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Am Rande der braunschwarzen Erdschale, aus der das Heilbornwasser quillt, steht tropfnaß ein krüpplich verwachsenes Eichenstämmchen – hier war die Stelle. Aber heute mochte Klaus Schart nicht hinknien, um eine Handvoll Wasser zu schöpfen und zu schlürfen. Die ganze Luft war ein schwebend graues Nebelwasser. Die kleine Eiche hier, dort die Quelle, der Nußbaum drüben: nach dieser Richtung mußte sich der dunkle Bergriegel hinziehen, in dessen Mitte eine zartgelbe Lichtung und inmitten der Lichtung ein buntes Hauswürfelchen schimmerte – Nebel, unbeweglicher grauer Nebel. Klaus wühlte in seiner Rocktasche, brachte einen Kompaß hervor und drehte sich nach der zitternden Nadel. Nun war er sicher, daß seine Augen der unsichtbaren Lichtung zugewandt waren, von der an jenem Ostersonnabend ein blitzender Strahl herüber spiegelte bis zu diesem Bornhügel.
Nebel. Nichts konnte Klaus deutlich erkennen als nahe vor sich ein paar entlaubte Zweigstecken. An der Unterseite der glänzend braunen Stäbchen perlten Wassertropfen. Und ein Teppichstück verfilzten Grases zu seinen Füßen sah er noch. Unbewegte naßsickernde Luft sonst.
Ich habe kein Glück, dachte Klaus. In Romanen geht einer in den Wald. Da kommt ein Mädchen zwischen den Bäumen heran. Wie heißt du? fragt der Mann. Henriette, sagt sie. Es kam aber kein Mädchen zwischen den Bäumen. Die Wirklichkeit war ganz anders. Da standen die nassen hölzernen Baumsäulen. Hier stand er. Und niemand sonst. Nebel noch, ja, und der liebe Gott vielleicht . . . Jung sein ist furchtbar schwer. Und jene Alten, die nie erwachsen werden, weil sie irgend etwas von dem, was die Schildbürger das Glück nennen, am Jungsein verhindert hat, die sagen zu der jugendlichen Not hehe, wenn sie männlichen – hihi, wenn sie weiblichen Geschlechtes sind, mehr wissen sie nicht. Klaus Schart tat einen bösen Fluch und stampfte ins Gras.
Aber ganz vergessen und stehen gelassen im Nebel ist selten einer. Klaus fuhr hoch aus seinen Gedanken. Lärm schallte näherkommend aus 209 dem Dunst, Schreien, Lachen. Schattenhafte Gestalten tauchten auf, wurden deutlicher, Getümmel um Klaus. »Hierbleiben!« rief er, »ihr sollt euch ausruhen!« Seine Schuljungen benutzten die Wanderpause zu einem Räuberspiel. »Ihr werdet ja klatschnaß!« schrie Klaus hinter ihnen her. Der Nebel hatte den Schwarm verschluckt. Gedämpft klangen die Stimmen aus dem Tannengrund heraus. Laß sie, dachte der Schulmeister, so machen die Jungen auf ihre Art den verunglückten Ausflug lebendig. Bei einem Hügel führen alle Pfade zum Gipfel, der Sammelpunkt ist nicht zu verfehlen. Und gerade diesen Ausflug hatte er so gut vorbereitet! Weit hinten in Thüringen saß Klaus, und dachte doch an nichts als an dieses Besenroda, das er trotzig verlassen hatte, an den Schottenhügel, an den Teich auf diesem Hügel, an den Spiegel auf diesem Teich und an das Bild Konstanzes in diesem Spiegel. Wegen einer Frau war er fortgelaufen – genau gerechnet: wegen zwei Frauen hatte sich dieser junge Mann von der Behörde nach Hörsel versetzen lassen, und in all den langen Monaten war ihm nicht der Mut zu einer Reise in das Land ums Schottenhaus gekommen. Als nun Klaus aber ein lehrreiches Ziel für die diesjährige Schulwanderung auszusuchen hatte, glitt zwar sein Finger auf der Landkarte ganz richtig den Rennsteig von Hörsel bis zum Nesselhof entlang. Dort jedoch blieb er haften und statt weiterzugehen auf der grünen Rennsteiglinie nach den Dreiherrensteinen hin, rutschte er immer scharf nördlich und kreuzte unversehens jene große Straße Biskaya-Taschkent an der Stelle, wo das Schottenhaus steht, wo der Spiegelteich schimmert . . .
