Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Dichten und Trachten

Wingen bewohnte ein paar Zimmer in dem Haus bei der Ilmbrücke am Park. Neben einer richtigen weimarischen Wohnstube mit den Möbeln von achtzehnhundertvierzig besaß er noch ein besonderes Zimmer. Das kannten wenige Menschen. An einer Wand standen auf langen Brettern seine Bücher, die andere war benagelt mit allerlei Bild- und Schriftzeug. Da hing die graphische Darstellung eines Schauspiels, an dem er arbeitete. Die Zeichnung sah aus wie ein Wasserstrahl, der sich aus vielen emporstrebenden Einzelstrahlen zusammensetzt, bis zum vierten Akt stetig ansteigt und dann plötzlich steil ins 31 Nichts abstürzt. »Solche Aktschlüsse gehn nicht«, stand groß mit Blaustift danebengeschrieben. So kann das Stück nicht anfhören, sagte Wingen jede Nacht zu dieser Zeichnung. Das Nichts ist doch kein Ende. Wie komme ich da wieder nach oben? Im Hamlet stürzt der goldene Strahl jäh in die Unendlichkeit hinunter – und erscheint nicht im Hamlet genau auf diesem Sturzpunkt ein Mann, den es im Stück gar nicht gibt? Also ein Ding aus Pappe und Goldpapier? Hinter dem gehn andre Goldpapiermänner her, die's auch nicht gibt. Trotzdem schlagen sie an ihre Schwerter, daß es rasselt, ein paar blasen auf Trompeten und trommeln, und die Larve Fortinbras macht jeder Anatomie hohnsprechend ihren Mund auf und sagt – sagt tatsächlich: Er ist tot. Aber wenn er nicht tot wäre, wenn – dann hätte er sich unfehlbar höchst königlich bewährt. Auch damit nicht genug: Laßt Feldmusik und alle Kriegsgebräuche laut für ihn sprechen, fährt der nicht vorhandene Edle fort. Ein Trauermarsch ertönt und – weiß Gott: nun schießen auch noch Kanonen.

Wingen seufzte: Ja, nun können die Leute Beifall klatschen . . .

Nebenan schlug die Uhr. Wingen erschrak. Konstanze mußte gleich kommen. Die Rücksprache mit dem Bälgetreter hatte Zeit verschlungen. Ohne erst Hut und Mantel abzulegen, machte sich Wingen an seine Wirtspflichten.

Zunächst goß er Spiritus in den Teekocher. Es eilte, und Wingen goß zu heftig. Er suchte nach seinem Taschentuch, das Glück war ihm auch hold, und er fing an zu wischen. Die Teemaschine kam in Ordnung. Aber schon türmte sich die zweite Sorge vor dem Dichter auf: das Taschentuch roch nach Brennspiritus – womit konnte er nun bei der gebotenen Eile die Tassen auswischen?

Wingen sah scharf in das Innere der zerbrechlichen chinesischen Gefäße. Vielleicht ging's auch so. Überhaupt – Konstanze würde es gar nicht merken. Nur das mitgebrachte Obst war noch in die Schale zu legen. Konstanze liebte Obst. Aber die Schale war nirgends zu sehen. Wingen legte die samtmatten Reinetten auf einen Papierbogen. Da standen die Worte:

»Die Eibe ist ein eigen Holz,
Scharf giftig wie ein gelber Molch:
Rasch reisen in Betten aus Eibenbrett
Die Meister hinunter –«

Nein: scharf giftig wie ein gieriges – nein: –

32 Wingen nahm einen Stift und fing an zu schreiben.

So fand ihn Konstanze: in Hut und Mantel saß er an seinem Schreibtisch, den linken Arm um die Äpfel gelegt, damit sie nicht wegrollten.

»Orgelmann!« Konstanze lachte.

Wingen aber stak tief in seiner Schreiberei. »Höre genau zu, Konstanze. Scharf giftig wie ein gelber – sauschlecht ist das. Ich muß das Gi auch in die zweite Hebung kriegen. Scharf giftig und gierig. Noch dümmer. Das Gi, Konstanze! Das Gi!!«

Zuerst lachte die Schauspielerin noch. Dann probierte sie mit halber Bühnenstimme den Vokalklang.

