sah sich um. »Das Notenschränkchen nehme ich zu mir. Auch das alte Bild. Und den Stimmschlüssel fürs Klavier. Wird wenig gebraucht zur Zeit. Radio ist ja immer auf Kammerton gestimmt. Aber es ändert sich alles. Wir sehn es ja hier. Der Stimmschlüssel kommt mir sehr durabel vor. Vornehm gearbeitet. Hm . . . und der Kleiderschrank dort? Und dieses Glasschränkchen?«

Herr Kortüm ging im Haus herum wie auf einem Wrack, das die Felsklippe eben noch hält. Er wollte auf sein Fahrzeug retten, was sich vorm Untergang bewahren ließ. Kortüm war dabei, das Zarteste und Feinste zu bergen: die Erinnerung, ein kostbares, aber kostspielig zu hütendes Eigentum. Er zog ein Papier aus der Tasche, zeichnete den Grundriß der Flügelhausräume darauf und trug die Geräte ein, wie er sie dort unterbringen wollte. Kortüm kannte ja jeden Winkel des Flügelhauses, war zu Hause in jeder Ecke.

Zu Hause?

»Ach so . . . nicht zu Hause. Nein.« Eine Art von Heimweh kam über Herrn Kortüm. Er hatte auf dem Flügelhaus nichts mehr anzuordnen.

»Ich werde diese Sachen verschenken. Lotte soll sie bekommen.«

Was tut sie damit? dachte Kortüm und sah im Geiste den Lohberg, den Hachelstein und zwischen ihnen in der Einsattelung den gelben Hauswürfel des Flügelhauses, über dessen Dach sich keine silberne Windfahne drehte und dessen Türe ihm verschlossen war. »Verschlossen? Mir?!«

Kortüm sah scharf in die Ferne, sein Mund stand halb offen, er sagte leise: »Zum ersten, zum zweiten . . .« Kortüm erhob sich. Ihm war ein großer Gedanke gekommen. Er sagte laut, daß die wüsten Stuben und Kammern widerhallten: »Und, bei Gott, zum letzten!« Kortüm 609 drehte das Papier mit dem Flügelhausgrundriß um und schrieb auf die Rückseite folgenden Telegrammentwurf: »Sanatorium Flügelhaus Post Besenroda. Ankomme heute abend Stop Ein Südzimmer mit Bad Stop Friedrich Joachim Kortüm.«

Zu vielen großen Gedanken fügte Herr Kortüm heute seinen bisher größten: Kortüm reiste, ein erholungsbedürftiger Gast, aufs Flügelhaus.

 


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