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Nee, allemal, wenn ich hier rein komme, erschrecke ich vor den beiden Larven an der Wand«, sagte die Frau des Schuldieners und setzte das Mittagessen für Klaus auf den Tisch.
»Sie müssen die lachende Maske ansehn, Frau Albrecht.«
»Die is je noch grauslicher.«
»Die lacht doch!«
»Deswegen eben! So ein Ding aus Pappe un dabei bunt, als wenn's lebt, un 's lebt gar nich un lacht doch – nee. Da war Ihr Vorgänger, der hatte sich auch so was in runder un erhabener Arbeit an die Wand gehängt. Bei dem war's aus Gips, un der eine war der alte Goethe. Aber nich bunt. Da wußte man doch gleich, daß er bloß aus Masse war. Haben Sie genug Soße? Sonst rufen Sie nur. Un gesegnete Mahlzeit, Herr Lehrer.«
Als Klaus allein war und unter den Deckel der einen Schüssel guckte, seufzte er: Auch runde erhabene Arbeit – Klöße. Natürlich. Ein Thüringer Sonntag ohne Klöße und Musik und Rostbratwürste ist eben nicht denkbar.
Er machte sich vorsichtig an die Arbeit. Klaus Schart hatte nicht den Sinn für das Wesen des Bauches. In dieser Welt des ewigen Solls dokumentieren die Bäuche das Haben der Individuen. Der Bauch kann gar nicht anders als individualistisch verstanden werden. Nun – Klaus würde den ganzen Nachmittag wandern, im Walde oben, auf Jägerpfaden, die keine Karte angibt. Vorher allerdings müßte er zu Herrn Kortüm hinauf und seinen Kaffee bezahlen, den er vorgestern getrunken hatte.
Schon vor dem Schottenhause merkte Klaus, daß heute und hier Sonntag gefeiert werden sollte. Im Freien belegte ein kleiner dicker Mietkellner die Tische mit bunten Decken. Ein dünner langer Aushilfskellner rückte Stühle zurecht. Die Vorbereitungen im Hause selbst 37 waren noch erheblicher. Zwei Mädchen stellten ganze Reihen von Kuchen, Torten und Süßspeisen auf. Ein Hilfsbierzapfer putzte die Messinghähne im Ausschank. Tagesmädchen zählten Tassen und legten gedruckte Nummern auf die im Geweihsaal weiß gedeckten und mit Tannengrün geschmückten Tische. Ein Hilfsdiener jagte den Hund hinaus. Der wirkliche Hausknecht kam mit einer Last Fahnentüchern und Stricken unterm Arm. Die Sonne schien strahlend zu dem großen Fenster herein, durch das man den blauen Kolmberg erblickte.
Vorläufig saß ein einziger Gast in dem Riesensaal und trank Bier. Klaus sah auf seine Uhr: es war erst zwei.
Aber da war ja auch Herr Kortüm. Nur seinen dicken Rücken konnte Klaus sehen, denn Herr Kortüm hatte in dem schmalen Balkongang Platz genommen. Hoffentlich hält der gebrechliche Balkon die Last aus, wenn ich auch noch drinstehe, dachte Klaus. Ein Serviermädchen verlegte ihm den Weg: »Nee, nich da 'nein jetzt. Herr Kortüm arbeitet noch. Wolln Sie 'n Kaffee?«
Eigentlich wollte Klaus gleich weiterwandern. Da man Herrn Kortüm jedoch noch nicht stören durfte, ließ er sich hinter eine Tasse Kaffee setzen. Sehnsüchtig sah der gutmütige Schulmeister die Tannen in der Sonne stehen. Im Saale war's ziemlich trostlos. Der dicke Gast nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck Bier und leckte jedesmal umständlich seinen Schnurrbart ab.
Klaus begann die Geweihe an der Wand zu zählen. Dann besah er sich das hübsche Serviermädchen. Er bat den Hilfskellner um ein Glas Wasser – er überlegte, was der Bierzapfer immer noch zu putzen habe – er berechnete auf Grund der Stuhlzahl die zu erwartende Kaffee-Einnahme. Es wurde drei Uhr. Das Mädchen lief mit einem Stoß Teller aus der Tür. Auch der Mann im Ausschank war verschwunden – mit einem Mal fühlte Klaus dieselbe bleierne Totenstille in diesem Saal, die ihn vorgestern bedrückt hatte. Dem Dicken hinter dem Bierglas hing längst der Kopf auf die Brust. Ab und zu gab er einen röchelnden Schnarchlaut von sich. Von Herrn Kortüm nebenan war kein Ton zu hören.