»So hört man's doch nicht. Laut! Paß auf. Ich sage jetzt das ganze Sargmacherlied: Die Eibe ist ein –«

»Hör auf, Wingen! Wie du's sagst, klingt's überhaupt nicht. Die Zähne auseinanderreißen und schreien macht's nicht. Vorne im Mund muß das Wort liegen: Die Eibe ist ein –«

»Die Eibe ist«, machte Wingen ihre Frauenstimme nach. »Unsinn! Der Sargmacher ist ein Grobsack. So. Die Eibe ist ein –«

»Mache dich nicht lächerlich. Du kannst schrein, wie du willst – nicht der Feuerwehrmann in der Kulisse versteht die Gurgelei. Ganz vorn den Ton bilden! So: Die Eibe ist ein –«

»Dichte ich oder dichtest du?«

Konstanze warf ihren Hut auf den Tisch: »Mir wird's bei dieser Sprecherei einfach schlecht. Jetzt fängst du ein paar Sätze weiter vorn an. Los. Daß man richtig hineinkommt.«

Wingen, dröhnend: »Hiho, der Mensch beschimpft am liebsten, was ihn nährt. Hasel – los doch, Konstanze! Jetzt sagt Hasel –«

Konstanze: »Dich schimpf' ich nicht.«

Wingen, mit Donnerstimme: »Und liefst mir fort?!!«

Plötzlich blieb er mit offenem Munde stehen, sah an die Decke und horchte. Ohne Zweifel: da pochte jemand mit einem harten Gegenstand auf seine Dielen.

Konstanze starrte auch an die Decke, sie war noch die arme kleine Hasel in Wingens neuem ersten Akt und begriff das Geräusch nicht. Da klopfte es wieder – hart und drohend.

In weitem Bogen warf Wingen das Manuskript auf den Tisch. Die Papiere glitten über die Platte, rissen andre Akten mit, und ein Gestöber von Zettelchen, Blättern und Heften wirbelte auf den Fußboden.

Konstanze stampfte mit dem Fuß auf: »So zieh doch endlich hier 33 aus! Wie hältst du das bloß aus zwischen den Philistern um dich rum!«

Geknickt besah Wingen die trostlose Unordnung seiner Papiere auf dem Fußboden, stieß sie mit dem Fuß vollends durcheinander und seufzte.

»Jedes Wort« – Konstanze schüttelte ihn – »jedes Wort versteht das Pack da oben und unten in dieser Streichholzschachtel!«

Aber Wingen zog sie an sich heran: »Hat eigentlich die böse Frau da über uns nicht recht?«

»Recht, Wingen?«

»Recht, Konstanze. Du kamst doch zum Teetrinken.« Er stieß noch einmal in die Papiere, daß sie aufflatterten. »Los, brenn den Docht an! Da ist der Tee. Hier der Rum. Und Äpfel.«

Konstanze hatte sich nun völlig in die Wirklichkeit zurückgefunden. Hasel war verschwunden. Ihre Züge entspannten sich. Sie sagte mit träger Stimme: »Wingen, du machst mir Sorge.«

Der Dichter schüttete Teeblätter in die Kanne und lachte: »Nun brenne doch schon an.«

»Ja, Sorge. Was könntest du schreiben, wenn du endlich den Mut fändest zum Absprung aus dem Tratsch und der Kleinen-Leute-Wirtschaft um dich rum und aus deiner Orgelei und stelltest dich frei in die Welt! Als ein Dichter und Künstler, der du bist.«

»Stellen hast du gesagt. Frei in die Welt stellen! Wenn ich tun würde, was du willst, müßtest du sagen: schweben in der Welt. Drin stehen will ich aber! Fest!!« – er trampelte mit den Füßen auf – »wie angewachsen!!« schrie er.

Jetzt wurde Konstanze böse: »Und dich an jeden Dreck stoßen und dich über jeden Tropf ärgern« – sie machte ihm sein Trampeln nach – »und an jedem Klatsch klebenbleiben –«

Plötzlich hörte sie auf zu trampeln und zu reden: es klopfte wieder. Und diesmal nicht nur oben, sondern auch unten stieß jemand offenbar mit einem Besen gegen seine Decke. Verdutzt lauschten sie. Ja, Herr Rockstroh unten klopfte jetzt auch. Konstanze lachte: »Worauf stehst du, Wingen?« – mit einer Hand zeigte sie nach unten, mit der andern nach oben – »auf der Welt? Das ist sie?«

»Meine Welt«, begann Wingen laut, um ihr Lachen zu übertönen. Aber die Geduld sämtlicher Bewohner des Hauses mit den Möbeln von achtzehnhundertvierzig war anscheinend völlig erschöpft: jetzt pochte es im Chore, oben, unten, links – rechts auch noch. »Aber mein Gott, dort wohne ich doch selber!« Wingen hielt sich die Ohren zu.

34 Da ging die Tür auf. Frau Liebsch, die Haushälterin Wingens, erschien auf der Schwelle: »Heute hörn Sie aber auch gar nich. Hier is ein Brief vom Amte.«

Wingen riß den Umschlag auf und überflog den Inhalt.

»Ist gut, Frau Liebsch. Danke schön.« Die Haushälterin zog sich zurück. »Da, lies mal, Konstanze. Zwei Orte für euer Gastspiel sind gefunden, Kranichstedt und Arnstadt. Wenn wir noch einen dritten finden, geht's los. Das ist wichtig. Ich muß rauskriegen, ob ich das Volk mit meinem Stück erreiche.«

»Dein Schauspiel geben wir?«

»Ja, der ›Blasebalg‹ wird aufgeführt.«

»Darauf freue ich mich. Die Rolle spiel' ich gerne.«

»Pst, leise!«

Konstanze lachte: »Der menschenfürchtige Dichter!«

Wingen setzte sich auf einen Sessel und zog sie auf seine Knie: »Gleich bist du still.«

Konstanze war nicht still.

