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Herr Kortüm schritt mühsam Stufe für Stufe die Bodentreppe hinauf. Unter beiden Armen trug er dicke Stöße loser Papiere, und er mußte die Ellbogen fest andrücken, denn der Wind pfiff scharf vom Oberboden herab und blätterte bedrohlich in Kortüms Papieren. Hinter ihm ging der Hausdiener und schleppte sich mit einem mittelgroßen Waschkorb, der gleichfalls mit beschriebenem Papier angefüllt war. In der ersten Bodenstube links stand ein gewaltiger Schrank, den Herr Kortüm nach vorsichtigem Absetzen seiner Last aufschloß und dessen Inneres einen überraschenden Anblick bot: wie die riesige Wabe eines Bienenstockes war er in unzählige Fächer geteilt. Jedoch enthielten diese Fächer keineswegs Honig, sondern erledigte Briefschaften. Wer wie dieser Gastwirt Kortüm viel Postsachen bekommt, weiß ja, daß in den Sendungen nur ganz ausnahmsweise Süßigkeit enthalten ist.
»Wir fangen jetzt an«, sprach Herr Kortüm, »Sie reichen mir ein Blatt nach dem anderen und rufen dabei jedesmal den Anfangsbuchstaben des Absenders.«
Herr Kortüm ordnete seine Briefe. Alljährlich vor Beginn der Hauptsaison räumte er in seinem Arbeitszimmer und im Geschäftsraum des Flügelhauses Schreibtische, Schubladen, Aktenschränke aus und verteilte den Inhalt alphabetisch in die Fächer seines Wabenschrankes auf dem Boden. Eine nichtswürdige Arbeit – aber Kortüm hielt auf Ordnung. Er entstammte nicht umsonst einer Hamburger Kaufmannsfamilie und saß jetzt ebensowenig umsonst mitten in Thüringen, im Schottengelände. Mit erheblichen Sorgen und Kosten hatte er sein Gasthaus zur Silbernen Windfahne durch Anbau von zwei Flügeln wesentlich vergrößert, unter dem Namen »Flügelhaus« im Amt eintragen lassen und litt nun unter entsprechend vervielfachten Posteingängen. Aber die Erfindung des Wabenschrankes erleichterte ihm seine geschäftliche Tätigkeit sehr. Das beste an diesem Schrank war sein Standort auf dem Boden: der dauernde Anblick so vielen beschriebenen Papieres beunruhigte Herrn Kortüm nicht unnötig.
342 »R!« rief der Hausknecht und hielt Kortüm das erste Blatt hin.
»Das ist nicht R, sondern P«, verbesserte der Herr des Flügelhauses, »Parkettfabrik. Der Inhaber einer Fabrik, Karl, ist gleichgültig. Sein Erzeugnis ist das Wesentliche«, und er legte den Brief in die Wabe P.
»Sch!« zischte der Knecht.
»Schröter. Gut. Sehr gut. Konstanze Schröter, die große Schauspielerin, meine Freundin, ohne die wir hier keine Briefe einordnen könnten, weil das Flügelhaus längst bankrott wäre, Karl. Weiter.«
Der Absender Schart kam nun, Klaus Schart, der Schulmeister zu Hörsel, ein gern gesehener Gast des Flügelhauses, seit der junge Mann Herrn Kortüm einen Richtfestspruch gedichtet hatte. Kortüm legte das Schartsche Holzpapierblatt achtungsvoll auf den feinen Elfenbeinkarton Konstanzes. Und dann ging es in emsiger Arbeit eine gute Weile weiter. Zu manchen Briefen machte Kortüm Anmerkungen, die entweder seinem Grimm Ausdruck gaben, einen solchen Wisch aufheben zu müssen, oder seiner Freude, daß ein liebenswürdiger Mensch des Flügelhauses gedacht hatte. Besonders mißtrauisch betrachtete Herr Kortüm die Wabe L. Hier lagen die knapp abgefaßten Postkarten Langloffs. »Dieser Kapitän sollte lieber wieder das Meer befahren, statt auf mein Flügelhaus zu kommen und in allen Ecken herumzuspionieren – der Teufel weiß, was einen Seemann ein Landgasthaus angeht.« Um so mehr Wohlgefallen erregte ihm ein Schriftstück W: »Windhebel, Herr Doktor Windhebel, ein Gelehrter von der Sternwarte, der unter dem Dach des Flügelhauses sein neues Buch schreiben will. Ich erwarte, daß Sie ihm die Türen höflich und weit öffnen, Karl. Der Mann ist oft in Gedanken, von denen Sie sich schwer eine Vorstellung machen können. Weiter.«
Leider fand Kortüm unter den vielen Schriftstücken wenig Absendungen aus der näheren Nachbarschaft. Sehr wenig freundliche Schreiben aus Besenroda und aus Esperstedt hatte er einzuordnen. Kortüm war der Hoffnung gewesen, daß der großzügige und die Umgebung hebende Umbau des Gasthofes sein Verhältnis zu den Umwohnern verbessern werde, aber solange Kortüm eben sein knappes Hamburgisch mit dem verdächtigen Befehlston sprach, blieben die gemütlichen Thüringer um ihn herum mißtrauisch. Man verstand einander nicht gut. Ja, diese Stunden des Briefordnens waren für Herrn Kortüm keine leichten Stunden. Das wenige Gute und das viele Schlechte in seinem Leben wurde alles wieder lebendig.
