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Mitternacht war lange vorüber. Die Fenster des Flügelhauses standen dunkel gläsern in der Hauswand. Auch kein Mondlicht spiegelten sie. Der Himmel hatte sich bezogen. Eine warme sternenlose Nacht. Irdisches Licht spendeten in dieser Stunde nur noch zwei Quellen im Schottengelände: aus dem Ostfenster der »Waage« fiel ein heller Schein. Und der plätschernde Püsterich. Um den Brunnen schienen von ferne gesehen Funken zu glimmen, zu verlöschen, wieder aufzuleuchten. Herr Specht aus Zittau – jener Herr, der seinerzeit nur als Verwandter und infolge des Erdbebens nur ganz kurz bei Herrn Kortüm weilte, sich jedoch in diesem Juni als ordentlicher Gast im Flügelhaus erholte – Herr Specht hatte diese Erscheinung eine Weile von seinem Zimmer aus beobachtet. Durch frühere auffallende Naturerscheinungen in diesem Gelände gewitzigt, beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er zog einen Regenmantel über das Nachthemd, schützte die Füße durch Hausschuhe, stieg leise durch das schlummernde Haus und näherte sich vorsichtig dem Püsterich.
»Nu möcht ich wissen, was da noch im nassen Grase rumzuschleichen hat«, hörte er jemand sagen.
Also nur Menschen, dachte Specht, trat heran, erkannte mehrere Männer und vermochte die beweglichen Funken als glimmende Zigarren festzustellen. »Guten Abend«, sagte er.
366 »Guten Morgen«, antwortete Herr Kortüm, »wer ist das?«
»Verzeihung – Specht.« Ah, man erkannte sich. Kortüm, Monich und Doktor Windhebel saßen noch bei Wein und Tabak.
»Bitte«, lud ihn Kortüm ein.
»Ich bin allerdings nicht völlig im Anzug«, sprach Specht zögernd.
»Das kommt in dieser Gegend sogar bei Tage vor«, beruhigte ihn Windhebel. »Nicht wahr, Herr Kortüm?«
»Setzen Sie sich«, sagte Kortüm.
Specht nahm Platz, und Doktor Windhebel verbreitete sich über die verschiedenen menschlichen Trachten. Er gliederte die Kostümkunde sowohl nach Erdteilen als nach Zeitaltern. Das Schottengelände sei besonders ergiebig für Trachtenforscher. Hier verwischten sich alle Grenzen. Man erblicke gleichzeitig längere schwarze Röcke, kürzere helle, – ja es seien Exemplare einer Gattung beobachtet worden, die nur mit einer Art Taschentuch bekleidet wären.
Herr Kortüm war viel zu müde, um sich auf Windhebels Darlegungen einzulassen. Längst läge er in seinem Bette – wenn er den Gästen hier im Freien getraut hätte. Ohne Aufsicht konnten sie nicht bleiben. Die Ankunft des Films am Mittag hatte Lärm genug gemacht: jetzt mußte Ruhe sein im Haus.
»Bist du nicht müde, Monich?«
»Wenn ich was zu trinken habe, nee.«
Windhebel schenkte Monichs Glas voll bis zum Rande.
»Sie stecken in einer neuen wissenschaftlichen Arbeit, wie man hört, Herr Doktor, und sehnen sich gewiß auch nach Schlaf.«
»Schlaf ist gut, Herr Kortüm, aber im allgemeinen nicht der Zustand, in dem wissenschaftliche Arbeiten gedeihen«, und er schenkte sich ein.
Seufzend blickte Herr Kortüm nach dem erleuchteten Fenster der »Waage«. Die World redete auch noch. Seit geschlagenen acht Stunden – nun, eine Million und zweimalhunderttausend Mark: da konnte man es wenigstens verstehen. Das dumpfe Murmeln in der »Waage« schwoll von Zeit zu Zeit an wie Meeresrauschen, dann sank es wieder. Zuweilen öffnete jemand das Waagefenster, aber immer nur kurze Zeit, denn Herr Kortüm hatte im Interesse des Hausganzen dringend um Ruhe nach elf Uhr abends gebeten. Hin und wieder hörte man auch die Waagetür auf der anderen Seite klappen. Dann trat einer der Filmschaffenden ins Freie und lustwandelte ein paar Schritte. Wenn er um das Haus herumkam, sah man seine Silhouette gegen den Nachthimmel.