Das Tropfen des Nebels vernahm Klaus und aus unendlichen Weiten her ganz zart das singende Hupen eines Wagens. Er summte den Durdreiklang auf dem Hupenton. Jetzt den Mollakkord. Musikalisch war er schon. Eigentlich müßte er eine Oper schreiben. Dann würde das Antlitz im Spiegel zwischen den Farnkräutern lächeln: das hast du geschrieben, Klaus Schart? . . . Ach, wieviel Jahre müßten vergehen, bis er nur das Vorspiel der Oper zu schreiben vermöchte? Und wo war dann Konstanze? Aber ein Bild könnte er malen . . . ein großes Bild . . . die Kunst des Zeichnens hatte Klaus von Generationen werktätiger Vorfahren her im Blut. In verlassenen Stunden, an endlosen Sommernachmittagen, wenn ganz Hörsel auf dem Felde war und tiefe fliegendurchsummte Stille über dem Dorfe lag, hatte Klaus ein Bild begonnen: ein riesengroßer Nachthimmel mit vielen Sternen, ein schmaler Streifen fernen Landes im weißen Mondlicht unten am Rand und in der 210 Mitte ein Hügel, darauf ein kleiner Hauswürfel . . . aber es war ja alles so falsch und dumm: gewaltig mußte der Schottenhügel im Raum stehen, nur links und rechts von ihm eine Spur Weltall zu sehen . . . nein, Musik half ihm jetzt nicht, Bilder waren lächerlich . . .
Der Nebel tropfte, im moosigen Grase gluckerte das Wasser – vielleicht war gar nichts mit ihm. Vielleicht war er einer von den Vielbegabten, die für die Fachleute zum Verbrauchen da sind. Klaus biß die Zähne zusammen vor Schmerz, schloß die Augen und sah Konstanzes Bild auf dem Wasserspiegel zittern – Wellen glitten drüber hin, das Bild verzerrte sich, da – ihr Mund, ihre gelöste Haarflechte spiegelte sich schon drüben bei den Wasserrosen, jetzt fuhr ihr Lächeln auf einer Welle hin, plötzlich sah das Lächeln wie Spott aus, die Welle überschlug sich, das Gewässer lag glatt und still, und große Wolkenbilder schwebten auf dem Teich . . . Das werklose Schaffen schüttelte ihn. Die schwere Qual des jungen Menschen, der noch gar nichts konnte, der nicht einmal wußte, was er können wollte, und doch bereits mit Erleben begonnen hatte. Klaus knitterte aus der Tasche eine Zeitung und schrieb auf den freien unbedruckten Rand: »Ich decke mich zu mit der Nacht – Ich ziehe die Sterne bis ans Kinn –.« Der Bleistift zerriß das feuchte Papier, stach in seine Hand. Klaus sah die unleserlichen Worte an, schämte sich und zerknäulte das Blatt wie hundert andre Versezettelchen. Was war er denn! Ein eingeregneter Schulmeister, der heute vor Abend noch zwanzig ungezogene Lümmel auf den Besenröder Bahnhof und in der Eisenbahn bis nach Hörsel schaffen mußte.
Vorsichtig stiegen Meister und Schüler auf dem glitschigen Gras den Bornhügel hinunter und stapften dann den aufgeweichten Schluchtweg entlang. Die Wanderung durch den nebelnassen Tann war langweilig und der Aufstieg zum Schottenhügel beschwerlich. Wann denn nun das Schottenhaus käme, fragte endlich Peter, dem die Beine weh taten und der sich genau gemerkt hatte, daß es in diesem Haus heiße Kartoffelsuppe mit Wurst drin geben sollte.