343 Jetzt aber sagte der Hausknecht noch einmal: »W!«
»Wingen! Der Organist Wingen, Lottes Mann – wir hören für heute auf, Karl. Ich hätte fast vergessen, daß mich Herr Wingen um diese Stunde besuchen will.« –
Ein langer guter Sommer hatte die neuen Dächer des Flügelhauses ausgeglüht, ein noch längerer böser Gebirgsherbst Nässe und Essenrauch in die offenen Poren der Ziegel gepreßt und ein endloser Winter den gebrannten Lehm mit Staub und Rauch verkittet und vereist. Als die Frühjahrssonne die Feuchtigkeit aus den vordem funkelnd roten Flügeldächern heraussog, standen sie um einen Schein dunkler über den Tannen, und Herr Kortüm stellte befriedigt fest, daß die Neuheit nun heraus sei. Keinem Ding gereiche sie zum Vorteil, sogar gebrannter Lehm werde ansehnlicher vom Leben. »Ja«, fügte er hinzu und ließ unentschieden, ob er sein Dach oder sich selber meinte, »je mehr einer durchmacht, desto anständiger steht er da. Nur wer nichts erlebt, sieht immer wie neu aus.«
Kortüm saß bei diesen Worten neben Wingen auf der Bank, die er »Gottesblick« genannt hatte, und erzählte von den Beschwerden des Häuserbauens: »Die Maurer brechen die Gerüste ab, räumen ihr Werkzeug zusammen, und im letzten Augenblick bemerke ich, daß ich die Hauptsache vergessen hatte« – Herr Kortüm zeigte auf seine Weste – »mich.«
»Oh«, sagte Wingen zerstreut.
»Ja. Sehen Sie: bei den Flügelbauten konnte ich an nichts als meine Gäste denken. Lage der Zimmer, Größe, Beleuchtung, Belüftung – es mußte Raum für jede Art von Gast ersonnen sein. Das ist nicht leicht, denn es gibt viele Gäste und keiner gleicht dem andern. Über diesen Sorgen hatte ich den Mittelpunkt des Betriebes übersehen: mein Arbeitszimmer.«
Wingen lehnte müde in der Ecke der Holzbank. Er wies mit dem Stock auf die Südfront des Flügelhauses, dessen helle Wand durch die Bäume schimmerte: »Da sind doch Ihre Fenster. Sie gehn nach der besten Himmelsrichtung. Nach Süden.«
»Sie reden wie ein Architekt. Es ist trostlos. Keiner versteht was vom Bauen hier im Binnenland.« Vor ein paar Monaten hätte jetzt Wingen eine der Bemerkungen gemacht, die in Herrn Kortüm den Hamburger Tonfall weckten. Aber der krankheitshalber beurlaubte Organist hatte sich seit der ganz ernstlichen Warnung des Arztes 344 angewöhnt, schweigend die Hand zwischen den offenen Westenknöpfen durchzuschieben und vorsichtig zwischen der dritten und vierten Rippe nach dem Herzschlag zu fühlen: ja, es klopft noch. Er besah achselzuckend die Bankinschrift »Nur für meine Gäste« und ließ den Herrn des Flügelhauses reden. Ein stiller Zuhörer, den überdies von sich und seinem Leiden abzulenken die erste Pflicht des guten Wirtes ist, behagte Kortüm sehr: »Jeder Schiffbauer – nein, Herr Organist: jeder Anfänger im Fracht-, Kriegs- und Passagierschiffbau ist sich durchaus im klaren über die richtige Anordnung einer Kommandobrücke. Offenbar hat unser Zeitalter des Verkehrs die Frage, wie bewegliche Gehäuse zu dirigieren sind, sorgfältiger erwogen als