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Die Treppe des Lohberghauses war immer schlecht beleuchtet gewesen. Auch der Umbau im vorigen Jahre hatte dem Licht keinen volleren Einfall verschafft. Wer die Stufen hinaufging, fühlte vorsichtig ein bißchen mit den Schuhen, stupste mit den Stiefelspitzen. Kam er aber ohne Unfall oben an und stand gerade Kortüms Türe zum Mittelzimmer offen, so entschädigte ein überraschender Anblick die Mühe des Aufstieges: in den braunen Rahmen des Holzwerks eingefaßt ein leuchtendes Stück ferner Welt, an schönen Tagen meerblau wie ein Aquamarin und an diesem späten Herbstnachmittag so strahlend, daß die holzgetäfelte Stube Kortüms überblendet in vorzeitiger Dunkelheit zu dämmern schien. Stille ringsum. Nur eine alte Standuhr auf dem Flur tickte eilig und ihre metallenen Eingeweide rasselten zuweilen. Die Balkontür stand offen. Kortüm, ein schwarzer Schatten, lichtblau umflossen, saß draußen und hob und drehte an dem Dreibein, das sein Fernrohr trug.
Unbeweglich saß Herr Kortüm. Nur die Hand rückte zuweilen an dem Tubus. Er wanderte mit dem Auge die fernen Waldwege entlang. Manchmal sah er von ihnen nur einen dunklen Strich, der sich in dem Wipfelpolster abzeichnete, dann wieder, nach einer Biegung des Pfades, konnte er in ihn hineinblicken, als ob er ihn entlangwandelte. Kortüm schraubte, stellte schärfer ein; die roten Fliegenpilze meinte er zu sehen, die da am Wegrande standen. Herr Kortüm bewanderte sein Gelände mit den Augen. Gerne tat er das und oft, seit er hier oben wohnte. Die Luft war herbstfrisch und kristallklar. Kortüm konnte mit den Augen gehen, soweit er wollte. Hob er sein Rohr daumenbreit, so versanken in dem Glas die zackig ausgeschnittenen Tannenwipfel, eine blaue Flut erfüllte das Glasrund, blendend zuerst, dann aber unterschied Kortüm feines bräunliches Geäder: die Feldwege in der Goldenen Aue draußen. Er rückte ein wenig am Fernrohr – nun stand der Brocken im Bild, ein lichtgraues Pünktchen auf dem Gipfel, der Brockenturm. Darüber weitete sich dann nur noch die blaue Luft aus.
648 Nicht leer, freilich nicht, aber die Sternfunken leuchteten noch nicht durch den besonnten Lebensnebel der Erde.
An klaren Tagen saß Kortüm lange auf seinem Balkon und ließ in dem Aquamarin die Dinge der Welt an sich vorüberziehen; jeden Tag gewann er das einsame Spiel lieber und merkte noch nicht die Gefahr für Leib und Leben, die hinter diesem verlockenden Fernsehen steckt: das Auge rückt die Dinge an die Seele – nicht an den Leib. Je bildervoller die Seele wird, desto leichter welkt der Körper. Der muß schon eigenfüßig die Wege gehen, wie die Feder eigenhändig geführt sein will über das Papier, wenn das Herz diktiert.
Es wurde rasch Abend. Kortüm lenkte sein Glas auf die Flügelhausdächer tief unter ihm. Er zählte die Gäste in den Liegestühlen, ja, er vermochte die Zuckerstückchen auf dem Kaffeetablett zu zählen, das der Kellner zu einem Gast auf die Südwiese hinaustrug. »So nahe«, dachte Kortüm, »bloß die Luft dazwischen, und abgerissen von mir wie die Toten.«
»Herr Kortüm«, sagte Frau Wingen zur offenen Türe herein, »es wird Abend, und der Kerl sitzt immer noch in der Gaststube auf demselben Fleck.«
»Wovon redet er denn die ganze Zeit?«
»Nichts sagt er. Kein Wort. Den Kopf stützt er in die Hände, flegelt die Arme auf den Tisch, trinkt alle Stunden einen Schnaps und guckt vor sich hin.«
»Ich komme gleich hinunter, Frau Wingen.«
Kortüm verwahrte sorgsam sein Fernrohr, labte sich noch einmal an dem Blick in die Weite, aber mit bloßen Augen am ganzen Bild. Stern nach Stern trat blaß aus dem Raum hervor. Die Ruhe war unendlich, kein Laut hörbar ringsum. Kortüm schloß denn auch leise die Balkontür und stieg hinab ins Erdgeschoß.
