Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der Grabstein

Brennesseln gedeihen nicht überall; wo der Mensch hingeht, da gehen sie auch hin. Und wo er einmal gelebt hat, da sind sie die zuverlässigsten Zeugen seines verschwundenen Daseins. Brennesseln im Urwald oder an der Küste von Grönland: hier lebten Menschen. Die Hinterlassenschaft der menschlichen Existenz behagt der Nessel. Auf Schutt wuchert sie mannshoch – ein grünendes Denkmal, das man allerdings am besten mit Handschuhen anfaßt.

»Ruderaltisch« nannte Doktor Windhebel bei seiner Ankunft an einem Freitagabend im Lohberghaus die unter Mickewitz' Vorsitz am Tisch der Silbernen Windfahne versammelten Herren: »Sie gedeihen auf Schutt.« Grimmig ließ er sich das Getränk auf sein Zimmer bringen. Am folgenden Donnerstag reiste Windhebel wieder ab, um diesen Tisch nicht noch ein zweites Mal in Kauf nehmen zu müssen. Das Lohberghaus war ja dünn gebaut, und das ungehemmt breite Lachen, das behaglich summende Gespräch schallte bis an Windhebels Arbeitstisch, den in dieser Zeit Papiere mit schweren Überlegungen belasteten. Von der Püsterichbank vor Monichs Leinwandladen wußte der Gelehrte nichts, sonst würde er dort manche Ruhestunde angenehm und tröstlich zugleich verbracht haben.

Der abgeschiedene Gastwirt hatte sich viel Mühe mit dem Erfinden passender Namen für seine jeweilige Gastwirtschaft gegeben. Diese 734 Namen verschwanden allmählich. Windhebel hörte niemand mehr vom Schottenhaus, von der Silbernen Windfahne, von Goldwaage oder Echostube reden. Auf die Frage: »Wohin?« antworteten die Leute: »Zu Kortüm«, und wenn sie »bei Kortüm« sagten, meinten sie das Schottengelände. Dieser Name wurde zur Ortsbezeichnung, ja zu einem geographischen Begriff. Da nun jeder ungewöhnliche, unheimliche und unerklärliche Vorgang in der Gegend ebenfalls auf Kortüm zurückgeführt wurde, konnte es nicht fehlen, daß der Dahingegangene noch öfter genannt wurde als einst der lebende, und der lebendige Kortüm war doch gewiß ein vielgenannter Mann gewesen. Frieback reiste mit seinen Urlaubern »zu Kortüm«. Auf den Anschlägen an den Berliner Plakatsäulen war eine »Kortümreise« verzeichnet.

Am Tage vor seiner Abreise hatte Windhebel dem Holzhacker Kersch ein blankes Fünfmarkstück in die Hand gedrückt: »Sie pflücken mir dafür einen schönen großen Brennesselstrauß und stellen den morgen auf den Ruderaltisch.«

»Auf was?«

»Auf den Stammtisch, an dem die Freitagsgesellschaft sitzt.«

»Mach ich. Un schönen Dank auch, Herr Doktor.«

Wenn Windhebel, ein Gelehrter, der Brennessel zu einer angemessenen Stellung im Schottengelände verhelfen wollte wegen ihrer Vorliebe für Stickstoff und wegen der verkieselten Brennhaare, die beim Berühren Gift absondern, so unternahm Professor Holdermann, ein Künstler, die Ausrottung von Urtica diocea. Er sah bei seinem Besuch im Schottengelände den Grabstein Kortüms, sah das Brennesseldickicht, welches diesen Stein schon halb verbarg, und wandte sich an Doktor Langloff: »Das geht doch nicht. Die Nesseln müssen weg. Ein paar Stauden sollten da gepflanzt werden.«

»Wenn Sie meinen«, sagte Langloff gleichgültig.

»Gewiß meine ich das«, antwortete Holdermann nicht ohne Schärfe.

»Nun – ich meine dieses«, entgegnete der Doktor. »Mit unendlicher Mühe, mit Kosten und mit Hilfe einer großzügigen Werbung habe ich dieses Sanatorium aufgebaut. Was ist das Ergebnis? Kortümhaus heißt dieses Haus! Ich wohne bei Kortüm! Man reist zu Kortüm! Man . . . ach –« Langloff machte eine müde Handbewegung.

Aber Mimi sorgte, daß die Nesseln in den nächsten Tagen abgesichelt, der Boden umgegraben und ein paar Blumen gepflanzt wurden.