die Kunst der Lenkung feststehender Baulichkeiten. Bringen Sie mir den Baumeister, der nicht in Unruhe gerät, wenn er die Arbeitsstube eines landbewohnenden Bauherrn angemessen in seinen Plänen unterbringen soll! Bitte: gedeiht solche Arbeit besser fern dem Tagesgeräusch oder mitten drin? Unten im Erdgeschoß oder möglichst hoch in den Dachkammern? Offenkundig in Frontlage? Oder vorteilhafter zurückhaltend nach hinten angeordnet? Im Schatten, bitte? Oder lieber gesund auf der Sonnenseite, wie? Bauen Sie nicht, Herr Organist, ehe Sie in dieser Grundfrage Klarheit haben!« Und Herr Kortüm berichtete dem geduldigen Wingen, der doch nur um die Erlaubnis der Südwiesenbenutzung und um einen Liegestuhl gekommen war, wie der Kortümsche Schreibtisch samt der braunen Mappe nunmehr innerhalb des Flügelhausganzen angeordnet war: mit seinem alten Südzimmer vereinigte Kortüm das gegenüberliegende Nordzimmer, indem er den trennenden Flur zubaute, aber die neuen Wände mit je einer Türe versah. Kortüms Arbeitszimmer besaß nun nicht allein die Nord- und die Südsicht; wenige Schritte brachten ihn durch die linke Türe an das Westfenster und durch die rechte an das Ostfenster der anderen Flurhälfte.
»Und nun«, sagte Wingen, »sitzen Sie wie eine Kreuzspinne in der Mitte.«
»Kreuz— wie eine Kreuzspinne?« Aber Herr Kortüm sah den kranken Mann an, tippte nur leise auf seinen Ärmel und verbiß eine ärgerliche Antwort: »Ein Gastwirt, Herr Organist, lockt die Leute nicht an, um sie sich einzuverleiben.«
»Sondern zu füttern.«
»Sie treffen es wieder nicht. Das Auge des guten Wirtes macht die Leute nicht einfach fett, sondern läßt sie nur bis an die Grenze der Behaglichkeit gedeihen. Eine gewisse Mäßigkeit nämlich ist der 345 leiblichen Gesundheit des Gastes ebenso zuträglich wie dem finanziellen Wohlbefinden des Wirtes. Deshalb eben muß das Auge des Wirtes im Hausplan so angeordnet sein, daß es jederzeit nach allen Seiten streicht.«
Wingen streckte die Beine aus und lehnte den Kopf hintenüber auf die harte Holzlehne. Die Rede Kortüms war lang und der Junitag heiß, schwindelnd heiß für einen herzkranken Menschen, der sich noch mit den Anfängen in der Kunst des Leidens mühte. Über der Ferne schimmerte der weißliche Hitzedunst. Das Land lag im hellen Blaugrün des unreifen Kornes. In halber Höhe des Hügels brach die unabsehbare Getreidetafel ab wie eine Mauer, die frischgrün aus dem Boden stieg und in einen sanft verschwimmenden hellblauen Streifen überging, über dem feierlich die jungen Brotähren standen. Bis an den dunstigen Bergwaldstreifen der Ferne bedeckte die kühle Grünspanfarbe den heißen Erdboden, denn die erntezeitlichen rot und gelben Blütenblätter staken noch feingeknittert in ihren Knospenschalen. Von Zeit zu Zeit beugten sich die Ähren vor dem schwülen Talwind. Dann glänzten sie silbrig, und weiße Wellen liefen jagend über das grüne Grasmeer. Aber diese Wellen spielten bergauf.
»Zu uns herauf« – Wingen wies auf die nahende fruchtverheißende Flur.
