Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Lieber Besuch

Glücklicherweise hatte Holdermann Kortüms Worte gegen die gegorenen und gebrannten Flüssigkeiten allein vernommen. Niemand sonst war Zeuge dieser Äußerungen eines Gastwirts, und Holdermann hatte schweigen gelernt. Er war Porträtmaler. Er verstand die Kunst, den Menschen ins Herz zu sehen, und wurde dabei täglich schweigsamer. Und doch hatte er Kortüm gegenüber kein ganz reines Gewissen: da stand nun dieser wasserspeiende Brunnen im Schottenhofe, und der Besitzer hatte keine Ahnung, daß jetzt sein ehrliches Wasser durch diesen Püsterich laufen mußte. Aber der Brunnen saß so maßgerecht im Raum des Schottenhofes, daß man ihn um keinen Viertelmeter her oder hin, höher oder tiefer rücken konnte. Der Maler sollte über seine künstlerische Leistung gleich Näheres hören. Heute war ein Sonnabend, und ins Schottengelände kamen Leute, die sonst selten zu treffen waren. Vom Lohberg herab stieg der Holzhacker Kersch. Er wollte nach Besenroda hinunter und vorher auf dem Schottenhaus einen kurzen feierabendlichen Trunk zu sich nehmen. Der Waldarbeiter Bilmes kam aus der Besenröder Glasbläserei heraus und trug für den Esperstedter Apotheker eine Last Flaschen über den Berg. Mämpel war aus dem Wald hinterm Sachsstein gekommen und wartete schon eine gute Weile auf Kersch.

Sie versammelten sich um die neue Sehenswürdigkeit des Herrn 273 Kortüm und guckten abwechselnd den zigarrenrauchenden Gast und den wasserspeienden Püsterich an.

»Der stand doch im Hofe auf dem Hackeklotz.«

Bilmes setzte seine Flaschenkiepe ab: »Gott sei Dank, daß wenigstens eine Quelle feste sitzt. Sonst schleppte die Herr Kortüm auch von einem Ort an'n andern.«

»Hm«, sagte Holdermann, »guten Abend.«

»Guten Abend«, antworteten die drei Männer und Kersch setzte hinzu: »Das Wasser da, das wär auch ohne den Umstand aus der Erde gelaufen.«

»Dazu braucht man keine Destillasche nich«, ergänzte Mämpel.

Feindselig betrachtete Kersch den Wasserstrahl: »Un dazu hat sich Albrecht die viele Arbeit nich gemacht.«

»So was is Mißbrauch«, nickte Mämpel.

»Is denn da gar keiner da, der sowas verbietet?« fragte Kersch.

Aber Bilmes schüttelte den Kopf: »Um den Schnapskessel is es nich schade. Aber um das schöne Wasser.«

»Red doch nich!« rief Kersch.

»Wenn du verheiratet wärst«, knurrte Mämpel, »tätst du dir überlegen, was du redst.«

»Was hat denn Schnaps mit Heiraten zu tun?« wehrte sich Bilmes.

Aber Kersch winkte ihm nur mit der Hand ab: »Was weißt'n du.«

»Als ob ich de Woche durch nich grade so viel Arbeit hätte wie ihr alle beide, un das kann ich dir sagen, Kersch –«

Aber der Holzhacker ließ ihn nicht ausreden: »Arbeit haben wir alle. Aber wenn wir fertig sin, dann kommen wir heime, un da is de Frau, und da sin de Kinder, und da geht's Theater erst los. Aber wenn du fertig bist, dann biste fertig un hast gut predigen, alter Evangeliste du.«

Holdermann hörte dem Streit zu: hm, er hätte doch vielleicht die Hände von dem Püsterich da lassen sollen . . .

Liese kam mit dem Eimer, setzte ihn unter den Wasserstrahl und lachte: »So läuft's besser als erst.« Sie nahm den vollen Eimer weg. Das Wasser schäumte in das ausgespülte Erdloch und bespritzte ihre weißen Strümpfe: »Pfui!«

»Hä, siehste?«

»Hier kommt noch ein Becken her«, erklärte Holdermann und ritzte mit der Schuhsohle die ungefähre Größe in den Boden.

