Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der gute Ruf

Über dem dunklen Chor der Friedhofskapelle glänzten die alten Glasbilder der Fenster im Licht der Wintersonne. Ein buntes Scheibchen war herausgebrochen. Dort drang der Strahl ungefärbt hindurch und traf auf dem Fußboden das steinerne Frauenbild einer Grabplatte. Gerade auf die Ziffern des Geburtstages der Begrabenen fiel das Licht – auf einen längstvergangenen Tag. Das Bild der gemeißelten Frau war abgetreten, ihr verwischter Name in der Dunkelheit nicht zu lesen. Nur auf dem Zeichen ihrer Geburt zitterte ein blauweißes Lichtoval, so daß es grell aus der Dämmerung ausstrahlte. Vor dem Chor draußen bewegte eine Linde ihre kahlen Äste im leichten Wind, und in dem Lichtoval auf der Grabplatte schwankten die Schattenbilder der Zweige hin und her, die fernen Äste blasser, die nahen ein wenig dunkler. Längs durch das Lichtoval strichen die Schattenbilder – jetzt quer darüber. Dicke Knospenköpfchen erschienen. Einmal verschleierten viele Zweige zugleich das Licht, dann strahlte es wieder ganz weiß und bebend auf dem Geburtstag der unbekannten Frau.

Versonnen lächelnd nahm Wingen das Notenbuch unter den anderen Arm und sah dem Lichtspiel zu. Lotte zog ihn am Ärmel: »Du hast heute länger als sonst gespielt. Komm jetzt.«

Wingen zeigte auf das Lichtoval. Langsam wanderte es, ganz langsam von Häupten zu Füßen. Eben rückte es von dem Geburtsdatum fort, begann den Hochzeitstag der Toten zu bescheinen. Auch Lotte sah nun dem Spiel zu. Jetzt leuchtete der Hochzeitstag voll auf. Wingen drückte Lottes Arm an sich. Sie lehnte sich an ihn. In dem scharfen Lichtpfeil wirbelten die Stäubchen. Wingen folgte dem Strahl mit den Augen, bis an das bunte Fenster hinauf. Dort hatte der alte Glasmaler die Himmelsleiter dargestellt, an deren Fuß ein Mensch kauert und verzweifelt die Knie des Engels umklammert, der eben die Flügel zu spreiten beginnt. »Ich lasse dich nicht, du segenest mich denne«, stand darunter geschrieben in schweren altdeutschen Buchstaben. Die Farben des Engels und des offenen Himmels glühten in tiefem Altersdunkel. Das Bild war wohlerhalten. Nur da, wo die Augen des Engels hätten blicken müssen, war ein Glasstück herausgefallen – und dort brach das klare Tageslicht durch wie eine Wirklichkeit in ihr Gedicht. Nachdenklich glitt Wingens Blick an dem Lichtstrahl wieder abwärts. Das Lichtoval auf dem Grabstein war ein wenig weitergewandelt. Eben begannen die oberen Zifferpunkte des Hochzeitsdatums zu dunkeln. 227 Der Schatten eines schweren Knospenzweiges wischte darüber, wie ein Uhrpendel, hin, her, hin. Jetzt trat ein gemeißeltes Kreuz ins Licht. Lotte zog ihren Mann mit Gewalt fort. Er zeigte im Gehen über die Schulter zurück nach der wandernden Sonnenlampe, die eben den Todestag der Unbekannten ins Licht hob, und lächelte: »Hast du Angst, daß es weitergeht? Der Todestag ist nicht das Letzte.«

»Du redest, als wenn du kein Kind zu Hause in der Wiege hättest.«

»Sondern das Leben selber!« Die alte Kapelle hallte wider von seinem Wort. Er küßte Lotte. Dann gab er ihr die Hand. Lotte hielt sie fest. »Kommst du denn nicht mit?«

»Ich muß ins Theater – Probe.«

Lotte verzog den Mund: »Laß die doch machen.«

»Das könnte gut werden.«

»Du hast doch die Unvollendete spielen wollen.«

»Die Probe ist wichtiger.«

»So. Nach jeder Aufführung hast du gesagt, was die gespielt haben, hättest du gar nicht geschrieben. Und wir setzen jedesmal zu. Beim letztenmal habe ich die große Wäsche nicht bezahlen können.«

»Diesmal wird's.«

»Na, was Holdermann von eurer Probe gestern erzählte, klang nicht so, als ob du unbedingt mit dabei sein müßtest. Du hast nichts gesagt. Was war denn eigentlich?«

»Ach!« Wingen winkte ab.