»Bringen Sie mir einen Schluck Rotwein«, sagte er zu dem Kellner, trat in die Gaststube und setzte sich in die Ofenecke.
Da saß der Kerl ihm gegenüber in der anderen Ecke. Kortüm musterte ihn. Der derbe Anzug ordentlich, die groben Fäuste gewaschen. »Hat er viel getrunken?« fragte Kortüm leise.
»Gar nicht viel«, antwortete der Kellner kopfschüttelnd, »seit Mittag sitzt er so da.«
Kortüm trank seinen Abendwein. Der Mann schläft, dachte er. Aber es sah nur so aus. Zuweilen bewegte er sich, wühlte durch die Haare. Der Lohbergwirt ergriff denn sein Glas, ging zu dem Tisch des unheimlichen Gastes und nahm Platz: »Guten Abend.«
649 Der Mann sah nicht auf. Ein Ton aus der tiefen Kehle sollte wohl der Dank für den Gruß des Wirtes sein.
»Es dunkelt früh. Wir sind schon ein gutes Stück im Herbst. Wenn Sie noch weiter wollen –«
»Weiter?« Der Fremde hob den Kopf und sah Kortüm finster an. Aber der erfahrene Gastwirt nickte ihm ruhig zu; der Kerl schob den Unterkiefer nur so vor, weil irgend ein Groll in ihm fraß. Kortüm las ihm leicht die Gutmütigkeit an den zornig gekniffenen Augen ab und sagte. »Ich denke, ja. Weiter. Es wandert sich nicht gut bei Dunkelheit. Hier herum wird überall an den Straßen gebaut.«
Schweigen.
»Wo wollen wir denn heute noch hin, Freund?«
»Zum Deuwel will ich« – der Mann lachte kurz auf – »oder nach Hamburg. Un von da in 'n nächsten Kesselraum aufm Kasten, der bald ablegt.«
»Soso. Hamburg. Ein Landsmann. Aber Sie sprechen gar nicht wie wir.«
Der Fremde hatte seinen Schädel wieder in die Fäuste gestützt und ließ Kortüm reden.
»Oder sind Sie hier herum zu Hause?«
Da nahm der Mann die Fäuste von den Schläfen, setzte sie vor sich auf den Tisch, als ob er die Platte durchdrücken wollte: »Zu Hause? In Düwelsdreck bin ich zu Hause, aber nich auf dieser« – er verschluckte ein Matrosenwort, Kortüm verstand nur »Welt«.
