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Kortüm war bergentrückt. Nur schwer konnte ein unbescholtener Mann noch unschädlicher gemacht werden als dieser Herr Kortüm, der auf einen Berggipfel von keinem Drittel Hektar Bodenfläche verbannt und dort vertraglich festgesetzt war.
Trotzdem blickte der Doktor Langloff sorgenvoll hinauf zur Höhe des Lohberges; er sah das Schindeldach über den Baumwipfeln, sah das verdächtige Rauchwölkchen auf dem neugebauten Schornstein lustig in die helle Luft kräuseln. Herunter von da oben und Langloffs Wege kreuzen konnte dieser Mann bis auf weiteres nicht – und siehe, da rannen von Kortüms Berg herab ins Tal nach allen vier Windrichtungen still gluckernd dunkelbraune Saftfädlein, und wo sie rannen, blieben die Leute stehen, bückten sich, leckten an dem milden und starken Brünnlein. »Mm . . . Kortüm!« riefen sie, »der Herr Kortüm!« 657 Geheimnisvolle Geschichten erzählten sie sich von diesem Trank: wie ihn der Lohbergwirt mit den Seinen nächtlicherweile braue in einem alten Götzenbild und wie der eherne Götze geglüht werde und die Kraft aus dem tausend Jahre alten Erz einströme in das würzige Destillat, wie sie den heißen Saft durchdringe und anreichere mit den Gewalten der Heidenzeit.
Raus! hatte Doktor Langloff gerufen und gemeint, diesen Kortüm endlich aufs Trockene gesetzt zu haben. Jawohl, der schlug mit seinem Andermannstab an den Felsen des Lohberges, ließ sein Getränk in die Ferne strömen und gewann – endlich auf die paar Lohberggäste beschränkt – eine unzählbare Gästeschar in Lokalen, die ihm nicht gehörten. Das Flügelhaus hatte erst heute wieder den Hausdiener aufs Lohberghaus schicken müssen, der Herr Doktor ließe um eine Fünfflaschenpackung bitten.
»Bestellen Sie meinen Gruß. Es freut mich, daß mein Erzeugnis Anklang findet im Sanatorium«, sprach Herr Kortüm, und Stannebein händigte dem Boten die geschmackvoll in Stroh gebundene Packung ein.
Langloff nahm den Gruß entgegen mit dem Gefühl des Alpenbewohners, der im Winter besorgt nach dem Felshang über seinem Hüttendach blickt: die Lawine, kommt sie?
Aber Kortüm geriet nicht in Bewegung. Jede Woche hatte er von neuem beschlossen, nach Berlin zu fahren. Die Hauptsche Hinterlassenschaft bei der Isch Bankassi mußte endlich geordnet werden. Nun fiel schon der erste Schnee. Kortüm verschob die Reise nochmals. Er fühlte sich nicht wohl. Seine Krankheit war eine von denen, die den Entschluß lähmen, zum Arzt zu gehen. Kortüm schritt mißmutig durch das Haus, umwanderte den engen Gipfelbezirk. Das Fernrohr half ihm auch nicht mehr, denn zum offenen Fenster wehte eisiger Wind herein. Das Fenster blieb geschlossen, das Rohr im Futteral. Kortüm litt nun nicht nur an der körperlichen, sondern auch an der geistigen Bewegungslosigkeit. Es gab wenig zu planen, nichts zu bauen – die Gipfelkrankheit zehrte an Herrn Kortüm. Er war eben nunmehr oben. Hob er den Kopf, erblickte er nichts mehr über sich. Aber dazu war er nicht alt genug. Er vermochte noch nicht von dem Ameisenkrabbeln und dem Zahnradwesen wegzusehen ins ewig wandelbar umwälzende Gewölk, in das wallend Formlose hinaus. Kortüm kannte diesen Blick des Alters von seinem Vater her. So weit war er noch nicht! Er glaubte immer noch in den ziehenden Wolken wenigstens ein Kamel, ein Wiesel 658 hier, einen Walfisch da sich aufbauschen, bewegen und hingehn zu sehen. Er wollte noch etwas wahrnehmen. Die Jahreszeit war nicht günstig dafür. Tagelang lag das Lohberghaus im Dezembernebel. Als Schatten standen die Tannen im Dunst. An den Fenstern rieselten Tropfen herunter. Kortüm kam der Gedanke, ein neues Silvester zu feiern. Er verwarf den Gedanken, so rasch er gekommen war. Nichts ist wiederholbar. Und nichts dergleichen kann gewollt werden, wenn es gelingen soll. Es muß sich ergeben. Kortüm hatte ein zu feines Gefühl für den fruchtbaren Augenblick der Freundschaft. Er blieb in seinem Lederstuhl sitzen und wartete.