»Dort«, sagte Klaus. Zwischen den Stämmen blinkte ein Stück freier Himmel. In diesem grauen Himmel stand ein Stern, glänzte, drehte sich und zeigte nun ein klar geschnittenes Bild – die lachende Maske der Windfahne des Herrn Kortüm. Gebäudeteile wurden sichtbar. Jetzt bahnte sich Klaus quer durchs Unterholz Bahn: dort muß der Weißdorn stehen, auf dem damals die Amsel sang – Klaus stand starr. Da lag der herrliche runde Dorn, roh gefällt. Und der Veilchenhang! 211 Weithin ein einziger Mörtelhaufen! Steinbrocken . . . War Herr Kortüm gestorben? Kalk auf den armen Veilchenblättern? Klaus nahm eine Handvoll des feuchten Teiges, drückte ihn zusammen, sah die Bröckel lange an. Die Jungen drängelten heran, guckten neugierig mit: ach, bloß Dreck. Sie stießen sich an, kicherten, blickten sich nach Besserem um – hier oben soll die Mittagspause sein, hier muß also irgendwo ihre Wurstsuppe kochen. Lärmend liefen sie voran ins Haus. Klaus folgte ihnen sehr langsam. Erbittert sah er die herrlichen wilden Farne von Leitern, Balken, Brettern geknickt, erstickt. Ganze Festungsmauern von Backsteinen waren aufgeschichtet. Durch die Lücken dieses losen Mauerwerkes blinkte Wasser. Mit einem Sprung begann Klaus hinzulaufen, kletterte über Gerümpel – sein Teich, sein Traum und Erlebnis! An einer Wasserlache stand eine Bretterbude. Ein schiefes Ofenrohr ragte aus der Wand. Im Wasser schwamm ein Holzpantoffel. Als Klaus das erstemal von diesem Ufer zum Haus ging, war ihm Konstanze entronnen, wie ein Rauch aus seinen Händen. Nun war auch der Teich tot. »Herr Kortüm ist gestorben«, murmelte Klaus. Stumpf blickte er vor sich hin, ging zum Haus. Da staken Meßpfähle in der Erde, eine tiefe Grube war ausgehoben – wenn den Schulmeister nicht der Schreck übermannt hätte vor dem gefällten Dorn und dem geschändeten Teich, hätte er längst verstanden, was er jetzt endlich begriff: »Herr Kortüm ist nicht tot! Im Gegenteil: Herr Kortüm baut!«
»Guten Tag.« Liese lachte ihn an.
»Herr Kortüm?« begann Klaus.
»Der is verreist.«
»Er baut doch!«
»Ja, aber jetzt läßt er sich erst noch abmaln.«
Klaus legte das eine Ohr etwas schief, als ob er den Widerhall dieses Wortes, das alte Echo vom Lohberg, abwarten wollte – »Nein . . .« sagte er leise.
»Doch! Er wird abgemalt. So groß, wie er is« – wie im Traum war der Schulmeister neben Liese in den Saal getreten – »un dort, übern Kamin, da hängen wir'n hin.«
Die Schulbuben saßen schon an der langen gedeckten Tafel, knufften sich um die besseren Plätze, sahen erwartungsvoll ihren Lehrer an – aber Klaus machte ein unverantwortbar dummes Gesicht. Er starrte auf die Wand über dem Kamin. Viel war eigentlich gar nicht zu sehen. Nur ein kleines buntes Bild hing dort. Zwischen Glas und Rahmen war ein Lorbeerblatt eingeklemmt. Klaus trat näher. Das Bild stellte 212 ein zierlich gemaltes Wappen dar. Das Wort »Torstenson« stand in Druckbuchstaben unter dem Wappen.
»Nich wahr, die Wurst schneiden wir doch gleich nein in die Suppe?« fragte Liese.
Torstenson? Hieß nicht jener Mann so, von dessen Sarkophag die dunkle Rede ging, Herr Kortüm habe ihn eines Tages heimlich in Brand gesteckt? Und nun Lorbeer? . . . Klaus sah das Lorbeerblatt an, zog es aus der Rahmenspalte –
»Ich meine: gleich nein in die Suppe?« drängte Liese. Die Jungen hatten Hunger.
»Natürlich«, sagte Klaus und steckte in Gedanken das Lorbeerblatt in seine Tasche.
Im Saale war es still geworden. Nur die Löffel klapperten. Die Jungen aßen, als ob sie niemals satt werden wollten. Klaus konnte sie ruhig Liese und ihrem Schöpflöffel überlassen. Er setzte sich mit seiner Kaffeetasse an das große Nordfenster.
Nebel, Nebel.
Liese brachte Milch und Zucker.
»Ja, die alten Bekannten«, begann Klaus, »kommen die noch öfter hier herauf?«
»Wir waren voll besetzt. 's ganze Haus 'n ganzen Sommer.«
»Herr Wingen?«
»Nee, der nich.«
»Hm. Aber – ja . . . Verwandte von ihm?«
»Ich weiß nich.«
Klaus gab sich einen Ruck: »Frau Wingen vielleicht?«
»Ach die Lotte? Die war auch da.«
»Na, und Schauspieler natürlich auch?«
»Ich weiß nich.«
»Aber Schauspielerinnen doch?« forschte Klaus vorsichtig.