Jetzt steh ich auf – die Stille summte tief in Klausens Ohr, und er dachte, auch die kleinste Bewegung von ihm müsse in dieser Beklemmung wie ein Kanonenschuß wirken. Das Haus würde zusammenlaufen. Er rührte sich lieber nicht.
Es war halb vier. Es wurde vier. Eine Wespe irrte zum Fenster herein. Das goldschimmernde Wesen spielte lautlos mit einem 38 Sonnenstrahl, schwang plötzlich einen herrlichen Bogen und verschwand im Blau des Waldberges draußen. Ihr nach, dachte der Schulmeister, stützte die Hände auf den Tisch und wollte eben wieder, ohne zu bezahlen, in die Freiheit entweichen – da erklang in der Ferne Musik. Klaus horchte: ein Marsch. Die Pauke bumste, und diese Marschpauke entzauberte zur Verblüffung des fluchtbereiten Schulmeisters in einem Nu das schlummernde Schottenhaus. Der Dicke ächzte im Halbschlaf. Vom Balkongang erscholl ein löwenhaftes Räuspern, Herr Kortüm schob polternd seinen Stuhl über den hohlen Bretterboden. Dann kam er schweren Trittes in den Geweihsaal. Er erblickte den Schulmeister, der ihm erfreut eine Verbeugung machte, aber Herr Kortüm vollendete erst die Rundschau über das Ganze des Raumes, dann winkte er Klaus kurz und militärisch zu und trat an den Tisch des Schläfers: »Schart! Herr Lehrer Schart aus Besenroda«, donnerte er den Dicken an – »mein Freund August Monich«, setzte er ruhiger hinzu und wies auf den erschrocken aus dem Schlafe fahrenden kleinen Herrn.
Ah, der Mann mit der Pauke auf dem Abtritt, dachte Klaus und freute sich. Herr Monich freute sich auch: »Wir sind Nachbarn. Wir haben uns bloß noch nich getroffen. Ich habe den Leinwandladen neben der Schule.«
Herr Kortüm zog die Augenbrauen hoch: »Das heißt, der Laden ist mehr nebenbei. Mein Freund Monich steht im öffentlichen Leben –«
»Na, öffentlich, Kortüm – wenn nämlich der Deiwel los is, trete ich auch öffentlich auf. Ich bin der Hauptmann von der freiwilligen Feuerwehr.«
Unwillkürlich blickte Klaus auf den wohlbestellten Bauch und die kurzen Beine des Feuerwehrhauptmanns. Monich merkte den Blick. Er hob den Zeigefinger: »Hauptmann, hähä. Haben Sie gehört? Hauptmann! Ich lösche nich, ich kommandiere bloß, wenn's brennt.«
»Der Kommandeur«, erläuterte Herr Kortüm.
»Natürlich«, antwortete Klaus.
Die Musik kam näher. »Na nu« – Monich hielt das Ohr in die Schallrichtung und runzelte die Stirn – »nur halbwegs. Solche Schläge verträgt sie je nu nich. Die haben nämlich meine Pauke gepumpt.«
»Der Kommandeur besitzt eine eigene Pauke«, ergänzte Herr Kortüm wieder.
»Was für 'n Ochse hat denn die heute?« Monich ging nachsehen, wer der Mensch war, der auf seine Pauke hieb. Klaus wollte die 39 Gelegenheit ergreifen – »Einen Augenblick«, sagte Kortüm. Der alte Herr saß an der Tischecke. Er schielte zum Fenster.
»Na? Sie haben mich heute doch wieder gegrüßt?«
Verständnislos starrte ihn der Schulmeister an.
»Nachdem Sie gehört haben, wie mich meine Gäste behandeln?«
»Aber Herr Kortüm –«
»Sie haben doch gehört, was die Leute von meinen Plänen denken.«
»Die Leute! Aber Herr Kortüm« – Klaus wurde verlegen und verhaspelte sich beim Sprechen – »solche Leute, na ja, Steingut. Neue Gedanken erfassen immer nur wenige – und nun solche Menschen wie dieser Kuffert –«
»So haben Sie das aufgefaßt . . .« Herr Kortüm sah nachdenkend vor sich hin. Allmählich richtete er sich wieder hoch. Er sah zur Decke hinauf.