Da hielt ihr Wingen den Mund zu: »Mausestill. So. Jetzt hörst du zu. Ich muß unter den Menschen bleiben. Wir sind keine richtigen Menschen. Wir sehn sie zu genau und durch und durch, um noch harmlos dasselbe sein zu können.«

Wingen faßte Konstanze fester und sah ihr in die Augen: »Wer Masken macht und wer Masken trägt, der soll um seine Straße besorgt sein, die zu dem Lebendigen führt.«

»Darum spielst du wohl auch Orgel in Lohn und Brot?«

»Darum, Konstanze: dabei, darunter, mitten drinne!«

Konstanze strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn: »Armer Mann.«

»Gar nicht arm. Mir gefällt Herr Rockstroh da unter mir. Siehst du ihn denn nicht? Er bricht die welken Blätter von seiner Pelargonie. Da sieht er, wie du ins Haus kommst: ›Natürlich, das Komödiantenmädchen. Eine Schande. Das will 'n Organist sein?‹ Herr Rockstroh nimmt einen Schluck Malzkaffee. Plötzlich schreit's über ihm: ›Gi! Ein Gi! Wo soll ich ein Gi herkriegen?!‹ Ein Gi, denkt er. Ein Gi? Was ist 'n das? Und nun bricht's über ihm los, daß die Perlengehänge seiner Hängelampe zittern: Trampeln, Lachen, Donnerstimmen. Ja, da rennt Herr Rockstroh in die Küche, holt den Besen und klopft. ›Gi? Ihr Theatervolk, Gi?!‹«

Konstanze lachte.

35 »Nein, lache nicht. Es geht weiter. Herr Rockstroh hat's gewagt. Er hat geklopft. Nun steht er da und lauscht – Totenstille da oben. Er sieht seinen Besenstiel an und kriegt Angst: ›Herrjeses.‹ Und über uns kauert die arme dicke Frau Müller auf dem Fußboden, den Nußknacker in der Hand – sie hat auch geklopft – hat klopfen müssen, das Gesetz in ihr befahl's. ›Wenn ich'n nu morgen auf der Treppe treffe, lieber Gott, was wird'n da nu?‹«

»Was geht dich das alles an, Wingen?« sagte Konstanze und schüttelte widerwillig lächelnd den Kopf.

»Was mich der Mensch angeht?!«

»Schrei nicht wieder.«

»Der lebende Mensch, Konstanze – mich?«

»Menschen? In diesem Geisterhaus fängt's ja gleich an zu klopfen, wenn der Geist sich regt.«

»Aber nicht der Geist klopft, Konstanze.«

»Sondern?«

»Der Mensch. Und das ist der Unterschied.«

Konstanze seufzte.

»Mädchen! Weißt du, was wir jetzt tun? Komm. Steh auf. Wir gehn zu Frau Müller hinauf, klingeln, warten, und wenn sie die Tür aufmacht, fragen wir, ob wir sie wohl mal fünf Minuten sprechen könnten. Du, da erlebst du den Menschen. Paß auf.«

»Gott soll mich bewahren« – Konstanze schüttelte sich. »Wingen, das brächtest du fertig?«

»Warum denn nicht? Ich habe schon viel angestellt, und lange hinterher habe ich erst gemerkt, daß ich das nur tat, um den Menschen aus seiner Natur handeln zu sehen.«

»Na, dann bleibe schon lieber bei deiner Friedhofsorgel. Sonst stecken sie dich eines Tages noch ein.«

Wingen lachte: »Über dem Manual hängt ein schräger Spiegel. Wer auf der Orgelbank sitzt, sieht in dem uralten verblakten Stück Glas alles, was unten im Chor vor sich geht.«

»Aber verkehrt.«

»Spiegelverkehrt. Ja, Konstanze. Deshalb eben will ich jetzt zu Frau Müller oder wenigstens zu Herrn Rockstroh.«

»Du bleibst hier – oder, Wingen, bin ich denn kein Mensch?«

Sie legte ihre Arme um seinen Hals. Wingen streichelte sie: »Und was für ein Menschenkind du bist, Konstanze. Aber ungefähr so eins wie ich. Wirklich da sind wir eigentlich gar nicht. Wir geben bloß, weil 36 Gott das in seinem unerforschlichen Ratschluß so will, die ewige Gestalt dem, das da ist. Hüten wir uns vor unseresgleichen.«

»Also gut: hüte dich vor mir. Laß mich sofort los.«

Friedrich Wingen ließ sie aber mit nichten los. Im Gegenteil. Sie hüteten sich gar nicht voreinander.

 


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