Lotte hatte eine Abneigung bekommen gegen die verschiedenen Abenteuer, welche reihenweise und unerwartet den wenigen Aufführungen von Stücken ihres Mannes entsprangen. Sie werden Gott sei Dank seltener, dachte sie und meinte die Aufführungen. Jetzt bin ich doppelt bei der Sache, dachte er und betrat das Theater durch den Schauspielereingang. Am Schwarzen Brett hing die Probenübersicht des Tages. »Joel«, der Titel seines Stückes, war heute durchgestrichen. Ist jemand erkrankt? fragte sich Wingen und stieg eilig zu Nothnagels Zimmer hinauf.

Der Oberspielleiter empfing ihn mit weicher Liebenswürdigkeit: »Lieber, welche Freude«, er sah ihm dabei ganz nahe in die Augen und erfaßte freundschaftlich seine beiden Ellbogen. Beruhigt setzte sich Wingen.

»Ja« – Nothnagel – bot ihm Zigaretten an – »ich hatte enorme Schwierigkeiten.«

228 »Um so besser wird es«, sagte Wingen verbindlich.

»Reizend, wie Sie so etwas nehmen. Aber die Jenny Schmidt hätten Sie hören sollen. Und sehen! Sie war schon im Kostüm und geschminkt. Durch die Farbe liefen ihr die dicken Tränen. Und auf den Boden stampfte sie, schrie mich an: ›Sie – Sie – Haha! Und erst Joel! O Gott‹.«

»Tränen? Die Schmidt? Und Joel?« Wingen sah Nothnagel groß an.

»Ach – das kann man schließlich verstehen. Vom Standpunkt des Schauspielers aus. Wir denken über so was natürlich anders.«

»Über so was?!«

Der Spielleiter hatte Rock und Weste abgelegt, wie er es bei der Bühnenarbeit gewohnt war. Der Gürtel saß ganz tief. Jetzt verliert er die Hose, dachte Wingen in seiner Ratlosigkeit. Wirklich saß die Hose in üppigen Falten auf den weißen Gamaschen.

»Na ja doch, wir waren schon so weit in den Proben . . .« Er sah auf die goldene Armbanduhr. »Donnerwetter, ich muß auf die Bühne.«

»Ja – was denn?« fragte Wingen.

»Wie meinen Sie?«

»Sie sagten doch –«

Nothnagel hob die Schultern, vergrub die Hände in den Hosentaschen und schaukelte die Zigarette auf dem äußersten Lippenrand: »Sagen . . . was ist da zu sagen. Die Direktion hat Ihnen ja die Gründe ausführlich schriftlich dargelegt.«

»Geschrieben? Mir?«

»Haben Sie etwa den Brief noch nicht?« Nothnagel nagte an den Lippen.

»Ich verstehe kein Wort.«

»Daß wir Ihr Stück zu unserem unendlichen Bedauern leider absetzen mußten?«

Wingen wollte aufstehen. Er hatte plötzlich ein schwaches Gefühl im Magen, blieb sitzen, wo er saß, zerdrückte den Zigarettenrest langsam im Aschenbecher: »Sie wollen – Sie wollen den ›Joel‹ – nicht spielen?« fragte er nach einer Weile.

»Um Gottes Willen! Nur in dieser Spielzeit nicht! Nein doch! Vielleicht schon in der übernächsten!« Nahe bei Wingen und den Arm um seine Hüfte legend fuhr er fort: »Das heißt – unverbindlich gesagt. Von Mensch zu Mensch. Sie wissen: ich bin hier nur Regisseur.«

Nothnagel klopfte Wingen noch einmal freundschaftlich auf die 229 Schulter. Dann trat er zum Spiegel und knüpfte mit seinen winzigen knochenlosen Mädchenhänden sorgfältig die auffallend geschmackvolle seidene Halsbinde fest.

Nun hätte Friedrich Wingen ohne jeden Umweg so rasch wie möglich nach Hause laufen sollen. Die »Unvollendete« lag im zweiten Notenständer oben links. Und im übrigen würde ihn Lotte kraft der Gnade Gottes, die ihr verliehen war, sehr bald ins irdische Gleichgewicht zurückgebracht haben. Ihren Besuch konnte sie ja wegschicken. Aber wahrscheinlich wäre dieser Besuch bei Wingens Ankunft von selber nach knapper Verbeugung verschwunden. Der alte Kapitän hatte vorsichtig in der Tür gefragt, ob Wingen da wäre. Auf Lottes »nein« war er erleichtert eingetreten.