Kersch sah ihm mißtrauisch zu: »Ach so«, sagte er, »Sie haben wohl den Kessel auf die Quelle gesetzt?«

274 »Ich? Nun, ich habe probiert, wie sich das ausnimmt.«

Kersch schnüffelte: »Haben Sie denne n' Püsterich selber mal probiert?«

»Den Püsterich? Probiert?«

»Na ja, so heißt doch der Schnaps.«

Holdermann schüttelte den Kopf.

»Nee? Das hab ich mir gedacht. Sonst hätten Se da auch kein Wasser durchlaufen lassen.«

Er schwieg und trat beiseite. Ein neuer Mann kam heran. Auch Kersch und Liese machten jetzt Platz. Bilmes kraute sich im Bart und zog vor Erwartung ein greuliches Gesicht.

»Nanu!« sagte der Ankömmling, starrte verdutzt den Püsterich an, rückte die Mütze ins Genick und blickte dann den Umstehenden der Reihe nach fragend ins Gesicht.

»Na, Albrecht«, begann Kersch mit umständlicher Gemütlichkeit, »nu sage mal, was meinst'n du dazu.«

»Was ich meine«, fing er an – da lachte Bilmes. Albrecht trat auf ihn zu: »Du weißt noch lange nich, was ich meine. Aber ich weiß, was du meinst, un du bist 'n Ochse, Bilmes. Un nu will ich dir auch sagen, was ich meine. Wenn Herr Kortüm durch meinen Kessel Wasser laufen läßt, dann kann er's je machen. Aber durch mein Rezept kann er kein Wasser laufen lassen. Un was der Apotheker is, der Mickewitz, in Esperstedt unten, der wartet bloß auf mein Rezept.«

Drin im Saal saß unter dem gemalten Kortüm der Freund des lebendigen Kortüm: da saß Monich, und Monich saß fest. Ihn kümmerte nicht die Verwandlung des Püsterichs unter den schönheitskundigen Händen Holdermanns. Die beginnende Auflehnung der Bevölkerung scherte ihn nicht, und von seines Freundes Kortüm Meinungen über die Herkunft der wahren Heiterkeit ahnte er offenbar gar nichts, denn er trank Glas um Glas und befand sich wohl dabei in seiner guten dicken Haut. Seit dem Nachmittag wartete er auf Kortüm. Von Stunde zu Stunde blickte er in den Fahrplan und sprach: »Mit dem Zug is er auch nich gekommen, denn kommt er vielleicht mit dem nächsten. Liese!«

Das brave Mädchen brachte ein neues Glas. Monich leckte die Oberlippe nach links, dann nach rechts, atmete ein, setzte an und trank. Dann setzte er ächzend das Gesäß auf den Tisch und wartete weiter. Es war Pflicht für ihn, hier zu warten, denn seine Botschaft war von Gewicht 275 und eilig. Aber schließlich brachte dieses freundschaftliche Durchhalten eine gewisse Müdigkeit mit sich. Monich sah nicht mehr so genau die einlaufenden Züge nach und fuhr aus einem sanften Schlummer, als Kortüm endlich geräuschvoll den Saal betrat.

»Da bist du nu!« sagte Monich und gähnte.

»Jawohl!« antwortete Kortüm grimmig. Er hatte allen Grund zum Verdruß. Seine Geschäftsreise ins Zeichenbogenamt war vergeblich gewesen. »Es ist heute ein elender Tag, Monich! Im Amt bekomme ich nichts, trete in mein Haus, und da gibt mir Liese das!« Monich las eine Depesche, in der Konstanze Schröter mitteilte, daß sie vielleicht erst morgen kommen könnte. Es sei aber nicht gewiß.

»Kortüm, was willst du denn bloß! Wo du dein Dach nich fertig kriegst, sei doch froh, daß sie nu 'n bißchen später kommt.«

»Deswegen hätte ich doch das Richtfest feiern können.«

»Reg dich nich auf, Kortüm – die eine is nich gekommen, aber dafür kommt 'ne andere.«