367 Jetzt erschien dort wieder ein solches Schattenbild, das sich aber offenbar nicht nur die Beine ein wenig vertrat. Der Schatten wuchs. Man hörte nahende Schritte. Da stand die Silhouette gewaltig neben dem plätschernden Püsterich. Utzenstorff, dachte Kortüm.
»Ich kann nichts erkennen«, sprach der Schatten, »aber es riecht nach Tabak.«
»Bitte, Sumatra mit Havannaeinlage.« Herr Kortüm hielt ihm die Kiste hin.
»Sie sind es also. Mein Alliierter, haha! Wissen Sie, was Sie für die World getan haben? Sie wissen es nicht!« Utzenstorff reichte dem Herrn des Flügelhauses seine beiden Hände: »Herr Kortüm, ich danke Ihnen –«
»Nicht der Rede wert.«
»– zugleich im Namen der World. Violante Sconosciuta ist zufrieden mit Ihnen. Sie fühlt sich wohl bei Ihnen. Sie wird sich morgen nach menschlichem Ermessen voll entfalten. Ich werde Filme mit Stars nur noch bei Ihnen drehen. Haben Sie übrigens einen kleinen Tropfen Wein zur Hand?«
Monich eilte zum Püsterich und entnahm dem Wasserbecken eine gekühlte Flasche sowie ein gekühltes Glas. Utzenstorff wies nach dem Himmel: »Gewölk.« Er hatte Sorgen. Wenn das Wetter umschlug, wurde es schwierig, Violante in solcher Einsamkeit bei guter Stimmung zu erhalten. »Ja«, sagte der Chef der Produktion, »wir müssen es heute zu Ende bringen. Es ist gut, daß Sie noch auf sind, Freund Kortüm.« Er stieß mit ihm an: »Sie müssen mir helfen.«
»Es ist zwei Uhr vorüber.«
»Deshalb, lieber Kortüm. Hören Sie. Die Sconosciuta muß geweckt werden.«
»Alle Wetter«, sagte Monich.
»Ich muß morgen drehen. Das Buch muß fertig sein. Da ist eine heikle Stelle. Ich wollte sie morgen mit ihr besprechen. Gewölk« – Utzenstorff wies abermals nach dem Himmel – »diese Nacht noch wird die Sache geklärt.«
»Davon verstehe ich gar nichts.«
»Es handelt sich nicht um die Stelle im Drehbuch. Es handelt sich ums Wecken. Wecken wir falsch, ist die Sache hoffnungslos. Aber wecken muß man. Wer weckt? Mein Assistent? Den schmeißt sie raus. Ich? Hm. Gewiß, aber das Wecken bekommt dann so etwas Dienstliches. Wenn Sie dienstlich geweckt werden, meine Herren: empfinden 368 Sie dabei das Wohlgefühl, welches bei einer Sconosciuta die Vorbedingung einer reizvollen Anmut ist?«
»Nee, verdammig«, sagte der erfahrene Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr.
»Also. Sie muß in guter Stimmung sein. Das Drehbuch hängt dran. Der Film hängt dran. Eine Million und zweimalhundertausend Mark hängen dran – Kortüm: Sie müssen Violante Sconosciuta wecken.«
»Gott soll mich bewahren!«
»Ein Mann wie Sie, ein Mann, den sie schätzt – bitte, sie hat es mir selber gesagt. Ja, wenn Sie an ihr Bett treten, wie Sie sind: im schwarzen Rock, gemessen, aber so in Ihrer Art, Kortüm, und wenn Sie zum Beispiel sagen: Violante, steh auf – ich bin's, Kortüm.«
»Hähä«, sagte Monich.