Es kam denn auch ein Gruß aus der Welt auf seinen Lohberggipfel, der ihn wenigstens wieder in Gang brachte. Kortüm bekam Weihnachtsgeschenke. Fast erschrocken betrachtete er die beiden Gaben. Im Lauf vieler Jahre hatte er ganz vergessen, was es heißen will, beschenkt zu werden. Er war nur immer ersucht worden zu geben, mehr zu geben, noch mehr zu geben, und wenn ihm einer rechtlich geben mußte, so machte der ein erstauntes Gesicht: »Ich? Ihm? Wieso denn?« Wer sollte dem verwitweten kinderlosen Mann auch Gaben bringen!
Hedchen Wingen hatte mit Hilfe ihrer Mutter auf eine Holzschachtel einen Blumenstrauß gemalt, unter dem die Worte standen: »Dem Herrn Kortüm.« Lange betrachtete der Beschenkte die kleine bunte Schachtel. Er nahm den Deckel ab, guckte hinein. Er roch an dem bemalten Spanwerk . . . Ja, das war der Duft . . . so war es zu Weihnachten. Frau Wingen sah Kortüm die Schachtel immer wieder wenden, jedes einzelne rot und blau und grün bemalte Blatt betrachten. »Wir haben 's nicht feiner gekonnt«, sagte sie.
Da nahm Herr Kortüm das Töchterchen des verstorbenen Organisten Wingen auf den Arm und gab ihm einen Kuß, ein bißchen ungeschickt – Hedchen war froh, als sie wieder auf ihren neuen Weihnachtsschuhen und auf festem Boden stand.
»Liebe Frau Wingen«, sprach Kortüm und trug die Holzschachtel in sein Zimmer. Er hatte sie eben in die Mitte der Schreibtischplatte gestellt, als die Abendpost noch eine Schachtel brachte, aus Pappe. Absender? Der Name war verwischt. Kortüm entzifferte die Worte »Blumenhandlung« und »Kurfürstendamm«. Erstaunt schnitt er den Faden auf. Frische Veilchen! Und eine Visitenkarte: »Konstanze Schröter«. Auf der Rückseite stand von ihrer Hand geschrieben: »Ein gutes Fest und guten Mut!«
Konstanze? Kortüm spürte den Duft der Veilchen. Er folgte den 659 Zügen ihrer Feder. »Man ist noch da«, murmelte er und sah seinen Gabentisch an. Dann drückte Kortüm zweimal auf den Klingelknopf. Stannebein erschien.
»Ich muß mal eben nach Besenroda hinunter. Auf die Post.«
»Is zu.«
Kortüm schüttelte den Kopf: »Depesche.«
Stannebein schüttelte ebenfalls den Kopf: »Die trage ich nunter.«
»Ich selbst, George.«
»Geht nich.«
Kortüm blickte strafend den hartnäckigen Diener an. Aber Stannebein wiederholte nur: »Geht nich. Glatteis. Wie poliert. Ich trage sie nunter.«
»Ich! – in diesem Fall.«
Stannebein kannte die Kaptäns. Wenn die plötzlich in diesem Ton sagen: »So is der Kurs«, dann ist der Kurs so. Und wenn er noch so gefährlich ist. Stannebein dachte nach. Nach einer Weile nickte er: »Jawoll.«
»Meinen Mantel bitte, George!«
Ehe Stannebein an den großen Kleiderschrank auf dem Flur draußen ging, stieg er in den Keller hinunter, füllte den Verkaufskasten des Zigarettenjungen, der im Winter unbenutzt am Nagel hing, mit Asche voll – »Bis nunter langt's, unten fülle ich ihn wieder« – hängte den Gurt um den Hals, holte den Mantel und erschien solchermaßen gerüstet vor seinem Herrn.
Kortüm sah den Kasten an, den Stannebein vor seinem Bauche trug, nahm prüfend eine Prise zwischen die Finger, und dann sagte er mit sehr hochgezogenen Augenbrauen: »Mein Freund.«
Die beiden schritten zu Tal. Stannebein ging voran und streute Asche.
Wer die zwei Schatten durch die Dunkelheit wandeln sah, dachte an das Gleichnis vom Säemann. Trotz Winter, Eis und Schnee. Mit großen Armbewegungen säte Stannebein bergab.
Herr Kortüm depeschierte seinen Gruß nach Berlin. Konstanzes Wohnung wußte er nicht, er hatte aber gelesen, daß sie im Schauspielhaus auftrat. Die Post brachte Kortüms Gruß in das hellerleuchtete Haus am Gendarmenmarkt.
Stannebein säte bergauf.
Kortüm saß noch lange in seinem Ledersessel und trank roten Wein. Wenn Stannebein zuweilen eintrat und nach dem Rechten sah, nickte 660 ihm der Lohbergwirt zu: ob er auch da gewesen sei oder dort, auf seinen Fahrten? Er, Kortüm, müsse sich doch sehr irren, wenn nicht eben die Veilchen aufgingen da oder dort.
Er spürte dem Veilchenduft nach. Was, fragte sich Kortüm an diesem heiligen Abend, was ist vorgegangen in der Stunde, die ihr eingab, an mich zu denken?
Die Beantwortung dieser Frage kostete Kortüm freilich mehr als eine Nacht.