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Ehe noch Windhebels Brief den Lohbergwirt erreichte, trafen neue Gäste ein, dreißig auf einmal, junges Volk, lebendig und laut; man hörte es schon auf halber Schottenhöhe herankommen. Und Kortüm mußte im Bett liegen!
»Stannebein, ich stehe auf.«
»Noch zwei Tage Ruhe, hat der Doktor gesagt. 's is jetzt um zehne, hier sin die Troppen.« Er hielt seinem höchst ungeduldigen Herrn Arznei und Wasserglas hin und schloß beruhigend: »Für die Jungen sorge ich schon.«
Stannebein erwartete die Jungvolkschar an der Haustür, versammelte sie um sich und sagte drohend, im Hause hier läge ein Kranker, der Ruhe brauche. Die neuen Gäste gingen denn auf ihren benagelten Doppelsohlen die Treppe hinauf und richteten sich im Schlafraum ein. Da sie aber leise gingen, leise schwatzten, leise lachten und sich vorsichtig drängelten, ergaben diese Geräusche insgesamt einen summenden, tappenden, scharrenden Ton ganz neuer Art im Lohberghaus. Es war, als ob das Haus auf Rädern führe. Kortüm richtete sich im Bett hoch.
»Das kommt von dem vielen Holz im Hause«, sagte Stannebein entschuldigend, »auf den alten Segelschiffen klingt das auch so, wenn einer in der Koje liegt un drüber is was los. Aber ich habe den Jungen eingeschärft, sie sollen leise sein.«
»Ganz falsch, George, das klingt ja unheimlich. Wenn dreißig Jungen leise tun, brummt das erst recht. Ich muß unbedingt aufstehn!«
»Nee, Sie bleiben liegen.«
»Gehen Sie sofort hinauf und ordnen Sie an, die Jungen sollen sich so benehmen, daß man weiß, mit wem man es zu tun hat.«
669 »Jawoll«, sagte Stannebein und überreichte Herrn Kortüm den vor einer Stunde eingetroffenen Eilbrief. Kortüm öffnete und war sehr zornig. »Über meine Person wird auch dann nicht disponiert, wenn sie krank ist! Einen Mann wie den Doktor Windhebel nicht eintreten lassen, George! Sie rufen den Herrn. Sie sagen ihm, er sei mir hochwillkommen!«
Murrend führte Stannebein diesen Befehl aus.
Windhebel stieg die Treppe hinauf. War das Kortüms Tür? Nein, hier wohl. »Da drin is er!« sagte ein flinker Junge, »soll ich klopfen?« Windhebel nickte.
»Herein! Ah, Herr Doktor! Man bittet! Und einen von den neusten Gästen kriegt man endlich auch zu Gesicht. Beide herein!«
Kortüm schien ja recht munter zu sein. Windhebel nahm den Jungen bei der Hand und trat an Kortüms Bett. Das Auge des Kranken war klar. Kortüm sah frisch aus. Bald wandte sich das Gespräch von der Krankheit weg.
»Aber Sie, Herr Doktor! Und Ihre Arbeit. Wird es Ihnen nun nicht zu laut werden?« Kortüm sah den Jungen an, einen schlank aufgeschossenen Zwölfjährigen mit Kinderaugen, feinen Gelenken, sehnig und straff. »Wie heißt du, mein Sohn?«
»Hans Kühne.«
»Hans. Aha. Sehr schön. Hat gute Art, Herr Doktor, wie? Die Erdbeeren sind aber noch nicht reif, Hans. Pflaumen gibt's auch noch keine. Die Buben hätten noch vier Wochen die Hosen auf der Schulbank durchscheuern sollen, Herr Doktor. Lernt ihr denn auch ordentlich, wenn ihr in der Schulzeit in der Welt rumlauft?«
Hans antwortete zuversichtlich: »Ja.«
»Ja, sagt er. Haben Sie gehört, Herr Doktor? Ich wünsche, ich könnte auch so prompt ja sagen. Habe nicht viel gelernt in meiner Jugend. Weiß von vielem allerlei. Man nennt das Halbbildung, wie? Hm. Nun, ich kann kochen und –«
»– und allerlei noch, Herr Kortüm: leben, zum Beispiel.«
»Schon gut« – der Kranke zeigte auf die Medizinflasche – »was man so leben nennt zuweilen.«
Kortüm wiegte den Kopf hin und her. Er hatte seit Tagen nichts zu tun, als grübelnd in den Federbetten zu liegen, und wäre sich mit Vollbildung wohl komfortabler vorgekommen in seinem untätigen Zustand. »Bei dem Sohne eines Gastes habe ich vergangenen Sommer Schulbücher gesehen – Herr Doktor, die haben es heute gut. Man liest und versteht alles. So einfach geschrieben, so klar gemacht.«