Der Teufel solle erstens ihn, den Kapitän Langloff holen, verlangte er zunächst mit tief grollender Stimme. Ferner möge der Teufel das Theater holen, und insbesondere müsse sich der Satan jenes Subjektes annehmen, dieses Schreihalses, der nicht zum letzten Kajütjungen auf seinem schlechtesten Schiff getaugt hätte, jenes verdammten –

»Aber Herr Langloff.«

Und nun vernahm Lotte endlich die erstaunlichen Vorgänge auf der letzten Theaterprobe ordentlich der Reihe nach und im Zusammenhang. Sie erfuhr, daß Langloff sozusagen zum Publikum ernannt worden war und den entsprechenden Gebrauch von dieser Ernennung gemacht hatte – auf Wingens ausdrücklichen Wunsch. Lotte erfuhr weiter, daß der Regisseur diese Unternehmung als eine Herausforderung empfunden habe. Und endlich, daß Wingens Stück plötzlich abgesetzt sei. Aus technischen Gründen . . .

Längst hatte Lotte aufgehört, das Kinderhemdchen mit der verzwickten roten Kante zu umhäkeln. Es war eine gute Weile still im Zimmer. Dann sagte sie plötzlich leise: »Kinder und Männer haben ihren Engel.«

Sie stand auf, atmete tief und war schön und jung, und ihre klare Schläfenlinie machte ihr Gesicht fest und straff. Langloff sah sie erstaunt an. Die kann ja gar nicht rechnen, dachte er; der Kapitän hatte immer gemeint, nur ihr Mann verstände nichts von Geschäften. Lotte stand am Fenster, sah nicht den Schloßturm drüben über den Dächern, die Wolken hoch über dem Turm nicht – sie lächelte und sagte: »Wirklich, sie haben Schutzengel, zwei zu Häupten, zwei zu Füßen.« Plötzlich wandte sie sich um und gab dem Kapitän die Hand: »Ich danke Ihnen schön.«

230 Langloff zog das Gesicht zusammen, machte Kapitänsaugen. Schämen wollte er sich nicht, und was hier zu sagen sei, wußte er nicht: kein Zweifel, fünfhundert Mark hatte er gerettet – auf Kosten dieser Frau etwa? Und sie merkte es nicht einmal? Langloff hatte manches Geschäft gemacht, ohne die Ursache des Gewinnes zu begreifen . . . aber das hier . . . Fast mitleidig betrachtete er die junge schöne Frau, der in diesem Augenblick doch offensichtlich die baren Honorare aus der Wirtschaftskasse wegschwammen: »Na, ›danke‹ ist denn ja wohl zu viel gesagt bei diesem Anlaß.«

Lotte war redselig, wie Langloff sie nie erlebt hatte: »Mein Vater hat Masken gemacht«, erzählte sie ihm, »mein Großvater und dessen Vater, und aus den Sorgen sind sie nicht herausgekommen ihr Lebtag. Nicht Masken, Herr Langloff . . .« Nebenan begann das Kind zu weinen, es war über ihrer lauten Rede wohl aus dem Schlaf gefahren. Lotte zeigte zur Schlafzimmertür: »Er hat doch ein Kind. Ein richtiges Kind.«

»Und Sie hat er ja denn auch, junge Frau«, sagte Langloff nachdenklich.

Wenn Wingen jetzt eingetreten wäre! Den Kapitän hätte er zur Tür hinausschieben sollen, seine Frau ansehen oder nicht ansehen, vor Freude ein Fenster einschmeißen oder vor Wut ein Lied singen oder Lotte auf den Schoß nehmen, diese Frau aus doch man bloß einfachen Verhältnissen, diese geborene Albrecht aus Besenroda – was er auch getan hätte, nur dieses durfte er nach menschlichem Ermessen nicht tun: ins Kaffeehaus gehen.

Aber dieser Mann ging hin, setzte sich auf ein Sofa, stierte dumpf in eine Tasse Kaffee hinein und sah und hörte zunächst nichts. Einmal sank das Sofa ein, wappte wieder hoch. Eine Dame hatte neben ihm Platz genommen. Sie holte einen Spiegel aus der Handtasche und betupfte ihre Wangen. Nun mußte sich ja bald zeigen, ob Lotte recht hatte und Männer gleich den Kindern ihre Schutzengel haben. Noch merkte Wingen nichts. Aber das gesamte Café nahm Kenntnis von der Anwesenheit der Dame. Vor wenig Tagen hätte man noch gesagt: Kitty ist auch da. Heute sprach das Café: Frau Dimitroff ist anwesend. Kitty war zornig. Alte Freunde grüßten sie plötzlich ehrerbietig und gingen weiter. Sind die Leute verrückt geworden? dachte Kitty. Sie hätte ihnen das längst ins Gesicht gesagt, aber die guten Bekannten machten einen raschen Bogen um sie. Kitty sah an sich nieder: sie war so hübsch wie je! Jetzt kam der Caféwirt. Früher hatte er bei Bestellung des Getränkes aus eigenem Antrieb hinzugefügt: Und etwas Gebäck darf ich beilegen? 231 Jetzt kam dieser Wirt, ließ die Arme hängen, drückte verlegen die Daumen an die Zeigefinger, machte eine ernste Verbeugung.

