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Verantwortlich für den Inseratenteil des »Besenröder Anzeigers« war Herr Menger. Unruhig rutschte Herr Menger auf seinem Schreibtischstuhl herum: die »Kleinen Anzeigen« ließen auffallend nach, während doch das Geschäft ringsum im Schottengelände blühte. Man war wiederholt genötigt, große Anzeigen einrücken zu lassen, in denen sich die Druckerei des »Anzeigers« zur Ausführung von Verlobungskarten, Festgedichten, Diplomen, Ehrenurkunden und sonstigen Dokumenten aufs wärmste empfahl. Gewiß hatten auch solche Selbstanzeigen ihren Wert, aber sie brachten nichts unmittelbar ein.
531 Die Redaktion legte denn eines Tages Papierschere, Kleisterpinsel und was sonst zur Herstellung von Nachrichten notwendig ist, aus der Hand und beriet. Alle Fehlerquellen wurden erwogen, farbige Zeichnungen vom Schottengelände entworfen und an jede Herdstelle eines erfolgreich Gewerbetätigen ein Fähnchen gesteckt. Zuletzt warf jemand sogar die Frage einer Herabsetzung der Anzeigenpreise auf. Bevor es jedoch zu diesem Äußersten kam, sollte Herr Menger das Schottengelände bewandern. Von Tür zu Türe sollte er gehen, die Kunst des Zeitunglesens kurz erörtern, er sollte die Liebe und das Vertrauen zur Zeitung stärken, insbesondere aber den Sinn für Werbung kräftigen. Herr Menger sollte kein Blatt vor den Mund nehmen und ruhig die unter Fachleuten bekannte Tatsache auch der Laienwelt mitteilen, daß man nämlich mit Hilfe sachgemäßer Werbung einem Mann, der keine Nudeln ißt, mühelos einen Zentner Makkaroni verkaufen kann – ohne Werbung jedoch nicht einmal ein längst anerkannt gutes Buch wie etwa Dantes »Göttliche Komödie« mit Erfolg auf den Markt zu werfen vermag. Herr Menger sollte auch Belohnungen für treue Inserenten in Aussicht stellen; man könne zum Beispiel ohne nennenswerte Unkosten die Photographien bewährter Geschäftsfreunde gelegentlich ihrer fünfzigsten Wiegenfeste oder anderer wichtiger Jubeltage im Anzeiger bringen.
Herr Menger griff nach Hut, Lodenmantel und Regenschirm und machte sich auf den Weg. Schon nach zwei Tagen erstattete er den ersten Wanderbericht. Die Gesamtstimmung sei ungemein günstig. Nirgends habe er Widerstand oder auch nur Widerrede gefunden, vielmehr habe ihn jeder ruhig reden lassen und dann gesagt: »Jo, jo.«
Trotzdem zeigt das Barometer in der Abteilung »Kleine Anzeigen« keinerlei Änderung des Anzeigendruckes an. Schlapp wie bisher hing die Nadel auf der Seite, als wenn sie gar nicht mehr mit inneren Lebenskräften in Verbindung stände.
Herr Menger wanderte weiter. Er hatte nach knapp fünf Tagen acht Pfund abgenommen, und seine Frau kam bei der Geschäftsleitung um eine Wanderzulage ein; sie müsse ihrem Mann Stärkungsmittel zuwenden.
Eines Tages erschien der Abgesandte des »Anzeigers« auf dem Flügelhaus. Mit Interesse besichtigte er die neuen Anlagen des Sanatoriums und hatte die Genugtuung, vom leitenden Arzt, Herrn Doktor Langloff, persönlich in die alles Dagewesene weit in den Schatten rückende Liegehalle und in den nach letzten Errungenschaften der Akustik 532 konstruierten Ruheraum geführt zu werden. Als Herr Menger auf den Werbegedanken im allgemeinen und die Kuranzeigen im besonderen zu sprechen kam, fand er bei Doktor Langloff volles Verständnis für diese Art, das Publikum zu bearbeiten, und freute sich, aussprechen zu können, daß man doch immer wieder feststellen müsse, wie lebhaft die Großzügigkeit der königlichen Kaufleute aus dem Norden des Reiches absteche von dem gemütlichen Betrieb der mehr südlich gewachsenen Geschäftscharaktere. Doktor Langloff hatte dies auch schon bemerkt und wunderte sich nur, daß in der Presse des Schottengeländes so wenig geschehe, um diese Tatsache im Volke zu verbreiten. Die Herren kamen überein – vorbehaltlich der Entscheidung des Chefredakteurs – einen reich bebilderten Artikel im »Anzeiger« zu bringen unter der Überschrift »Das Schottengelände marschiert wieder voran!« und zwar gleichzeitig mit der ersten jener sechs von Langloff soeben in Auftrag gegebenen halbseitigen Anzeigen des Sanatoriums. Unter den besten Wünschen für beiderseitiges Wohlergehen in Geschäft und Familie empfahl sich Herr Menger und wandte seine Schritte nach Besenroda.