»Verzeihung, aber –«
»Dann lächelt sie. Vielleicht lacht sie sogar. Und darauf kommt alles an –«
»Aber –«
»Aber! Gut: sagen Sie irgend was andres. Sagen Sie, wie es Ihnen ums Herz ist.«
»Unmöglich, Herr Utzenstorff.«
»So. Dann dauert eben unsre Sitzung bis morgen früh. Ich lasse sämtliche Lesarten des Dialogs aufsetzen, damit es am Drehtag wenigstens keine Schreiberei mehr gibt. Aber es ist schade. Ich bin müde. Und mein Stab ist auch müde und wird stündlich nervöser.«
»Bis es Tag ist, wollen Sie in der ›Waage‹ sitzen?«
»Wollen?! Ich muß, weil mich mein Alliierter vorm Feind im Stich läßt.«
Durch Kortüms müdes Hirn schossen die Gedanken: nervös ist der Stab. Jetzt schon. Übermüdete Gäste werden grob. Grobe Gäste schlagen Lärm. Das Flügelhaus wird unruhig, die Kurgäste fahren aus dem Schlaf, das Flügelhaus steht auf. »Glauben Sie wirklich, daß ich, gerade ich es sein muß . . .?«
»Sie. Oder keiner.«
Um noch Schlimmeres zu verhüten, mußte sich jetzt der verantwortliche Herr des Flügelhauses entschließen, zu Nummer eins hinanzusteigen und den schlummernden Star zu wecken. »Genügt nicht klopfen?«
»Kortüm!« rief Utzenstorff, »klopfen kann der Stiefelputzer auch. Nein. Sie treten an ihr Bett –«
369 »Das Zimmer ist verriegelt!«
»Es ist nicht verriegelt. Die Sconosciuta bekommt hinter verschlossenen Türen Angstzustände. Alle Welt weiß das. Also Sie treten an ihr Bett –«
Der Anschlag wurde noch einmal bis in alle Einzelheiten durchgesprochen. Utzenstorff eilte in seine Sitzung. »Mut, mein Freund!« Kortüm erhob sich langsam. Monich wollte ihn wenigstens bis an die Haustür begleiten.
»Laß, Monich. Egmont ist in Antwerpen auch ohne Stütze aufs Schaffot gestiegen.«
»Ja ja«, murmelte Doktor Windhebel gedankenverloren, »C6H8(NO2)2O5.«
»Wie meinten Sie?«
»Ach – nur, daß Kollodium eine alkoholisch ätherische Lösung von Schießbaumwolle ist, aus der Sie Zelluloid machen können, wenn Sie sie nicht grade zum Sprengen brauchen. Zelluloid ist aber die Grundsubstanz des Filmes. Eine bedenkliche Verwandtschaft, Herr Kortüm.«
»Feuergefährlich is sie auf jeden Fall«, sagte Monich.
»Lassen Sie wenigstens Ihre Zigarre hier«, riet Windhebel. »Die paßt weder zu Zelluloid noch zu Sconosciuta nachts um zwei.«
»Ich gehe jetzt« – Herr Kortüm warf die Zigarre weg – »aber ich tue diesen Gang um des Hausfriedens willen; meine Herren, reden Sie in meiner Abwesenheit gedämpft. Ganz als ob ich da wäre. Es muß nachts Ruhe sein im Flügelhaus.«
Er verschwand.
Die Fenster Violantes gingen nach Süden. Sehen konnte man nichts. Aber Monich war neugierig: »Ob wir mal ums Haus rum gehn? Von dem langen Sitzen werden ja die Beine steif.«
Windhebel hatte keine Lust dazu. Die strategische Lage dieses Tisches zwischen »Waage« und Hoftür sei die denkbar beste. Herr Specht könnte ja auf der anderen Seite des Hauses nachsehen, ob Licht bei ihr würde.
»Ich habe Hausschuhe an« – Specht sprang bereitwillig auf – »mich hört niemand.« Er knöpfte seinen Regenmantel zu und begab sich unhörbar auf die Südseite des Flügelhauses.
»Wunderbar«, sagte Windhebel vor sich hin: »Der König ist am Zuge, der Läufer im Hinterhalt, die Dame blockiert – das Nichtberechenbare ist das Tiefe am Schach –«
»Wodran?«
370 »– und Remis sollte man mit Gerechtigkeit übersetzen. Wunderbar«, wiederholte er, »mit der Erdkruste ist es so so, aber der Mensch ist noch gewagter konstruiert. Ihr Wohl, Herr Monich! Manches lohnt sich doch.«
»Manches ja un manches nee. Prost, Herr Doktor!« Er korkte eine neue Flasche auf.
Das Schottengelände lag in tiefer Stille. Über den östlichen Himmel flog ein bleigrauer Schein. Der Püsterich plätscherte. Manchmal klang das Murmeln der World aus der »Goldenen Waage« herüber. Jetzt kam jemand vom Haus her auf den Tisch am Brunnen zu.
