Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Schatz im Acker

Jeden Morgen befühlte Herr Kortüm die Mauern des Neubaues. Sie trockneten gut. Die beträchtliche Ausgabe für den Koks, der in einem großen eisernen Korbe Nacht für Nacht im westlichen Flügelbau verglühte, mußte auf die Seite der lohnenden Unkosten gebucht werden. Herr Kortüm beschloß, einen weiteren Glühkorb aufzustellen und von nächster Woche ab auch den Ostflügel trocken zu heizen. Die Esperstedter und Besenröder würden sich wundern. Jetzt schon konnten sie in dunklen Nächten über den Tannenwipfeln der Schottenhöhe einen zarten roten Schimmer wahrnehmen. Bei vervierfachten Koksfeuern mußte nun ein deutlicher tiefroter Schein aufglimmen am Himmel über dem Schottenhaus. Bisher hatten die Esperstedter abends zueinander gesagt: »Die Sonne geht unter, ich wünsche wohl zu ruhen, Herr Nachbar.« Nun würden sie in das falsche Morgenrot über der Schottenhöhe zeigen müssen: »Bitte sehen Sie: Herr Kortüm geht auf – nach Möglichkeit eine ruhige Nacht, Verehrter.«

Und Herr Kortüm ging gewaltig auf über den Bergen. Unbeweglich still stand Nacht für Nacht ein roter Glanz am dunstigen Märzhimmel, und genau im Mittelpunkt dieses geflammten Halbkreises saß sein Schöpfer, der Herr Kortüm, in seinem alten Lederstuhl, hielt die braune Mappe auf den Knien, folgte mit dem Blick den langsam wiegenden 250 Rauchringen der Zigarre und hatte seine Gedanken. Das ganze Land weithin aber sah mit Staunen den Nimbus über dem Schottenhaus und nahm inmitten des roten Scheines das weißglitzernde Gestirn der silbernen Windfahne wahr, die lachende Maske oder die weinende, wie der Wind sie drehte. Um dieser Windfahne willen war seinerzeit in den Tälern unten ein tiefer Grimm erwacht. Herr Kortüm aber hatte nachweisen können, daß Windfahnen als notwendige Gebrauchsgegenstände für einsam wohnende Persönlichkeiten angesehen werden müssen. Das silberne Gestirn blieb, und Schwartenmachers Blech war gut: es strahlte wie neu geschaffen. Die Kurorte mußten den neuen Stern, den Herr Kortüm damals am gemeinsamen Himmel aufgehen ließ, weiterleuchten lassen. Jetzt aber fügte dieser unvergleichliche Mann seinem Stern noch ein scheinbar ewiges Morgenrot hinzu. Das ganze Land ringsum sprach: »Kortüm vergrößert, Kortüm nimmt sich auf – seht seinen Schein am Himmel.« Und niemand konnte es hindern. Es muß einem Bauherrn unbenommen sein, feuchtes Gemäuer mit Gewalt zu trocknen, wenn er es eilig hat.

Herr Kortüm hatte es eilig. Die Reisezeit rückte näher. Die Anfragen häuften sich. Lorenz mußte neue Arbeiter einstellen und arbeiten bis in die Dunkelheit hinein. Müde und brummig ging er am Abend nach Hause. Bei solcher Hetzerei war nicht zum Genuß der Arbeit zu kommen, der bekanntlich in den Pausen besteht, die den ruhevollen Anblick des Geschafften ermöglichen. Heute mußte er auch noch den letzten Kalkwagen selber nach Besenroda hinunterbringen. Er schirrte die Pferde ein, zündete die Laterne an und hängte sie unter das Bodenbrett des Wagens.

Herr Kortüm saß in seinem Zimmer oben und hatte weder die Tischlampe noch die Hauslaterne eingeschaltet. An einem Freitagabend wie heute, an dem er Gäste erwartete, die viel redeten und spät gingen, liebte er diese stille Stunde vorher. Draußen polterte der Wagen. Riesengroß warf die Laterne unter dem Bodenbrett den Schatten des Hinterrades an die Schottenhauswand, bis an die Dachrinne hinauf. Langsam drehte sich das ungeheure Schattenrad an der Hauswand hin. Durch die Mauer und in die Gedanken Kortüms hinein drang das Bild des rollenden Rades nicht. Aber das Räderrollen hörte Herr Kortüm, den klappernden Hufschlag. »Sie müssen gleich kommen«, murmelte er und zog seinen schwarzen Rock an.