»Wo wollen Sie denn hin?« rief ihm der Doktor nach.
»In den Ort hinunter. Da habe ich noch –«
»Aber – besuchen Sie denn nicht auch die Echostube?«
Oh, dieses Lokal hätte Herr Menger übersehen: »Ist das nicht nur so eine Art Wegschenke?«
»Das gewiß – aber gehn Sie ruhig mal hin. Meinen Informationen nach würde ich mich wundern, wenn Sie sich in der Echostube nicht wundern müßten, Herr Menger.«
Unten is einer von der Presse, hat'r gesagt!«
»Wo ist er her?« Kortüm schob seine Rechenbücher beiseite und sah mißtrauisch den Laufjungen an.
»Von der Presse. Er muß Sie dringend un sofort sprechen, hat 'r gesagt.«
»Dringend, so. Und sofort, hm.« Am liebsten hätte der Echowirt bestellen lassen, er lese wenig, wisse deshalb so gut wie nichts und käme nicht. Da Kortüm aber die Erfahrung gemacht hatte, daß Selbstnichtlesen wenig daran ändert, daß andere lesen, entschloß er sich sehr schlechtgelaunt, in die Gaststube hinunterzugehen.
Herr Menger saß am Mitteltisch, trommelte mit den Fingern der linken Hand auf der Tischplatte, sah die ungeheure silberne Windfahne zu seinen Häupten an, wies aber dabei mit der rechten Hand auf die 533 Wände der Echostube und sprach: »Was haben Sie dem ›Besenröder Anzeiger‹ hierzu zu sagen?«
Herr Kortüm verneigte sich ein wenig und sagte: »Kortüm.«
Herr Menger verneigte sich nun auch etwas: »Menger.«
»Bitte, Herr Menger?«
»Was ist das?« Der Vertreter des »Besenröder Anzeigers« wies abermals auf Kortüms Inschriftenwände.
»Die Echostube ist diese Gaststätte benannt. Und dies, Herr Menger, sind ihre vier Wände.« Kortüms Blick schweifte über die Wandflächen. »Sie finden es befremdend? Ich auch. Am Anfang wenigstens. Jetzt nicht mehr. Diese Gaststube steht eben an einem Kreuzweg. Jeder muß hier durch. Ja, die Mitte, Herr Menger. Liegen Sie einmal in der Mitte! Da werden Sie vieles erleben, was Sie – am Rande wohnend – nicht für möglich halten. Aber wenn ich nun so das Ganze überblicke, muß ich sagen: sofern einer oder zwei oder drei an saubere Wände mit Blei- oder Rotstift schreiben, sieht das niederträchtig aus. Denn eine geringfügige Schreiberei stört die reine große Fläche. In diesem Falle haben Narrenhände die Wände beschmiert. Wenn aber dieselbe Tätigkeit ausgeübt wird von hundert und noch mehr Narren, so wirken die Wände merkwürdigerweise nicht mehr beschmiert. Sie haben vielmehr ein eigenes Leben gewonnen. Es lebt. Wie ein von oben bis unten mit Schriftzeichen bedecktes reines weißes Papier nicht mehr als beschmiertes Papier wirkt – denken Sie etwa an ein Blatt des ›Besenröder Anzeigers‹. Ja«, Herr Kortüm wies mit großer Armbewegung von einer Wand zur anderen, »als ein Lebewesen eigner Art lebt es. Es muß ein Gesetz der Multiplikation geben, wonach die Quantität eine Qualität erwirkt – für einen Koch und Gastwirt, Sie verstehen, ein schmerzlicher Gedanke – aber«, Herr Kortüm klopfte mit dem Fingerknöchel an die Wand, »aber als eines ist's ein Fleck; mal Million jedoch sieht's aus, als müsse es so sein.«
Tief erstaunt hörte Herr Menger diese Rede an.
Dann aber faßte er sich und fragte nur kurz: »Und was nehmen Sie für die zweizeilige Anzeige?«
»Nehmen? Nichts, Herr Menger. Nicht einmal Kenntnis nehme ich in der Regel von diesen Inschriften. Ich lese überhaupt nicht viel.«
Menger sah Herrn Kortüm ratlos an. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Echowirt sprach, klang so echt. Und dazu dieser ganze Anblick: die silberne Windfahne, und wie dieser Herr Kortüm da stand und sich abhob von diesen Wänden, die wie bei den alten Ägyptern bedeckt 534 waren mit Schriftzeichen von oben bis unten; eigentlich war es zum Fürchten.