»Specht? Haben Sie was sehn können?«
»Dieser Schafskopf steht auf der Südwiese. Frau Sconosciuta hat das Fenster aufgemacht und ihn gesehn. Was da für ein Kerl steht, hat sie mich gefragt. Der Nachtwächter, habe ich schnell gesagt.«
»Du schon, Kortüm?«
Ehe Herr Kortüm ja sagen konnte, betrat auch Specht den Platz: »Meine Herren, ich habe alles bemerkt. Erst wurde in einem Zimmer Licht, dann im andern. Dann hat sie am Fenster gestanden –«
»– und hat gefragt, ob Sie wieder einen Bericht an die Presse abfassen wollten«, sprach Herr Kortüm, ohne der schlummernden Gäste zu gedenken, mit lauter zorniger Stimme. »Mistpöffers, wie?!«
»Aber Herr Kortüm! Sie sind schon wieder zurück?«
»Zum Teufel, Herr Specht, seit zehn Minuten warte ich, daß Sie von der Wiese weggehn!« Herr Kortüm log aus Sorge. Der Gedanke an Spechts Pressenotizen beunruhigte ihn wirklich. Seinerzeit war auf Grund der Zeitungsnachrichten nur ein Erdbebenforscher im Flügelhaus erschienen. Gott mochte wissen, wer es in diesem Fall für seinen Beruf hielt, Kortüms Weckergang zu Violante wissenschaftlich zu ergründen. »Nicht ein Wort schreiben Sie, Herr Specht!«
»Wenn Sie's nicht wünschen, aber nein doch.«
»Also erzählen Sie«, mahnte Windhebel.
»Es gibt nichts zu erzählen. Ich weckte. Sie wunderte sich und stand auf.«
»So einfach vor dir auf un raus ausm Bett?«
»Solche Damen tragen nachts und manchmal auch tags allseitig geschlossene Schlafanzüge, Monich.«
»Und sie hat gar nichts gesagt?«
»Wenig, Herr Doktor.«
»Was etwa?«
371 »Ach, sie . . . Ja, wissen Sie, die Dame muß einen Verwandten besitzen, der von Beruf Pastor ist.«
»Hören Sie mal – die Sconosciuta?«
»Warum nicht? Jedenfalls muß dieser Verwandte einige Ähnlichkeit mit mir haben. Wie sie so erwacht, die Augen reibt, mich ansieht, ja, da hat sie mich offenbar mit dem Herrn verwechselt. Sie verstehen, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird . . .«
Windhebel war aufs höchste verwundert. Er wagte kaum zu atmen vor Neugierde: »Wie haben Sie denn das gemerkt?«
»Daß sie mich mit dem Pastor verwechselte? Ja, sie fragte mich, ob, ja ob ich sie trauen wollte. Hm.«
»Trauen?«
»Sie verstehen, Herr Doktor, die Dame verwechselte mich. Sie hielt mich für den Pastor. Ich erzähle das so ausführlich, damit keinerlei unsinnige Nachrichten in Umlauf kommen, Herr Specht!«
Der Erdbebenforscher verstand kein Wort: »Das müssen Sie noch einmal sagen.«
»Nun, Herr Doktor, wenn eine junge Dame sich nicht gleich besinnen kann, da denkt sie leicht an so was wie Trauung. Wundert Sie das? Ja, ob ich sie trauen wollte, hat sie gefragt.«
»Je, wenn die Fräuleins aufwachen un plötzlich was Männliches an ihrem Bette stehn sehn, da kann das schon sein, daß sie schnell an Hochzeit denken.«
»Da Sie, wie ich annehme, die Dame nicht getraut haben, Herr Kortüm, was haben Sie ihr geantwortet?«
»So gut wie nichts. Bloß ganz kurz: ›Ich komme im Auftrag der World, gnädige Frau‹.«
»Ah. Und sie?«
»Ich sagte ja bereits, sie verwechselte mich. Sie redete mich immer als ihren Verwandten an. Herr Pastor, hat sie gesagt. Dann rieb sie sich die Augen. Was sie noch sagte, war nicht gut zu verstehen. Die Dame war sehr verschlafen. Mit der World? glaubte ich sie fragen zu hören. Sie suchte nach ihren Pantöffelchen. Dabei mußte sie lachen. Das Letzte verstand ich dann wieder: ›Mit der World gibt das aber einen Ehebruch, Herr Pastor.‹ Bitte, Monich, der Kognak steht da im Gras. Nein, dort. Komm nicht an die Brennessel. Rasch. Danke, ein Glas nicht erst.«
Herr Kortüm goß von der bernsteingelben Flüssigkeit nicht wenig in sein leeres Weinglas, nahm sie in kleinen Schlucken zu sich und sprach 372 dabei: »Und nun, meine Herren, ist dieser Tag zu Ende. Gehen wir. Es wird schon hell.«
Aber es kam immer noch nicht zum wohlverdienten Gutenachtwunsch.