Monich war der erste. Dann kam der Reihe nach die ganze Freitagsgesellschaft. Pastor Schmidt erschien, der Apotheker Mickewitz und 251 Kuffert, der Amtsrichter Labemann und zuletzt Herr Müller, der Nachfolger Klaus Scharts an der Besenröder Schule, ein stiller blonder Mensch.

»Na, Kortüm«, rief Kuffert, »is denn Ihr Bild nu fertig? Man sieht doch gar nichts davon!«

Die Freitagsgesellschaft erkundigte sich nach allen Einzelheiten. Man wollte die Größe des Bildes wissen und ob es einen Goldrahmen hätte. Was der Rahmen koste. Herr Kortüm sollte schildern, wie es wäre, wenn man viele Stunden stille stehen muß, auf einen Punkt gucken und trotzdem freundlich aussehen. Zuletzt mußte Kortüm die Stellung vormachen. Dieses Gespräch langweilte den Apotheker Mickewitz, der wohl den klaren Blick für die Lebensnotwendigkeiten besaß, aber dem Schönen in der Welt keine brauchbaren Seiten abgewinnen konnte. Überhaupt beunruhigte ihn die Gelassenheit Kortüms. Mickewitz konnte auf Grund mehrfacher Erfahrung erwarten, daß Herr Kortüm mit dem Hochwachsen seiner Mauern immer kleiner, mit der fortschreitenden Versteifung des Gebälkes immer wackliger wurde. Nichts davon – der Mann baute, schlug trotzdem ruhig ein Bein übers andre und gab nur hin und wieder eine Belehrung von sich, wenn das Gespräch auf ein der Freitagsgesellschaft unzugängliches Gebiet glitt. Kürzlich hatte Mickewitz auf dem Kreisamt zu tun und sich bei dieser Gelegenheit auch einmal das Grundbuch aufschlagen lassen, um einen kleinen unauffälligen Blick in die Blätter des Schottenhauses zu tun. Neue Einsichten waren leider nicht zu gewinnen. Es handelte sich eben nur um einen Anbau. Hatte dieser Gastwirt in der letzten Reisezeit tatsächlich so schamlos verdient? Oder hatte er finanzstarke Gönner, die ihm nicht amtlich eingetragenes Geld liehen, bloß weil er der Herr Kortüm war? Müßte man sich also doch beizeiten mit ihm stellen?

»Hehe, ein schöner Bau«, sagte Mickewitz, nachdem er Kortüm verstohlen beobachtet hatte, »Sie geben sich da ganz neue Dimensionen.«

Herr Kortüm nickte und wies mit ausladender Handbewegung zum Nordfenster hinaus: »Nach hinten hinaus.«

»Ihre Vorderseite gedenken Sie nicht zu verändern?«

»Ich soll die Sonne verbauen? Erlauben Sie, Herr Apotheker – ich bin verantwortlich für das Wohlbefinden meiner Gäste!«

»Na, fünfzig neue Fremdenzimmer, wie man hört, wollen untergebracht sein«, sagte der Amtsrichter.

Mickewitz erschrak: »Fünfzig Fremdenzimmer bauen Sie?«

Der Tabakrauch belästigte Herrn Kortüm, wenn er eine längere Rede vor hatte. Er machte das Fenster eine Handbreit auf und sprach: »Wer 252 hat das gesagt? Niemand natürlich. Meine Herren, wenn Tropfen vom Himmel fallen, spricht man: es regnet. Man sollte, wenn Worte von den Lippen fallen, sagen: es lügt. Die Sache ist so –«