»Sagen Sie, Herr Kortüm, wann schreiben denn die Leute ihre Anzeigen hier an?«
»Früh, vormittags, mittags, nachmittags, nachts.«
Jetzt sah Menger den Echowirt verstohlen an und fragte: »Die Gäste trinken dabei natürlich?«
»Manche essen auch beim Lesen.«
»Da haben wir's!« Herr Menger stand plötzlich auf, die Windfahne zitterte leise und blitzte im Licht: »Sie erheben also indirekte Gebühren.«
»Ich bin ein Gastwirt. Was sollte aus mir werden, wenn alle Gäste so dasäßen wie Sie, Herr Menger, und nichts verzehrten?«
Gleich am Tage nach Mengers Besuch bot sich Herrn Kortüm die Möglichkeit, dem ganzen Schottengelände zu beweisen, daß Gäste an die Wände schreiben können, so viel sie wollen, wenn der Wirt es nicht verbietet. Und wenn schon die Bevölkerung die Wände der Echostube »Die Kortümzeitung« nennt – »ein Zeitungsblatt ist ein papierener Gegenstand«, sagte Herr Kortüm und schlug heftig auf zwei eingeschriebene Briefe, die sehr ähnlich lauteten, obgleich sie aus zwei verschiedenen Schreibmaschinen kamen; den einen hatte der »Besenröder Anzeiger« und den anderen das »Esperstedter Tageblatt« geschrieben. In beiden Briefen war von gewerbsmäßig betriebenem Anzeigenwesen die Rede, von indirekten Gewinnen aus dieser gewerblichen Tätigkeit und sogar von unlauterem Wettbewerb.
Früher hätte Kortüm den Streit ums Recht aufgenommen. Aber die Echostube war eben nicht mehr das Flügelhaus. Der Echowirt Kortüm glich freilich dem Flügelhauswirt Kortüm noch aufs Haar – nur sein Lebensraum hatte sich verengt. Wie Kortüm sich drehen mochte, er stieß an Wände. Wohin er blickte, überall so eine verdammte Mauer. Kortüm riß wie Noah die Dachluken auf, ja. Aber so freie Luft wie früher atmete er nicht mehr. Und wenn ihm einmal ein großer Gedanke kam und er sich ganz aufrecken wollte, mußte er fürchten, ans Gewölbe zu stoßen. Wenn jedoch die Torheit, die Trägheit, der Zopf und das Bankkonto, in weiteren Kreisen bekannt unter dem zusammenfassenden Namen »Schicksal«, diesen Herrn Kortüm in ein Schneckenhaus steckte, so barst eben die Kalkschachtel, und das Leben flutete unaufhaltsam an ihn heran und schrieb seine wundersamen Zeichen an seine Wände, mehr Zeichen, als die Wände fassen konnten. Gott, laß uns leben: mit 535 diesem Spruch trank sich Kortüm früher im stillen selber zu – jetzt sagte er beim ersten Schluck ziemlich laut vor sich hin: »Auf den Tag!« Jeden gottlob durchlebten Tag strich er aus auf dem Wandkalender; in fünf Jahren war der Pachtvertrag abgelaufen, dann kam Kortüms großer Silvester. »Auf den Tag« murmelte Kortüm, »vier Jahre und dreihundertvierzig Tage muß ich noch mit mir reden lassen.« Und Kortüm überwand sich, tauchte die Feder ein und teilte den beiden Zeitungen höflich mit, daß er das Beschreiben seiner Wände verbieten werde. Ja, er bestellte in den Druckereien der beiden Zeitungen gleich die nötigen Verbotstafeln, zwei in Esperstedt, zwei in Besenroda.
Da Kortüm nur verlangt hatte, die Tafeln auf gutes haltbares Papier zu drucken und auf dicke Pappe zu kleben, läßt sich denken, daß die Druckereien nun das ihrige taten, um dem Unwesen zu steuern. Die Verbotstafeln hatten die Maße von mittleren Fensterläden. Jedoch Kortüm überwand sich abermals und hing sie auf, an jeder Wand eine Tafel.
Der Erfolg war erstaunlich.