Holdermanns künstlerisches Empfinden hatte diese Verschönerung veranlaßt. Dem Maler war dabei nicht in den Sinn gekommen, daß 735 die paar Blumen außer dem Doktor Langloff auch Leute beunruhigen könnten, die beinah am andern Ende der Welt wohnten.

Auf Monichs Bank saßen abends kleine Leute, die vor der Aufgabe, Kortüm in der weiten Welt zu suchen, verzagten, denn kleine Leute wandern auf ihren Füßen durch eine große Welt. Die Großen aber fliegen in ihren Maschinen rasch durch eine recht kleine Welt, sobald in ihren Akten Vermerke auftauchen, die bedenklich klingen.

Die Kortümgerüchte gingen weite Wege, flogen in ferne Länder, stiebten mit dem heißen Sande durch Wüsten und huschten schließlich auch durch die Aktenregale der Stationen, in denen gewacht wird über jenen Wegen – kein Wunder, gab es doch Menschen, die sich nicht abbringen ließen von dem Gedanken, Kortüm selber ginge jetzt diese weiten Wege, bis in die Türkei und noch viel weiter. Im englischen Konsulat in Istanbul unterstrich der Beamte auf seinem Aktenbogen den Namen »Kortüm« und sagte zu seinem Mitarbeiter: »Also Sie kennen den Mann persönlich, Hudson?«

»Kennen – ich habe ihn einen Abend gesehen und erzählen hören; wenn dieser Mann derselbe ist, den ich voriges Jahr auf meiner Reise durch Deutschland in einem Sanatorium Flügelhaus gesehen habe.«

Lister nickte: »Jedenfalls gibt es diesen Kortüm.«

Hudson stand am Fenster und zeigte auf die Agia Sophia, die aus acht Halbkuppeln aufsteigend in die neunte, in die breitgelagerte Riesenkuppel, mit ihren vier Minaretten rotglühend im Sonnenuntergangslicht vor dem grünen Abendhimmel Istanbuls stand. »Wie es den Bau da gibt, Lister. Er scheint ein Haus zu sein und ist ein Traum. Bei den Akten liegt jedenfalls der Zeitungsausschnitt mit Kortüms Todesanzeige.«

»Und auf dem nächsten Blatt steht die Randnotiz, dieser Tote sei in lebendem Zustand in Istanbul gewesen, habe irgendwelche Geschäfte abgewickelt, sei angeblich der Hersteller eines konkurrenzfähigen Brandy und wäre weitergereist. Nach Osten.«

»Die Sache geht uns den Teufel an«, murmelte Hudson. »Warum die ganze Arbeit!«

Lister lächelte: »Weil er tot ist. Tote waren immer die besten Agenten. Keiner braucht was zu wissen.«

Und das Kortümgerücht hob sich, flatterte, flog weiter . . . Als sich Kortüm vor Jahren von Professor Holdermann malen ließ, entstand bei seinem jedesmaligen Eintritt in die große Halle der Akademie ein unleidlicher Gegenzug. Nun war die Todesanzeige des 736 Abgeschiedenen in allen Händen, und Leute, die keinen Zugwind vertrugen, mußten immer noch den Rockkragen hochklappen, wenn etwas Kortümsches spürbar wurde. Die Sonntagsnummer der »Bengali News« brachte ein Bild mit dieser Unterschrift: »Kortüms Grab«.

Die Inschrift des mit frischen Blumen geschmückten Grabes konnte der News-Leser deutlich entziffern. Eine kurze Erklärung unter dem Bild besagte, daß hier zu sehen sei die letzte Ruhestätte eines berühmten deutschen Schnapsbrenners, den kurz nach seinem Tode lebenswichtige interests in Gebiete zu führen schienen, welche durch Black and White bereits hinreichend mit Spirituosen versorgt seien. Übrigens wäre der Name des Brandys, den der Verstorbene herstelle, unaussprechbar und der Flascheninhalt mit dem Wort breath nur annähernd bezeichnet.

Es läßt sich denken, wie erstaunt die Leserwelt von einer solchen Mitteilung der »Bengali News« Kenntnis nahm.

Nicht allein der deutsche Zugwind an sich, nicht einmal die interests als solche, wohl aber die bemerkenswerte Tatsache, daß sich ein Mann nach seinem Tode aufmacht, um die interests anderer ehrenwerter Leute zu berühren, veranlaßte mehrere Abonnenten der »Bengali News«, sich unter Eingesandt zu dem Fall zu äußern.