»Esel«, sagte Kitty ärgerlich.

Wingen blickte auf. Esel? Wen meint sie? Er hatte Kitty manchmal auf der Bühne als Statistin gesehen.

»So ein Esel«, wiederholte sie. »Haben Sie ihn gesehen? Wie er mich grüßte! Als ob ich eine barmherzige Schwester wäre.«

»Wer?«

»Der dort. Der Kaffeesieder.«

»Hm.«

»Überhaupt, was fällt den Leuten ein? Gestern hat einer Frau Dimitroff zu mir gesagt. So heiße ich doch gar nicht. Kitty Mollenhauer heiß ich. Frau Dimitroff war doch bloß meine Rolle beim Film damals.«

»Ja, Frau Di– hm, ich habe es auch so gehört.«

»Was!«

»Die Leute haben erfahren, daß Sie aus Rußland sind.«

»O Gott.«

»Und daß Sie eine große Heirat gemacht haben –«

Kitty stammelte bloß: »Deshalb . . . darum . . . gehn alle so um mich rum . . .«

Wingen zuckte die Achseln: »Je –«

»Woher wissen Sie denn das?!«

»Der Weinwirt Fuß hat es von einem gewissen Herrn Kortüm.«

»Von wem? Den kenne ich ja gar nicht! Das ist ja alles gelogen!«

Wingen zuckte die Achseln: »Je –«

Kitty kamen beinah die Tränen. Sie rückte ihrem Gewährsmann näher. Die Gäste nahmen davon Kenntnis und sprachen: »Es ist was dran. Sie ist jemand. Wingen, ein glücklich verheirateter Mann, würde nicht in öffentlichen Lokalen mit ihr Kaffee trinken, wenn sie nicht jemand wäre.«

»Aber«, begannen die besser Unterrichteten, »die Sache mit dem Bassisten damals . . .«

»Ach was – Klatsch.«

In Kitty dämmerte jetzt allmählich eine außerordentliche Erfahrung: daß nämlich die Verlassenheit eines Menschen manchmal von seinem guten Ruf herrührt. Der guten Kitty plötzliche Einsamkeit kam jedenfalls von ihrem plötzlich guten Leumund.

»Kortüm also«, sprach sie zornig, »ein Herr Kortüm – wo wohnt denn der Mann?«

232 Wingen zuckte die Achseln: »Nicht in der Stadt. Er ist nur zeitweise hier. Gesehen habe ich ihn auch nicht. Wir verstehen uns nicht recht. Ich weiß bloß, daß er sich von Holdermann malen läßt.«

Mit einem Schwung fuhr Kitty herum und sah Wingen aus blitzenden Augen an: »Ist das etwa der Herr mit der Papierrolle in der Hand?!«

»Papierrolle?«

»– und dem schwarzen Rock?!«

»Schwarzer Rock paßt eher. Ja, und so steht er da, und beim Sprechen legt er immer den Kopf zurück, sieht einen von oben an, kratzt sich dabei am Kinn –«

»Das ist er!« Kitty sprang auf: »Mit dem Mann werde ich reden!«

Elastisch eilte sie durch das Kaffeehaus. Die Stühle rückten, man machte ihr ehrerbietig Platz.

In schwerem Tabakgewölk wälzten sich heute die halblaut geführten seltsamen Gespräche lange hin und her. Jeder Gast hielt eine Zeitung in der Hand. Man las jedoch sehr wenig. Die geistig durchgearbeiteten Köpfe redeten bloß. Ein Fremder hätte glauben können, die Herren benutzten die Zeitung nur wie Bäuerinnen die Salatkörbe, wenn sie gar nicht pflücken, sondern bloß erzählen gehen wollen: mit Hilfe eines unbenutzten Arbeitsgerätes in der Hand gedeiht eine Rede genüßlicher.

Wingen bezahlte zwei Tassen Kaffee. Kitty hatte die ihre im Zorn vergessen. Aber Lottes Glaube an die Schutzengel der Männer hatte sich als wohlbegründet erwiesen, so besonders verwickelt die Sache im Kaffeehaus heute auch gelegen hatte und so ganz andere Vorstellungen von Schutzengeln im Schwange sind. Freilich erfuhr Lotte niemals den Vornamen des Engels, der in jener finsteren Wendestunde das Gemüt ihres Gatten rücksichtslos liebenswürdig abgelenkt hatte von der eigenen Not.

 


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