Eben wollte Liese wieder »ich weiß nich« sagen. Klaus war rascher. Er setzte eine sachliche Miene auf: »Frau Konstanze Schröter?«
»Jaaa!« rief Liese, »die is aller Nasen lang da.«
»Oh . . . öfter – wie oft? – ich meine: jetzt wohnt wohl niemand hier?«
»Nee.«
»Gar niemand?«
»Nee.«
»Wann war sie denn zuletzt hier?«
213 »Wer'n?«
»Frau Konstanze Schröter«, sagte Klaus ärgerlich.
»Ach so – nu, das kann so seine zwei Wochen her sein. Grade als Herr Kortüm zum Abmaln reisen wollte. Für sein Bild dortnhin.« Liese zeigte auf die Kaminwand. Aber Klaus blickte nicht nach der leeren Wand. Er sah versonnen zum Fenster hinaus auf den Teich und nickte: »Das Bild . . . Ja – der Teich spiegelt keins mehr.«
»Der kommt überhaupt weg«, sagte Liese verächtlich.
Der Schulmeister sah Liese erschrocken an: »Wohin denn?« Jetzt blickte Liese den Schulmeister an . . . Klaus verbesserte sich schnell: »Ich wollte sagen, warum denn?«
»'s war nichts Rechts mit ihm. Zum Schwimmen zu klein un zum Waschen zu groß. Nee, der hat sich nich bewährt.«
»Nein«, sagte Klaus und holte tief Atem, »der Teich hat sich nicht bewährt.«
Mit einem Ruck stand er auf: »Antreten!«
Die Jungen wurden auf die Landstraße geführt. Klaus hielt ihnen am Steinbruch einen lehrreichen Vortrag über Steine und ihre Schicksale.
»Aber die Steine sind's nicht«, schloß er seine Rede leise für sich. Der Schulmeister hatte beim Sprechen immer mißtrauischer diese stummen, klotzig unbeweglichen Steine angesehen, diese kalten scharfkantigen Unwesen, über denen oben, hart am Rande und schon halb im Nebeldunst ein Tannenbusch wuchs, ein verlassenes Ding, das sich mit seinen paar Wurzeln anklammern mußte über dem Abgrund. Klaus befühlte den graubraunen Porphyr: wie wenig ist Stein und Haus aus Stein und Dach und Tal und Hügel aus Stein und Erde und Landesbreite – wie furchtbar wenig: und wieviel ist der Mensch! Wie man sich drehn und wenden mag, diese Welt scheint eine menschliche Welt zu sein. Was war das Schottenhaus eben ohne den Herrn Kortüm gewesen? Tausend Kubikmeter umbauter Raum. Unmenschlicher Raum. Mauerwerk. Und sogar das quellend lebendige Wasser – was war der Teich ohne Konstanzes Bild? Klaus wäre schwermütig geworden auf dieser um das Hinfälligste schwingenden Erdkugel, wenn er am Bahnhof nicht plötzlich an einen kleinen dicken Mann gerannt wäre, der gar nicht hinfällig aussah: »Herr Monich!« rief er.
»Hä?« Monich drehte ihn kurzerhand nach dem Licht der Laterne. »Nee doch – Sie sind's?«
»Wie geht's?« fragte Klaus.
214 »Sie sehn's je«, lachte Monich fröhlich.
»Gut. Natürlich. Allen geht's gut, und mich habt Ihr vergessen.«
»So 'n kurzes Gedächtnis haben wir je nu nich. Freitags, oben unter der Windfahne, redt mannich einer mannichmal von Ihnen.«
»Gutes?«
»'s Schlechte vergißt sich je so leichte.« Monich drückte bei diesen Worten seine Augen zu ganz schmalen Schlitzen zusammen. »Na, un was Kortüm is –«
»Was sagt denn der?«
»Kortüm hat erst neulich gemeint, Sie fehlten ihm hinten un vorne.«
»Das freut mich!«
»Sie wären der brauchbarste Mensch, hat er gesagt, der ihm vorgekommen wäre. Weil Sie noch'n undeutlicher Mensch wären, hat er gesagt.«
Ein undeutlicher Mensch?« fragte sich Klaus immer wieder, als er inmitten seiner lärmenden Bande im Bahnwagen saß. »Undeutlich?« Er fröstelte, steckte die Hände in die Rocktaschen. Da knisterte etwas, stach ihn. Verwundert zog er's heraus, sah's an – ein Lorbeerblatt . . .