»Anders kann man das doch gar nicht auffassen«, sagte Klaus.
Herr Kortüm kniff den Mund energisch zusammen. Die Musik war inzwischen näher gekommen. Herr Kortüm trommelte mit den Fingern den Marschtakt auf der Tischdecke, nickte lächelnd und stand federnd auf: »Stehen Sie auf, Herr Schart. Kommen Sie. Wir sehen uns die Ankunft dieser Leute an.«
Herr Kortüm ging voran. Eben erschien die Musik an der Tannenecke auf der großen Straße. Um die Verteilung der Menschenmassen besser überwachen zu können, erstieg Herr Kortüm den Tuffsteinblock im Vorgarten. Hinter ihm standen der Mietkellner, der Bierzapfer und ein Aushilfsmädchen bereit. Aus den Fenstern wehte der Duft von Kaffee. Der Hund bellte. Eine Gluckhenne flüchtete aufgeregt mit ihrer Schar spätgeborener Küchlein.
Die Musik spielte mit höchster Kraft. Eine blaue Fahne mit goldgestickter Lyra schwankte über der Tannenhecke. Gehröcke, bunte Viererreihen.
»Zurücktreten!« schrie Herr Kortüm das Aushilfsmädchen an.
Aber er ließ seinen breitgeöffneten Mund offenstehen und starrte die Fahne an: nicht links in den Schottenweg hinein bog sie von der Straße ab – sie wehte gradeaus die große Fahrstraße entlang. Die Musik war schon verschwunden, die Fahne folgte ihr, die Gehröcke, die bunten Viererreihen verloren sich im Tannicht. Die Musik klang entfernter. Sie wurde leiser. Die Glucke erschien wieder mit ihren Küchlein und pickte Körner auf dem Weg. In tiefer Sonnenruhe ragten die Tannen in die blaue Luft hinaus. Über den Kolmberg segelte ruhevoll 40 eine große weiße Wolke. Aus weiter Ferne kam noch einmal ein Hauch Musik, ein leises Paukenbumsen – nun Stille.
Herr Kortüm stieg mühsam von seinem Tuffstein und trat ein paar Astern nieder. Der Kellner und der Bierzapfer sahen sich an. Klaus stand in ratloser Verlegenheit da. Er fürchtete sich. Schließlich mußte einer was sagen. Der Schulmeister bemerkte: »Die ziehn vielleicht nach Esperstedt.«
Herr Kortüm antwortete nichts.
Jetzt kann ich ihn doch nicht allein lassen, dachte Klaus. Verzweifelt sah er in die Freiheit des dunklen Waldweges hinein, der am Schottenhaus die Besenroda-Esperstedter Straße kreuzt und den Herr Kortüm die Hohe Straße genannt hatte. Niemand sprach ein Wort. Nur das Klappern eines beladenen Handwagens war zu hören, der aus dem Waldweg heranrollte. Unbeirrt quietschte das Wäglein seine Straße entlang – wenn Herr Kortüm die Richtung dieses Weges recht angegeben hatte, wollte es nach Taschkent.
Am Deichselgriff zog Hiebrich. Der Fleischermeister Hiebrich wollte jedoch durchaus nicht nach Taschkent. Herr Kortüm sah das Wäglein, sah den Mann an, der's zog, riß die Augen auf und donnerte den friedlich das Schottenhaus ansteuernden Meister Hiebrich an: »Wie oft soll ich Ihnen noch verbieten, auf meinem Grund und Boden Handel zu treiben!«
Auch Monich stellte sich vor Hiebrich hin und schrie: »Wie oft, he?«
Zuerst hatte der Meister verdutzt seine Deichsel fallen lassen. Jetzt nahm er sie wieder auf und sagte zu Monich: »Also Sie, erstemal, haben hier gar nischt zu sagen. Un Sie mit Ihrem Grund un Boden, verstehn Sie – auf Ihren Grund stelle ich mich je gar nich. Dortenhin, ans Tannenecke, stell ich mich. Das is Stadtgrund. Da verkaufe ich meine Rostwürste. Un das geht Sie gar nischt an.«
Damit fuhr er ab. In Richtung Taschkent.