Monich begann eine verdächtige Geschichte zu erzählen. Zunächst ging sie ganz natürlich los, und Kortüm hörte wie gewöhnlich schlecht zu. Monich hatte heute mittag Klöße gegessen. Thüringer Klöße mit Schöpsenkeule und viel Soße. Diese Klöße lagen ihm schwer im Magen. Monich bedurfte an solchen Tagen einer ungestörten Mittagsruhe und war höchst mißgelaunt, wenn es in seinem Leinwandladen klingelte. Es hatte jedoch geklingelt. Und zwar ungewöhnlich lärmend. Monich, der doch außer seinem Laden den Posten als Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr bekleidete, fuhr aus seiner Stube heraus, um den unverschämten Besenröder im Hauptmannston zu fragen, was er wünsche – da sah er gänzlich fremde Herrschaften vor sich. Eine Dame in den besten Jahren und einen Herrn. Er: mager, still, ein wenig gebückt und mehr im Hintergrund stehend. Sie: nicht mager, sehr erfreulich anzusehen und in jeder Hinsicht im Vordergrund befindlich. Dieses Ehepaar nun hatte Kortüms Freund bedenklich gestimmt: »Nich wegen den verdammigten Klößen, nee. Aber weißte, ich merke nämlich gleich, wenn einer kommt un kauft was un will eigentlich gar nischt kaufen. Ich meine, Kortüm, wenn'r kommt un will bloß so'n bißchen horchen.«

Herr Kortüm war aufmerksamer geworden: »Hm. Solche Gäste gibt es.«

»Kunden, Kortüm. Bei dir heißen sie Gäste. Bei mir heißen se Kunden. Also er – na ja, da is nich viel zu sagen. Er sah aus wie 276 einer, der geheiratet worden is. Er sagte auch nich viel. Aber sie! Verflucht noch mal« – Monich trank – »also sie – allabonheur! 'n Frauenzimmer – Schockschwerenot, Kortüm! Nu paß auf. Was soll ich dir sagen: die sagt zu mir, sie will für'n Groschen Rosaband kaufen. Hähä. Na weißte, nach Rosaband sah se schon aus. Aber nich bloß für'n Groschen. Nee, nee, da will ich nischt gegen sie gesagt haben. Alles da –«

»Erzähle rascher, Monich.«

»Schneller kann ich nich reden, Kortüm. Also paß auf: ich denke so bei mir im stilln: du un für 'n Groschen Rosaband? Jawohl! Deswegen kommste nich. Du willst was anderes. Da genügt bei mir 'n einziger Blick. Un paß auf, da kam's auch –«

Herr Kortüm sah ihn gespannt an. Monich ergriff das Glas, trank aus und rief: »Liese!«

»Liese!« donnerte Herr Kortüm, »etwas rascher, bitte!«

»Ob, fragt sie mich, ob ich einen gewissen Herrn Kortüm kennte, fragt sie mich.«

»Hm. War sie – ich meine, ob sie – ansehnlich war, Monich?«

Monich schob die Lippen vor, machte die Augen groß, hob den Zeigefinger – er deutete auf alle Weise die sehr ansehnliche Erscheinung der Dame an: »Haare: schwarz –«

»Schwarz . . .« wiederholte Herr Kortüm nachdenklich.

»Augen: auch schwarz –«

Kortüm sah ihn an: »Auch schwarz . . .«

Monich bezeichnete nun mit den Händen kurz die wichtigsten Körperformen. Kortüm unterbrach leicht beunruhigt seine Darstellungen: »War sie auch ganz bestimmt mit jenem stillen Herrn im Hintergrunde verheiratet? Wie? Doch sicher, Monich. Das steht fest, nicht wahr?«

»Na, wenn du mich so fragst – genau weiß ich das natürlich nich –«

»Etwa nicht verheiratet? Und sie fragte nach mir? Sie kam wegen mir aus der Stadt?«

»Wegen dir, Kortüm.«

»Ist sie wieder abgereist?«

»Nee doch, eben nich, warte doch –«

»Monich!« Herr Kortüm erhob sich. »Hatte sie vielleicht einen etwas russisch klingenden Namen?«

»Kunden nennen doch ihren Namen nich im Laden. Un nu auch noch russisch – das weiß ich nich.«

277 Herr Kortüm wandte sich plötzlich an Liese: »Ist Professor Holdermann im Hause?«

»Der stand 'n ganzen Nachmittag mit dem Klempner im Hofe, und dann stand er mit –«

»Also nu laß deinen Professor. Du wirst die Dame auch ohne den kennenlernen. Sie will dich nämlich besuchen.«

»Hierher will sie kommen?!«

»Aufs Schottenhaus. Un sie wären alle beide Verwandte von dir, sagen sie.«

»Ver – wandt?« – Kortüm atmete ganz tief auf – »Verwandt? Nein. Verwandt ist sie nicht mit mir.«

Monich sah ihn erstaunt an: »Wer is nich!«

Kortüm antwortete nicht gleich. Er trank einen guten Zug. Dann setzte er das Glas langsam ab und blickte lächelnd in die Flüssigkeit . . . »Kitty«, sagte er kopfnickend vor sich hin.