»Nun nun, die Angehörigen verlieren, vielleicht auch das Haus daheim – die Zeit geht eben hin. Aber die Heimat bleibt, Freund« – Kortüm nickte langsam vor sich hin – »das einzige, was wir behalten am Ende.«
»Sie vielleicht.«
»Jeder, Mann.«
»Herr!« Der Kerl starrte Kortüm in die Augen. »Reden Sie nich, wenn Sie nischt verstehn! Angehörige? Lange tot. Haus – seit wann is das hin. Aber wenn ich nach Ollenberg gekommen bin, alle drei, vier Jahre, wie unsereiner eben an Land kann, da war ich doch unter Dach dort. Weil ich hingehörte. Die Dorfstraße. Die Schenke. Na, un der Friedhof un was so is.«
Herr Kortüm nickte: »So meine ich's: die Heimat.«
»Verschwunden is sie! Weg!!«
Kortüm hob die Augenbrauen und neigte den Kopf etwas, um dem 650 Mann ins Gesicht zu sehen. Dem Herrn Kortüm war so vielerlei Seltsames begegnet, daß er nicht zu lachen vermochte, wenn jemand ungereimtes Zeug redete. Der Gast griff nach dem leeren Schnapsglas. Kortüm winkte dem Kellner: »Ein Weinglas.« Er schenkte seinem Gast aus der Rotweinflasche ein. Der Fremde stierte eine Weile in die dunkelrote Flüssigkeit, trank in langem Zug das Glas leer und stellte es hin: »Auf Ihr Wohl war's, Herr.«
»Danke. Aber . . . Ja, verschwunden, haben Sie gesagt? Sie sind einer von draußen? Auslandsdeutscher, wie?«
»Von hier bin ich. Un Stannebein heiß ich.«
»Stanne –«
»– bein. Georg Stannebein.«
»George« – Herr Kortüm sprach wohl den Vornamen englisch aus, um sich an den Nachnamen zu gewöhnen.
Es sah fast aus, als wenn der fremde grobe Geselle jetzt gelächelt hätte. »George«, nickte er, »so nennen sie mich an Bord.«
»Man ist aus Hamburg«, sagte Kortüm mit einer gegen seine Weste gerichteten vorstellenden Handbewegung, »aber sagen Sie: verschwunden?«
»Also, wenn Sie's durchaus hören wolln: Stannebein heiß ich. Un in Ollenberg bin ich gebürtig. Da drüben an der Saale. Willst mal wieder Rostbratwurscht essen, denk ich. Ja, un auf dem Friedhof sollte man sich auch mal wieder umgucken. Un fahre los. Ich bin erst am Nachmittag in Sankt Pauli an Land gekommen. Fährst lieber gleich, denk ich. Sonst versaufst du 's Reisegeld. Jena umsteigen. Saalfeld noch mal. Da war's denn so um drei heute morgen, daß ich in Wurzbach endlich die Eisenbahn los bin un auf Ollenberg zugehe. Dreiviertelstunde Wegs. Stockdunkel. Aber man kennt ja jede Ecke un jeden Busch. Hier hast du als Junge Weiden geschnitten un da Pflaumen gestohlen, dort hat die alte Liebstocken ihr Krautfeld. Un hier is der Steg. Schwämme wuchsen damals auch schon an den morschen Bohlen. 's schwankte auch so, wenn man drüber ging. Ich sage das alles bloß, weil ich nachher dachte, ich wäre im Düs gegangen un falsch. Ich war aber nich im Düs. Ging den alten Waldweg – hier war doch 'n Erlenbusch. Ich kenne 's nich wieder. Je, ich muß mich weiß Gott verlaufen haben. Umkehren. Aber nu paß Achtung. Ich sehe scharf aufn Weg. Herr – glauben Sie's? Ich bin wieder falsch gegangen. Sonnaufgang kann nich weit sein. Durch die Bäume wischt schon so'n grauer Schein. Wer mit der Nase den alten Stall riecht von weitem un mit'n Füßen irre geht, der is 651 verhext. Ich dreh mich, wende mich – wo ich bin, weiß ich nich. Da seh ich jemanden durchs Unterholz kommen. Kommt mir recht, der alte Kühnel, der Gemeindediener. Na, aber schwummerig is es einem doch: 'ne Viertelstunde von zu Hause Kühneln fragen, wo der Weg geht. ›Der Georg!‹ sagt der, ›woher?