»Telephoniere die Polizei, Kortüm!«
»Eine Eingabe werde ich machen! Darf so ein Kerl mir die Gäste vorm Eingang wegschnappen?«
»Jawoll, die Regierung –«
Hiebrich drehte sich um: »Sachtchen, ihr alle beide. Ich zahle Steuern. Un zwar pünktlich. Es soll aber auch andere Steuerzahler geben, versteht'r mich?«
Monich schnappte nach Luft: »Meinste etwan mich?«
»Außerdem ist es ja Unsinn, sich hierherzustellen« – Herr Kortüm 41 bog bei dem Stichwort Steuerzahlung rasch vom Thema ab – »der Gesangverein ist längst durch. Was wollen Sie denn noch hier oben!«
»Was ich will? Hä! Jetzt kommt von Esperstedt raus der Kriegerverein. Der feiert heute in Besenroda unten. Un dann kommt vom Heilborn 'rüber der Wanderverein. Der feiert im Nonnental. Un da verkauf'ch eben meine Rostwürste, un ihr könnt mir –«
Er kam nicht weiter, horchte und sagte dann bloß: »Hähä.«
Die anderen horchten auch: wieder Marschmusik. Diesmal von Esperstedt herauf. Der Kerl hatte recht. Das lebende Bild wiederholte sich, nur in umgekehrter Richtung. Erst kam Musik, dann eine Fahne, dann erschienen Gehröcke und Viererreihen. Die Musik schwoll an, sie krachte und paukte, sie schwoll ab, wurde immer leiser, und endlich verhauchte sie im Ilmtal unten.
Es dauerte auch nicht lange, so kam der angekündigte Wanderverein aus dem Walde links heraus und zog nach rechts am Schottenhaus vorbei. Diese rüstigen Männer und Frauen führten weder Fahne noch Pauke mit sich, aber sie hatten Sträußchen an den Hüten und jubelten laut in die herrliche Herbstlandschaft hinein.
Musik klang aus dem Ilmtal, Musik aus dem Espertal, Gesang im Westen, Jubel im Osten. Auf dem Hachelstein jodelte jemand. Menschen aller Lebensalter und Stände zogen in den Wald, mit Rucksäcken, Brotbeuteln, Netzen, Kiepen, Körben, Kinderwagen, Kissen, Zeltgeräten, Hängematten und Kochgeschirren. Ja, ein einzelner Herr mit einem langen Bart stieg wie eine Erscheinung geradwegs aus dem Ilmtal herauf. Er trug Nagelstiefel und hatte ein Doppelfernrohr umgehängt, mit dem er sich das Schottenhaus besah und dann mitten über Herrn Kortüms Bergwiese wandelte.
Der ganze Hochwald erschallte von fröhlichen Stimmen, Kinder schrien – und nun breitete sich über dieses Festgelände auch noch der wahre Thüringer Sonntagnachmittagsduft: lieblich schmorten die Rostwürste des Meisters Hiebrich und ließen sanft ihr Fett in die Holzkohlen tröpfeln. Hiebrich spritzte Wasser darüber, er wedelte kräftig mit einem Flederwisch – Sonntag!
»Je, Kortüm, denn gib mir mal'n Kirsch«, sagte Monich.
Längst hatte Klaus im Walde sein wollen. Er brachte es nicht übers Herz, zu gehen und erklärte in munterem Ton, daß ein Schnaps gar nicht schlecht wäre.
Diese Bestellung rief einen kleinen Aufruhr unter der Bedienungsmannschaft des Schottenhauses hervor. Endlich wollte jemand was.
42 Sie setzten sich an einen der unzähligen Tische.
»Ein schöner Herbst«, sagte Schart.
Herr Kortüm sah ihn groß an. Der Schulmeister war sofort wieder still.
»Nu siehste, Kortüm, da kommen je welche.«
Ein paar ältere Damen verlangten Kaffee und packten ihren mitgebrachten Kuchen aus: »Wenn man's selber backt, weiß man doch, was drin is!« Hier und da saß auch ein männlicher, den geistigen Ständen angehöriger Gast, der Einsamkeit gewohnt war. Die Angehörigen der handwerkenden Stände ertrugen jedoch den Anblick der achthundert leeren Stühle nicht und drückten sich nach einem kleinen Rundgang durch eine Seitenpforte in die menschenbevölkerte freie Natur hinaus.