»Von wem redst du denn eigentlich?«

»Von einer Verwechslung, Monich . . .«

»Das scheint mir auch so.«

Monich war verwundert, aber Herr Kortüm ging um den Tisch, er klopfte Monich auf die Schulter, er schritt zum Kamin, er sah zu seinem Bildnis auf. Kortüm begann im Saal herumzuwandeln und sagte behaglich: »Haha, Monich.«

»Du scheinst je plötzlich recht beruhigt zu sein.«

»Völlig.«

»Na, prost Kortüm. Ich weiß je nich, was du in Verwandtschaftsangelegenheiten für Erfahrungen hast. Was mich betrifft, ich habe immer gefunden: wenn sich mit einmal Verwandtschaft meldet, die man gar nicht kennt un die gar keine richtige Verwandtschaft is, bloß so hintenrum angeheiratet, un wenn die dann auch noch in der Nachbarschaft rumgeht un was rauskriegen will –«

»Rauskriegen?«

»Je – die Dame hat gefragt, ob du noch manichmal an Geestemünde denken tätst. Der Sohn von deinem Vetter in Geestemünde – 'n Namen hab 'ch vergessen – der wäre der angeheiratete Onkel von ihrem Mann.«

Herr Kortüm antwortete gelassen: »Das ist alles Unsinn, Monich. Meines Wissens habe ich keine lebende Verwandtschaft.«

»Deines Wissens. Na ja. Das is aber manichmal sonderbar. Da kann ganz unerwartet einer auftauchen un sagen, seines Wissens.«

278 »Geschwätz, Monich.«

»Kortüm, so einfach is das nich. Beim Heiraten kommt manches durcheinander, un wo du denkst, 's is nischt, da steht mit einmal 'n angeheirateter Großonkel vor dir.«

»Ich kenne meinen Stamm.«

»So was Ähnliches haste schon 'nmal gesagt, Kortüm. Weißte noch? In der Gruft unten? Un verflucht, am Abend war's, als ob du mit ganz Kranichstedt verwandt wärst – weißte noch, wie's brannte, un wie sie gelaufen kamen?«

»Schweige, Monich. Dort hat es sich um meine verewigte Verwandtschaft gehandelt.« Herr Kortüm hörte auf zu wandern und sah wieder zu seinem Bildnis auf.

»Aber hier, hat die Dame mit dem Rosaband gesagt – 'ne forsche Dame, Kortüm, alles was sein kann – hier handelt sich's um lebendige Verwandtschaft – verdammt lebendig«, murmelte Monich und trank nachdenklich. Kortüm sah ihn fragend an. Monich fuhr fort: »Sie hat nämlich auch noch gefragt, ob das wahr wäre, daß du hier oben Wälder hättest un größere Liegenschaften –«

»Das fragt mancher«, sprach Herr Kortüm mit hochgezogenen Augenbrauen. Er stand sehr aufgerichtet vor dem Kamin.

»Ja, un ob du nich auch eine gut gehende Luftkuranstalt betriebst, wollte sie wissen. Un du bautest doch jetzt – merkste was? Siehste, Kortüm, wenn Verwandtschaft, von der man nischt weiß un die eigentlich gar keine is, wenn die so viel von einem selber weiß un dann auch noch persönlich kommt – du, Kortüm . . .«

Monich machte ein bedenkliches Gesicht.

Aber leichtfertig zuckte Herr Kortüm mit den Schultern: »Eine Verwechslung. Es gibt solche Verwechslungen. Ich habe da etwas Erfahrung. Lebende Verwandtschaft hätte sich mir längst bemerklich gemacht.«

»Etwa als dir's schlecht ging?!« rief Monich. »Nee, Kortüm, wenn's einem dreckig geht, macht sich lebendige Verwandtschaft meistens nich bemerkbar. Aber wenn's einem gut geht – na prost, Kortüm.«

Sie tranken. Holdermann trat ein und sah sie trinken.

Er setzte sich an ihren Tisch und dachte bei sich: Herr Kortüm trinkt – sieh da . . . es muß ihm also an der wahren Heiterkeit gebrechen. 279

 


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