Kortüm schüttelte die Hand: »Psst.« Er beugte sich lauschend vor. Schwellend und wieder verhauchend, jetzt wieder deutlicher mischte sich ein neuer Ton in das trocken blätternde Schlagen der aneinandergeblasenen Gräser: ein Choralklang tönte in den fliegendurchsummten Glutwellen aus dem Tal zu ihnen herauf – leise, dann zunehmend, nun kaum hörbar. »Da begraben sie den alten Besenröder Doktor«, sagte Herr Kortüm und lehnte sich wieder zurück. »Sie haben ihn ja gut gekannt.«
»Seit mir beigebracht ist, daß es auch latente Herzfehler gibt, von denen man sein Lebtag nichts gewußt hat, kenne ich viele Ärzte.«
»Nun, nun. Krank, gesund – es wechselt, Herr Organist. Wenn ich an mich denke, hm, freilich, ich bin eigentlich nie krank gewesen. Einen Zahn hat mir der alte Starcke mal gezogen. Er hatte da so eine Zange. Etwas rostig war sie. Ich glaube, mit dem Ding knippte er auch den Ferkeln die Zahnspitzen ab. Die dürfen nämlich nicht spitz sein, wissen Sie? Ferkel sollen mehr mit den Lippen saugen, so etwa.« Herr Kortüm machte es vor, und allmählich gelang es ihm wirklich, den Kranken auf freundliche Gedanken zu bringen. »Na, also da war diese 346 Zange. Ja, und ein Wassereimer. ›Mund auf, keine Angst!‹ schrie mir der alte Starcke ins Ohr. Er sprach immer ein bißchen laut. Die Bauern verstanden ihn so besser. ›Ganz ruhig, lieber Freund. So.‹ Verdammt, Herr Organist. In solcher Lage lernt man die Gesunden beneiden.« Herr Kortüm klopfte seinem Nachbar aufs Knie. »Ich verstehe Sie durchaus. Also: ›Treten Sie, wohin Sie wollen, aber nicht in meinen Bauch!‹ schreit der Doktor. Ahh, dann war er raus. Nein, wenn ich mir das so überlege – richtig krank bin ich in meinem Leben sonst nicht wieder gewesen.«
»Und plötzlich ist der Knacks da.«
»Nun nun«, brummte Herr Kortüm wieder. Er sah seinen Nachbar von der Seite an. Wingens Stimme hatte seltsam geklungen. Kortüm verdrehte bei seinem forschenden Blick die Augen wie in Holdermanns Atelier, damit dieser Blick verborgen blieb. Aber Kranke fühlen solche Seitenblicke. Über Wingens Gesicht mochte das trübe Lächeln des Verstehens gehuscht sein, vielleicht auch nur ein dankbares Lächeln. Kortüm faßte rasch den Besenröder Kirchturm scharf ins Auge: »Wer kommt eigentlich her für den alten Starcke?«
»Den Namen habe ich vergessen. Irgendwo von der Wasserkante soll er her sein. Ein Fremder.«
Wie ich etwa? wollte der Mann von der Wasserkante fragen, aber er verdrückte abermals den Groll über Wingens unbedachtes Wort. Er ist krank, dachte Kortüm. Er sieht nicht gut aus, gar nicht gut. Kortüm begnügte sich, Wingens Wort nur ein wenig zu verbessern: »Also ein guter Arzt«, sprach er.
Wingens Kopf lehnte unbewegt auf dem Holz der Lehne.
Er hat es gar nicht gehört, sagte sich Kortüm und wurde deutlicher: »Man versteht da oben an der Wasserkante den menschlichen Körper. Der ewige Wind. Die feuchte Luft. Die infolgedessen schwere Kost. Der aus diesem Grunde wieder ausschließliche Rotwein: das, Herr Organist, erzeugt im Laufe der Generationen eine Art medizinisches Naturgefühl. Wir haben es alle« – er rieb vor des Organisten Nase die Spitze seines Daumens am Zeigefinger – »in den Fingerspitzen, wissen Sie?« Und nun klopfte er Wingen beruhigend auf die Schulter: »Sie werden sehen, dieser fremde Doktor, wie Sie ihn soeben nannten, wird Ihren Schmerzen beikommen.«
»Wenn ich wenigstens Schmerzen hätte.«
Kortüm sah den Organisten ratlos an.
Wingen zog nur die Augenbrauen hoch.