Der Abend näherte sich. Noch lag die Sonne auf der Bergwiese vor dem Schottenhaus. Allmählich drangen die Ausflügler wieder aus dem Walde hervor und lagerten – bis haargenau an den Zaun des Herrn Kortüm heran. Hinter dem Zaun kostete die Landschaft Geld, vor dem Zaun breiteten sie kleine Tischdecken im Gras aus, stellten Flaschen, Becher, Teller, Tassen mit Untertassen, Brotbüchsen und Einmachegläser darauf und begannen behaglich ihr Abendbrot zu sich zu nehmen in Gottes freier Natur. Sie sangen fröhliche Lieder, teils im Sitzen, teils im anmutigen Spiel mit den lieben Kindern, teils schon auf dem Heimweg. Mit dem letzten Sonnenstrahl brach endlich auch der Reigen ab, den Mädchen und Jünglinge unter Jauchzen und Gesang mitten auf Herrn Kortüms so herrlich gelegener Bergwiese aufgeführt hatten, und der letzte Wandersmann verschwand hinter der Tannenecke.
Sonntag . . .
Nur die drei: der Herbergsvater, der Kommandeur des Feuerlöschwesens und der Lehrer von Besenroda, hockten schweigend um ihren mit Tannengrün und Herbstlaub geschmückten Tisch und besahen gedankenvoll den weißschimmernden Kranz aus Butterbrotpapier um die abendliche Bergwiese. Monich hatte eine Flasche Wein und drei Gläser kommen lassen. Als er einsah, daß weder Zutrinken noch die Erzählung der bedenklichsten Geschichten Herrn Kortüm aus der Versteinerung zu wecken vermochten, tat er einen gewaltigen Zug aus seinem Glas und sprach: »Mit den Hiesigen is nischt. Die geben eben nischt aus.«
Herr Kortüm hob den Kopf nicht, als er vor sich hinsagte: »Und die Fremden?«
»Je, Kortüm, die Fremden! Die haben eben keine Straße! Die 43 können nich rauf zu dir. Kein Auto un kein Geschirre hält den Sauweg aus.«
»Aber schließlich –«, begann Klaus.
Er kam nicht weiter. Herr Kortüm sah ihn an, reckte sich auf und schrie: »Herr, wissen Sie, was das heißt, keine Straße zu haben?«
»Straße zu haben?« kam das Echo vom Hachelstein zurück.
»Zu haben?«
»Haben?« klang es noch einmal ganz leise und aus tiefster Abendferne.
Monich klopfte Herrn Kortüm ein bißchen auf den Rücken: »Laß nur. Du mußt eben was machen hier oben.«
»Was denn eigentlich noch! Torten, Kuchen, Kaffee, Bier, Fremdenzimmer, Aussicht, Goetheerinnerungen, ein Teepavillon auf einem neuen Berg im Bau und im ›Vermischten‹ vom ›Esperstedter Tageblatt‹ bereits besprochen – was soll ich denn noch machen hier oben?«
»Na also, machen mußte was, Kortüm, so geht's nich weiter.«
»Nur die Fremden können mir helfen. Sie sind früher gekommen, ehe die Straße so schlecht war. Sie werden auch wiederkommen, wenn ich erst meinen neuen Verkehrsgedanken verwirklicht habe –«
»Was denn für'n Gedanken?«
»Darüber kann ich noch nicht reden. Aber auch bei guten Verkehrsverhältnissen – vor dem Frühjahr kommt kein Fremder mehr. Wie soll ich das bis dahin aushalten!«
»Denn mußte mit den Hiesigen was machen. Aber gleich!«
»Die Hiesigen« – Herr Kortüm zeigte auf den Kranz aus Butterbrotpapier um seine Bergwiese, der um so heller leuchtete, je dunkler es wurde – »lieber Gott! Larven, Nachttöpfe, Masken . . .«
»Schadet nischt! Machen, sag' ich, sonst geht's schief.«
»Masken«, sprach Klaus vor sich hin, »Masken . . .«
»Ihr seht's doch! Ihre Feste feiern die Leute unten in den Ortschaften, nicht bei mir.«
»Zwingen Sie die Leute, aufs Schottenhaus zu kommen.«
»Womit denn, junger Mann?!«
Klaus zeigte ins Ilmtal hinunter, wo Besenroda liegt: »Sie werden alle kommen.«
»So?« Herr Kortüm nickte: »Sie sind ein Neuling hier. Zwingen Sie mal einen Besenröder! Womit denn?«
»Mit seiner eignen Hände Arbeit.«
Herr Kortüm legte den Kopf zurück und kratzte sich in den Bartstoppeln.