Wie, fragte Mr. Smith, der Vertreter von Black and White, wie ist es möglich, daß ein Bewohner jener südlich von Dänemark liegenden und durch Richard Wagners Opern in weiteren Kreisen bekannt gewordenen Landstriche stirbt und trotzdem interests behindert? Was, fragte Mr. Byng, nützen Beschlüsse, wenn sich die Deutschen nicht einmal mehr an den seit Adams Sündenfall mit dem Tod vereinbarten Weltdeputationshauptschluß halten, sondern leben und interests nachgehen, obgleich sie rechtens tot zu sein haben?

Ja, es muß wohl noch viel Weizen ins Meer geschüttet werden, ehe dieses Volk sich das Totbleiben angewöhnt hat. Alle »News« und »Times« und »Temps« haben mit dem »Besenröder Anzeiger« den Wunsch gemeinsam, ihren Lesern diejenigen Einzelgeschehnisse in leichtfaßlicher Form zu berichten, welche bei hinreichender Verallgemeinerung dunkle Gebiete zwischen Erde und Himmel ein wenig aufzulichten vermögen. Der Fall Kortüm war besonders dunkel. Auch Herr Menger konnte ihn nicht klären, aber er war so glücklich, dem Kortümgelände einen Artikel aus der Feder eines Kenners Frankreichs bieten zu können, der zwar nicht die Unbegrabbarkeit illustriert – aber diese Geschichte biete doch, rief Menger den Abonnenten zu, wenigstens einen kleinen Beitrag zum Problem der Verschwindbarkeit alles Menschlichen.

737 »Vor wenig Jahren, lieber Leser, läuft im Innenministerium ein Bericht des Präfekten von Clerval ein, der die Entdeckung eines Dorfes namens Verry meldet. Der Präfekt bittet um Verhaltungsmaßregeln. Der Innenminister gerät in Verlegenheit. Das Dorf Verry findet sich in keiner Liste, nicht einmal in den Steuerverzeichnissen und Stammrollen. Der Minister schickt einen Beamten, der nach viel Fragen und Beschwerden endlich inmitten eines rauchenden Trümmerhaufens steht und folgendes feststellt: Dieser soeben abgebrannte Ort Verry ist seit der Präsidentschaft Sadi Carnots aus vorläufig unaufklärbaren Gründen in völlige Vergessenheit geraten. Nach nun vierzig Jahren Verschwundenseins läßt sich nur noch der Hergang von Verrys Ausscheiden aus dem öffentlichen Leben verfolgen. Zuerst blieb der Steuererheber aus. Verry wartete. Der Mann kam nicht. Verry verhielt sich still. Eines Tages kam auch die Post nicht mehr. Sie brachte auch früher selten genug Briefe; als sie aber gar nicht mehr erschien, fiel es Verry doch auf. Da setzten sich denn die Verwandten Tartarins von Tarascon zusammen und fragten sich, was auf die Dauer schwerer zu ertragen sei: der Mangel an Steuerzetteln oder der Mangel an Briefen. Sie sahen sich an, schwiegen und verhielten sich weiterhin still. Die Militärkommission blieb aus. Alles blieb aus. Aber Verrys Boden ist fruchtbar. Die Wege draußen verfielen, und die Wälder der Franche Comté wuchsen um Verry zusammen. Der Weizen sproß, blühte, gab Korn und Mehl – sproß, blühte, reifte, fiel unter der Sense, vierzig friedliche Jahre lang. Da brach eines Nachts Feuer aus. In Asche sank Verry: achthundert Seelen in Schnee und Asche, ohne Obdach und Brot. Der Dorfälteste tat einen Seufzer, griff nach Hut und Wanderstab, schlug sich mühsam durch den Wälderwall, kam nach tagelangem Irregehen nach Clerval, und der erstaunte Präfekt nahm Kenntnis von der Tatsache, daß das nicht vorhandene Verry nicht mehr existiere und dringend Hilfe brauche.« Bis hierher der Gewährsmann des »Besenröder Anzeigers«. Menger setzte mit eigener Feder hinzu: »Nichts gegen Europa! Noch riecht dieser Erdteil nach dem Urwaldboden unverwüstlicher Erlebniskräfte!«

Leider aber läßt die Verbindung der Zeitungen untereinander immer noch manches zu wünschen übrig. »Bengali News« erfuhr so wenig von dem Besenröder Verrybericht, als dem Schriftleiter Menger jemals das Bild von Kortüms Grab mit der Unterschrift Tomb Kortüm vor Augen kam.

Das Leben mußte allein weiterdichten, was locker verstreut an 738 Wunderbarem geschah auf der großen Westoststraße Verry – Kortümgelände – Pamir.

 


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