‹ Wir geben uns die Hände. ›Ach, von daher. Sumatra.‹ ›Hehe. Wo der Tabak wächst.‹ Ich nicke un fange dann an: ›Sage mal, Kühnel, das is hier so anders.‹ 's graut immer mehr, 's nebelt auch 'n bißchen. ›Da muß doch der Erlenbusch stehn, he?‹ Kühnel sieht mich groß an: ›Großer Gott, Georg, so lange warst du nich hier . . .‹ ›Wie lang?‹ ruf ich. ›Hehe‹, antwortet der bloß un lacht in sich nein un hinkt los. Herr, ich sage Ihnen: wie verhext alles! Mich faßt die Wut. ›Krummer Hund!‹ schrei ich, ›was los is, will ich wissen!‹ Kühnel winkt bloß. Ich ihm nach. Da werden die Bäume lichter, 's Unterholz dünner. Un 's blitzt was wie – ›Wie Wasser etwan, Georg?‹ fragt Kühnel. Ich stehe an 'm See. An 'm richtigen großen See. Aber auch wieder kein richtiger. Am Ufer eine junge Eiche halb im Wasser. 'n ganzer Trupp Kiefern, halb ersoffen. Un in der Mitte vom See, da muß – ›Ollenberg!‹ schrei ich. 's hat seine Richtigkeit gehabt. Kühnel erzählt. Ein Stauwerk haben sie hier in den Jahren daher gebaut. Ollenberg is weg!« Plötzlich sprang Stannebein auf: »Ertränkt, Herr!« schrie er Kortüm ins Ohr. »Wie'n Ratzennest!«
Der Lohbergwirt zuckte nicht zusammen, wenn er gleich gut vernahm, daß der Schrei tiefer aus der Seele kam, als Ollenberg unter dem Wasserspiegel lag. Kortüm sah unbeweglich in seinen roten Wein. Dann nahm er die Flasche und goß dem Georg Stannebein das Glas voll. Der packte das schwappende Glas, soff's leer: »Auf den Menschen, das Vieh«, murmelte der Matrose beim Hinstellen des Glases und wischte sich über den Mund. Kortüm hob die Hand, aber der Fremde fing wieder an: »Ich habe mir 'n Boot genommen, das nahebei festgemacht war. Zum Spaße, Herr« – er lachte und sah an Kortüm vorbei – »'s Wasser lag glatt in der Morgenfrühe. Ich habe 'n Kirchturm gesehen. Von oben. Merkwürdige Ansicht für einen, der bislang unten zur Türe reinging. Halb rechts hinter der Kirche liegt mein Vater begraben. Un meine Mutter 'n Stück weiter nach der Mauer hin. War aber nichts zu sehen. Der Stausee is tief.«
»Tief«, murmelte Kortüm.
Stannebein wollte in Matrosensprache das Schlußwort hinter diese Geschichte setzen, aber Kortüm hob wieder die Hand: »Halt. Wasser, George. Luft, George. Was ist der Unterschied? Der eine sieht das 652 Seinige durch Wasser und kann nicht hin. Der andere durch Luft – oh, schön klar. Das ganze Flügelhaus sieht er. Und kann nicht hin. Und wieder einer, die Frau Wingen draußen – wie hat sie gesagt? Sie wäre auch gerne mal wieder zu Hause. Und kann nicht hin. Erde dazwischen. Die Elemente, George Stannebein: Wasser, Luft und Erde. Immer zwischen uns und unsrer Welt. Und wir? Ja, wir müssen denn wohl 's letzte Element von den vieren sein und flackern, bis das Feuer aus ist.«
Kortüm sah auf. Es war ganz dunkel geworden. Er konnte Stannebein nicht mehr erkennen, griff rückwärts nach dem Schalter. Die Lampe über dem Tisch leuchtete auf. Der fremde Gast blinzelte mit den Augen, betrachtete den Herrn Kortüm und sagte: »Der Herr scheint auch Bescheid zu wissen.«
»Nun nun«, lächelte Kortüm, »es geht so.« Er gab der Hängelampe einen kleinen Stoß. Sie schwankte, kreiste, pendelte langsam aus. Der Lohbergwirt zeigte auf den gläsernen Glühkörper: »Ja, George, dazu haben sie den Stausee gebraucht. Kraft. Strom. Licht.«
»Stände lieber im Finstern. Und könnte denen heimleuchten, die Licht gemacht haben und Kraft und Strom, aus meiner Heimat.«