44 »Zwingen lassen sich die Menschen nur von dem, was sie selber hervorgebracht haben«, fuhr Klaus fort.
»Häh?« fragte Monich.
»Weil sie davon nun leben wollen, Herr Monich. Da merken sie den Zwang nicht.«
»Was soll denn das sein?«
»Masken, Herr Kortüm. Besenröder Masken. Von denen wollen die Besenröder leben. Veranstalten Sie ein großes Maskenfest im Schottenhaus.«
Herr Kortüm fing an zu begreifen und stand auf.
»Das war mein erster Gedanke, als ich hierher kam und hörte, daß die Heimarbeit in Not sei. Bringen Sie Leben hinein.«
»Schulmeister! Donnerwetter! Sie sehn so, na so 'n bißchen nach Katechismus aus – den Gedanken hätte ich Ihnen gar nich zugetraut.«
Herr Kortüm stützte sich auf die Stuhllehne und sah nach dem Stern, der über dem schwarzen Kolmberg aufgezogen war: »Eine große Idee, junger Mann. Noch größer als mein Gedanke mit dem Scherbenberg – aber« – Herr Kortüm kniff die Lippen zusammen – »nichts weiter als ein Gedanke. Ja. Eine Maskennacht hier oben« – er beschrieb mit dem Arm einen mächtigen Kreis in die Nacht hinein – »die Sterne über uns, aus den Tälern dampft der Nebel. Ringsum Hochwald. Wir tragen Masken. Jeder ist ein anderer. Auf dem Hachelstein brennt Monich Feuerwerk ab. Man könnte aus Goethes Maskenzügen« – Herr Kortüm legte dem Schulmeister die Hand auf die Schulter – »mein Freund« – und ließ sich wie ein Sack auf den ächzenden Gartenstuhl fallen – »aber ein Traum . . . sonst nichts . . .«
»Je, Kortüm –«
»Sei ganz still, Monich. Nur ein Traum. Denn was ist die Hauptsache bei einem Fest?«
»Nu, die Masken.«
Herr Kortüm lächelte.
»Un denn 's Saufen.«
»Daß ihr Thüringer euch selber so schlecht kennt. Ich will dir's sagen, Monich: die Musik ist die Hauptsache. Und Musik, Herr Schart, die ist verboten auf dem Schottenhaus.«
»Unsinn«, fuhr es Klaus heraus, »es soll einen Quadratmeter Thüringer Erde geben, auf dem das Musizieren verboten ist?«
»Verboten, junger Mann. Seit vorigem Jahr. Weil Musik auf dem 45 Schottenhaus den Kurorten in der Umgebung Konkurrenz macht. Alles was Kurbetrieb heißt, ist hier oben untersagt.«
Klaus dachte nach. Dann begann er: »Ich glaube, hm, ich will nicht Schart heißen, wenn ich hier nicht helfen kann. Ich bin Mitglied des Kunstausschusses. Gleich nächsten Sonntag kann ich nach Weimar fahren und die Musikfrage zur Sprache bringen. Die Behörden haben Interesse an der Belebung der Heimarbeit. Große Maskenfeste würden den Leuten Aufträge bringen. Nein, ich sage nicht zuviel: das kriegen wir in Ordnung.«
Herr Kortüm ließ eine zweite Flasche Wein entkorken. Der Kälte wegen, die jetzt fühlbar aus den feuchten Tannen drang, wurde sie im Geweihsaal getrunken. Herr Kortüm holte einen Stoß Papierbogen, schrieb auf das erste Blatt: »Maskenfest auf dem Schottenhaus, zur Belebung der Thüringer Hausindustrie« – und nun begannen die drei mit dem Entwurf des größten Festes, das je erdacht worden war.
»Aber zunächst muß alles ganz unter uns bleiben«, sagte Klaus.
»Selbstverständlich. Bloß keine Rederei vorher.«
»Vertraulich« schrieb Herr Kortüm mit Rotstift in die obere Ecke des ersten Blattes.