347 »Sie merken nichts . . . gar nichts?«
»Schmerz – nein. Sonst mehr als mir, glaub ich, zukommt. Krankheit, wirkliche Krankheit, macht diese solide gesunde Welt um einem rum so . . . durchsichtig. Ja, man sieht plötzlich verdammt weit.«
In Krankheitsfragen konnte Herr Kortüm nicht mitreden. Aber eine Brille für die Nähe, die hatte er sich schon vor Jahren anschaffen müssen. »Weitsichtigkeit ist kein Gebrechen, sondern eine Alterserscheinung, Herr Organist. Die Kleinigkeiten in der Nähe sieht man nicht mehr deutlich. Die Weitsichtigkeit verhindert manche Störungen.«
»Nur das bißchen Leiblichkeit stört weiter«, Wingen seufzte, »besonders in der Nähe: weil's nämlich die anderen stört.«
Herr Kortüm stieß mit dem Fuß einen Stein den Abhang hinunter: »Die anderen? Lieber Gott, Herr Organist, die anderen. Glauben Sie einem erfahrenen Gastwirt: hören Sie heute auf, die anderen zu stören – und Sie sind morgen allein und übermorgen vergessen. Ein einsamer Geschäftsmann ist ein trostloser Anblick. Aber stören Sie, Bester, und Sie sind mitten drin und schon wieder dreiviertel gesund.« Herr Kortüm wurde sehr nachdenklich. »Bis zu dieser Stunde habe ich gedacht, nur das Alter will einem das Wasser abgraben, damit man sich jung erhält« – er schlug Wingen plötzlich aufs Knie – »ja ja, wir beide sind vom gleichen Jahrgang!«
Langsam drehte Wingen den Kopf auf dem Lehnenholz zu Kortüm hin und sagte: »Und das Naheliegende geht uns nichts mehr an . . .«
Unerschüttert hob Herr Kortüm den Zeigefinger: »Nur noch das Wesentliche.«
»Liegt das also nah – oder fern?«
»Selbstverständlich – hm . . . Ja, nun, von Fall zu Fall. Sie fragen da, was man ein Leben lang fragt.«
»Wenn man ein Leben lang – Zeit hat.« Wingen sog tief den zarten Duft des Blütenstaubes ein, der von den warmen Feldern so lebenverheißend heraufwehte. »Ich bin aber nicht bloß alt. Ich bin krank, Herr Kortüm. Und da haben wir den Unterschied zwischen uns beiden.«
Bloß alt, hat er gesagt, dachte Kortüm. Bloß! Er sah Wingen von der Seite an. Der lehnte in seiner Bankecke, als ob er Herrn Kortüm über wäre. Und Kortüm begann: »Sie sind ein Organist, ich bin ein Gastwirt. Meine Lokalitäten werden mit Vorliebe von Genesung suchenden Gästen in Anspruch genommen.«
»Meine kirchlichen Lokalitäten meistens auch«, sprach Wingen 348 dazwischen, aber Kortüm redete darüber weg: »Ich fuße auf meinen Erfahrungen, und ich habe gefunden, daß die in Decken gewickelten Herrschaften in ihren Liegestühlen eigentlich die starken Leute sind.« Jetzt drehte Wingen wieder den Kopf und sah Kortüm an, ob er recht höre. »Wenn Sie gesund sind, Herr Organist, stellt sich Ihnen zum Beispiel jemand vor – bitte: Sie müssen antworten. Der Fernsprecher klingelt: Sie müssen ran. Ein eingeschriebener Brief kommt: Sie müssen ihn aufmachen. Im Hause befolgen Sie eine Hausordnung. Im Freien die vorgeschriebenen Wege. Bitte: seien Sie krank, und das alles geht Sie nichts mehr an. Unsereiner tanzt sozusagen bloß um Sie rum. Darum spielen ja herrschsüchtige Leute gerne die Leidenden, weil der Kranke ein Herr ist aller Dinge.«
»Zum Teufel!« Jetzt hatte Wingen genug. »Aller Dinge? – Bloß des eigenen Leibes nicht!«
Herr Kortüm kaute eine Weile stumm mit den Zähnen. Er hatte sich doch nur verteidigen wollen. Weil er bloß alt sein sollte. Und dabei hatte er wieder falsch getröstet. Sich selber nämlich. Trotz Kortüms besten Absichten mißriet dieses Trostgespräch immer wieder.
»Da kommen sie!« Kortüm atmete auf und zeigte ins Tal hinunter.
»Wer?«
»Gäste«, sagte Kortüm.
Drei, vier, fünf kleine blitzende Insekten schossen den weißen Straßenstrich entlang. »Die Autos. Sehen Sie? Der Film kommt.«
»Was kommt?«
»Eine Filmgesellschaft. Ein Großunternehmen, Herr Organist. Jawohl: die World. Man wird Aufnahmen machen in meinem Gelände. Entschuldigen Sie mich. Ich muß nach dem Rechten sehen. Wenn Sie Decken brauchen, Erfrischungen . . .« Herr Kortüm hatte kein durchaus gutes Gewissen. »Man muß für Sie sorgen«, fügte er hinzu, »ich werde mir erlauben: ein rohes Ei, mit Zucker verrührt, dazu eine Spur Kakao, nun ein Schuß Marsala . . .« Tätlicher Trost gelang ihm besser.
Aber Wingen lächelte: »Nur den Liegestuhl. In einer Stunde gehe ich wieder nach Hause. Schönen Dank, Herr Kortüm.«