»Das laß ich mir gefallen«, sagte Kersch, »die Wände waren grade voll. Aber nu is je wieder Platz«, und machte auf dem breiten freien Rand einer Verbotstafel bekannt, daß er einen stubenreinen Hund zu verkaufen habe. Wohl viermal am Tage untersagte der Echowirt das Beschreiben der Verbotstafeln. In seiner Gegenwart inserierte auch niemand. Aber nach acht Tagen waren die vier Tafeln vollgeschrieben, und Hiebrich riet Herrn Kortüm, nun doch etwas größere Tafeln drucken zu lassen, auf die mehr draufginge.
Es kam nicht zu einem erweiterten Neudruck. Als Herr Menger von dem Mißbrauch der Verbotstafeln erfuhr, entschloß er sich zu einer Lokalbesichtigung und nahm zwei Berufsfreunde mit.
Die Angelegenheit war für beide Teile strittig. Man suchte nach einem Mittelweg.
»Lassen Sie die Wände schwarz anstreichen«, sagte Herr Menger.
Kortüm antwortete gar nicht auf einen solchen Vorschlag.
»Die silberne Windfahne«, redete ein Mitarbeiter Mengers zu, »wird sich dann sehr wirkungsvoll abheben.«
»Jawohl!« rief Kortüm zornig, »wie in einem Sarggeschäft!«
Am Ende einigten sich die Gegner auf eine tiefdunkle neutrale Ölfarbe. »So können Sie Ihre Wände ja doch nicht auf die Dauer lassen«, tröstete einer der Presseherren den Echowirt. – 536
Als der Malermeister seine Leitern aufstellte, murmelte er: »So was hat die Welt noch nich gesehn.«
Auch Lotte bedauerte die Vernichtung der Schreibflächen. Die Echokasse hatte sich recht gut dabei gestanden.
Als aber der Maler wieder abgezogen war und das Schottengelände den neuen Tatbestand vierundzwanzig Stunden geprüft hatte, ging mit Kortüms Wänden eine Veränderung vor sich, die bewies, daß das Volk sich gutwillig keine schlechte Angewohnheit nehmen läßt, die sich bewährt hat. Zunächst war der Zulauf so stark, daß Kortüm einen Hilfskellner einstellen mußte. Jeder wollte eine Gaststube sehen, wie es keine zweite auf Erden gab, düster, geheimnisvoll. Die Zecher saßen wie in Klostergewölben bei hundertjährigem Wein; so hat Auerbachs Keller ausgesehen, ehe das helle Jahrhundert die faustische Dämonie hinaustrieb. Auch im »Blutgericht«, dem alten Weinkeller unter dem Königsberger Schloß, weht von den Kurfürsten her noch ein warmer Hauch des Raumgeistes wie in Kortüms dunkler Stube um den zartduftenden Wein. Alle wollten das Mirakel des Schottengeländes mit eigenen Augen sehen. Manch einer erlebte es sogar. Der alte Kapitän Langloff, der gerade zu Besuch bei seinem Sohn im Sanatorium weilte, erschien in Kortüms Abwesenheit, um eigentlich nur einmal hineinzugucken. Als aber der Echowirt von seinem Geschäftsgang zurückkam, saß er immer noch fest vor Anker im tiefen Lederstuhl am runden Tisch unter der silbernen Windfahne, hatte eine Flasche Bordeaux vor sich und, wenn ihn Kortüm recht verstand, murmelte er, widerwillig mit dem Kopfe nickend: »Jederlei Hochachtung . . .«
Uralte rissige Steinfugen geben ehrwürdigen Gewölben die Hoheit der überlebten Zeit; die Echostube hatte keine alten echten Mörtelfugen, aber siehe – reizvoller als Fugenfiligran, spinniger als Spinneweben belebten Kortüms Wände buchstabgewordene List, Hoffnung, Geldgier, Rüpelei, Lebensangst und Sorge; in wenig Wochen überzog sich das schwärzliche Gewände von neuem, nur noch gespenstischer als vordem, mit Wirklichkeit. Bleistift und Rotstift hinterließen keine werbekräftige Spur auf der Ölfarbenwand – die Inserenten zogen Kreide aus der Tasche und schrieben weiß auf schwarz, was sie los sein oder haben wollten.
In wenig Wochen bedeckte das Leben Kortüms Wände von unten bis oben mit seinen geheimnisvollen Zeichen. Im Anzeigenteil der Zeitungen ist manchmal Lebendigeres zu lesen als vorne in den Leitartikeln; unsichtbare Hände schrieben an Kortüms Wände Wahrheit 537 um Wahrheit. Groß waren die Echostuben nicht, keine Säle jedenfalls, aber wer hier saß, glaubte im gesamten Schottengelände zu sitzen, das dieser Herr Kortüm für seine Gäste nur ein wenig zusammengerückt und unter Dach gebracht hatte.