670 Windhebel fing an, seine Brille zu rücken.
»Im ersten Heft war die Erdkunde im Umriß enthalten«, fuhr Kortüm fort, »ich kenne die Erde ja nur von meinen Reisen, aber wie sie einem da in Zeichnungen deutlich gemacht wurde« – Kortüm schüttelte den Kopf – »und im nächsten Heft wieder eine Stufe deutlicher, und so aufwärts, von Stufe zu Stufe, ja Herr Doktor, unsereiner überlegt sich denn, auf welcher Bildungsstufe man sich selbst eigentlich befindet.«
Windhebel hatte während dieser Worte seine Brille mehrmals abgenommen und wieder aufgesetzt. Jetzt klappte er die Bügel zusammen und trommelte mit der Nickelbrille auf der Marmorplatte des Nachttisches. Kortüm sah dem Trommeln zu, hob die Augenbrauen.
»Stufe«, murmelte Windhebel, »Unterstufe, Oberstufe – Stufe!« rief er plötzlich laut. »Ihre Treppe hat Stufen. Sehr schlecht beleuchtete Stufen. Aber das Leben hat keine Stufen. Der Mensch schreitet auch nicht von Stufe zu Stufe – wohin denn!«
Hans hatte die anschwellende Rede des Gelehrten benutzt, um zu verschwinden. »Warum schreit denn der Kerl da drinne so?« fragte Stannebein. »Ich weiß nich, sie reden von Stufen«, antwortete Hans. »In einem Krankenzimmer?« grollte Stannebein, »wenn er so weiter schreit, schmeiß ich'n naus.«
Aber Windhebel sprach schon wieder ruhig, mitleidig beinahe. »Der Mensch«, sagte er, »kommt nicht aus dem Mutterleib wie ein Hohlglas aus dem Glasbläserofen – leer nämlich, das nun stufenweise mit Bildung gefüllt wird, bis es voll ist. Oder auch vielleicht überläuft.« Windhebel fing wieder zornig zu trommeln an. »Der Mensch ist fertig von der ersten Zelle an, die sich teilt und wiederteilend wächst und in der Substanz die Einheit bleibt, die sie war. Herr Kortüm, Worte haben auch ein Leben, sind jung, werden reif, welken ab, sterben; das Wort Bildung war einmal frisch und war gut. Oh, herrlich war es! Jetzt ist das Wort nicht mehr zu verwenden. Mit Bildung, Halbbildung, Unbildung treffen Sie wenig Lebendiges mehr. Der sogenannte Bildungsstoff ist längst zu weiträumig und zu abgründig geworden, um mit seiner Hilfe die Persönlichkeit schaffen zu können, auf die man vor hundert Jahren mit Bildung zielte. Sagt Formung! Es ist nicht dasselbe. Die Millionen Einzelformen, deren persönliche Substanz gegeben ist von der ersten Zelle an, unveränderlich in sich selbst, einformen ins Ganze! Nicht Bildung ist in etwas Leeres zu füllen, sondern die Formbarkeiten außerhalb der Substanz sind zu ergründen; dann wird der 671 einfältige Mensch und der vielfältige gleichwertig einformbar in Volk – ohne aufgelöst zu sein.«
Kortüm sah vor sich hin. »Ich bin froh«, sagte er, »daß ich nur ein Gasthaus zu leiten habe und keine Schule.«
»Sagen Sie für Schule – Schulmeister«, antwortete Windhebel. »Der ist der einzige Mensch, den zeitlebens, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr Jugend beleuchtet. In diesem Licht ist er der Meister geworden, der das Leben wirklich in der Hand hat und zu haben vermag. Der Einzige. Die anderen Berufe bewerten ihre Leistung am Erzeugnis. Den Lehrer sieht keiner säen, und die Ernte erlebt er selber nicht mehr. Dem Schulmeister würde nur die Zukunft zu danken vermögen, wenn seine größte Leistung nicht eben – der unbekannte Schulmeister wäre.«
Der Lärm vor dem Hause hatte sich zum Tosen erhoben. Windhebel riß das Fenster auf: »Wollt ihr stille sein!«
»Vielleicht hatten sie eben einen guten Lehrer«, meinte Kortüm und rieb langsam sein Kinn.
»Der sie formt«, sagte Windhebel und schloß das Fenster.
»Und der sie belehrt.«
»Das – tut die Schule«, antwortete Windhebel und setzte seine Nickelbrille wieder auf.