Das Murmeln in der »Waage« hatte sich inzwischen zu einem dumpfen Tosen erhoben. Das Geräusch stieg an. Kortüm hatte noch nicht das Glas auf den Tisch gestellt, da klang es schon wie der Trubel eines etwas entfernten Marktfestes. Jetzt ertönte über der gleichmäßig brausenden Mittellage ein scharfer Sopran, und im selben Augenblick brach unter dem Ganzen ein schwerer Einzelbaß hervor. Dann hörte man eine Weile keine Melodie heraus, weil sämtliche Stimmen gleich kräftig intonierten.
»Dazu habe ich diesen Gang getan!« rief Herr Kortüm.
»Lauf schnell hin. Vielleicht kannste sie noch beruhigen.«
»Das ist wohl das einzige Mittel«, bemerkte Windhebel.
Kortüm lief. Der Lärm wurde immer stärker. Kortüm lief, was er konnte.
»Zu glauben is das nich: eine Stube voll Menschen kriegt so'n Krach fertig.«
»Es nimmt immer noch zu.«
»Ob da vielleicht was passiert is?«
Windhebel antwortete nicht. Aber schon klappten im Flügelhaus einige Fenster. Im ersten Grau des Morgens bewegten sich Vorhänge. Köpfe erschienen.
»Jetzt wird's ernst.«
Vor allem für Herrn Kortüm wurde es ernst. Er stand in seiner »Goldenen Waage« wie an Bord eines untergehenden Schiffes, auf dem die Fahrgäste nicht mehr wissen, was sie rufen und tun. Sie schrien sich an, so laut sie konnten, aber Kortüm konnte nicht einmal verstehen, was hier im Untergang begriffen sein sollte. Einer der Herren hielt ein dickes Buch in den Fäusten, schmetterte damit unablässig auf den Tisch und rief dazu: »Für Idioten schreibe ich nicht!« Ein andrer Herr aber schrie ihm ins Ohr, er möge sich begraben lassen. Und die Sconosciuta hatte zweifellos alle Fassung verloren. Sie zerriß große Mengen beschriebenen Papieres in kleine Fetzen, trat mit den rosa Pantöffelchen darauf. Der schwere Tabaknebel hinderte an einer genauen Übersicht. Aber in einer Wolkenlücke bemerkte Kortüm einen Mann in Hemdärmeln und mit einem Rotstift zwischen den Zähnen, der am Boden herumkroch und die Manuskripte zu retten versuchte. Er sammelte die Fetzen und schimpfte dabei aus vollem Halse. Plötzlich trat 373 ihm Violante aus Versehen auf die Hand. »Hallo!« rief der Mann, ergriff ihr Fußgelenk wie ein Krebs und hielt es in der Notwehr, so fest er konnte. Jetzt aber schrie die entsetzte Sconosciuta auf. Utzenstorff befahl dem Assistenten, den Mann unterm Tisch herauszuholen. Aber der Assistent konnte nicht, er mußte die Sconosciuta in seinen Armen festhalten. »Luft!« stöhnte sie, »Luft . . .« Wie leblos lag sie an des Assistenten Schulter, der die Hinsinkende mit der Linken umfaßte, mit der rechten Hand aber verzweifelt am Griff des Fensters drehte, um Luft zu schaffen. Der Griff saß fest, es war das selten geöffnete Nordfenster.
»Man schweige jetzt!« Diesen Befehl Utzenstorffs hätte man eigentlich in Besenroda hören müssen. Die World wurde noch lauter. Aber aus der Brust des Chefs der Produktion brach nun ein Löwenton: »Ruhe! Seht auf den Kern der Sache! Der Film existiert, solange er rentiert!« Über dem Getöse schwebte jetzt beherrschend sein gewaltiger Baß: »Film ist nicht allein da für uns, für eine nicht nennenswerte dünne geistige Oberschicht . . .« Endlich hatte der Assistent das Fenster auf, Violante öffnete die Augen, Utzenstorffs Schlußworte erhoben sich zum Donnerklang: »Film ist fürs Volk!«
»Fürs Volk . . .« klang es vom Lohberg –
Die World horchte auf –
»Volk . . .« kam das Echo vom Hachelstein zurück –
Totenstille in der »Goldenen Waage«.
Tief aus der Goldenen Aue her klang es noch einmal ganz leise: »Volk . . .«