Herr Kortüm begann mit einer Darlegung seiner Baupläne. Die Gäste erfuhren, daß an jede Seite des Schottenhauses im rechten Winkel ein Flügel angebaut würde. Die Nordwiese sollte also vom alten Haus und den Flügelbauten an drei Seiten umfaßt werden. Der Blick in die Goldene Aue hinaus bliebe frei. Jeder Flügel enthalte zehn Fremdenzimmer. Die Küche werde in den Westflügel verlegt, an ihrer Stelle ein Speisesaal eingerichtet, so daß man vom Flur aus rechts diese alte unveränderte Halle und links den Speisesaal betreten könne. Das alles seien demnach keineswegs allzu kostspielige Unternehmungen . . .

Mehrmals während dieser Rede unterbrach sich Herr Kortüm. Ein fremder, aber angenehmer Duft hauchte zeitweilig durch den Raum. Herr Kortüm hob die Nase und zog die Luft ein. Auch die Gäste schnupperten. Im Laufe des weiteren Vortrages, den Herr Kortüm mit einigen Bleistiftstrichen noch klarer zu gestalten versuchte, schnüffelten die Zuhörer immer öfter. Schließlich schwieg der Redner, spitzte den Mund und sog den bezaubernden Duft gewissermaßen offiziell ein: »Meine Herren«, sprach er, »mir scheint –«

»Mir auch«, sagte Monich.

»Das riecht«, begann Kuffert, »das riecht nach . . .«

Mickewitz nahm soviel Atmosphäre wie möglich in seine Nase. Er hatte in diesem Kreise die Sache als Fachmann zu beurteilen: »Hm . . . es gibt gewisse einwertige primäre Alkohole, welche, sofern man sie versetzt mit . . .« Er schwieg und fuhr argwöhnisch mit den Augen herum, als ob er den Duft sehen könnte, sehen und erwischen.

»Gewiß«, stimmte Pastor Schmidt mit hocherhobener Nase bei, »es hat etwas Spirituelles an sich.«

»Sprit?!« Kuffert roch mit Gewalt.

»Na aber da soll doch . . .« Monich roch in der Richtung nach dem Fenster hin.

Kortüms Nase folgte seiner Richtung: »Monich!« rief er, »du hast recht: es kommt von draußen!« und beugte sich zum Fenster hinaus. Er drehte sich betroffen nach seinen Gästen um, blickte wieder hinaus, dann sagte er leise: »Meine Herren, in meinem Hofe brennt etwas . . .«

»Un das riecht so?!« Im Handumdrehen war die Freitagsgesellschaft auf den Beinen und unterwegs in den Hof. Mickewitz lief voran.

Hier bot sich der Versammlung ein unerwarteter Anblick. Zunächst 253 sprach niemand, selbst Kuffert fand keine Worte. Die Herren versuchten erst einmal so viel wie möglich in der Dunkelheit zu sehen. Der Mond schien heute nicht. Die einzige Lichtquelle war ein am Boden unter eisernem Roste brennendes Holzkohlenfeuer, also eine recht schwache Beleuchtung für ungewöhnliche Betrachtungen: auf dem Rost nämlich stand ein berußter bauchiger Kessel. Dieser Kessel aber stammte nicht aus der Kortümschen Küche, sondern hätte von Rechts wegen aus dem Kortümschen Museum kommen müssen, wenn eben Herr Kortüm die sachgemäß numerierte Aufstellung in seinem derzeitigen Schönheitswahn und Baueifer nicht versäumt hätte: auf dem Rost stand der Püsterich und kochte. Der Schuldiener Albrecht stand neben dem Rost und schwitzte. Den Püsterich erhitzten die Holzkohlen, den Schuldiener der Schreck. Er hatte dem Herrn Kortüm eine freudige Überraschung bereiten wollen, und nun stand eine ganze Gesellschaft samt Herrn Kortüm da und guckte. Beide, Albrecht und Püsterich, blickten unbeweglich über die Gesellschaft weg und hinauf in den Tannenwipfel, wo gestern der Nachtschwalb Liebeslieder schnarchte. Beide schwiegen hartnäckig – Albrecht, weil er mit den Kinnbacken auf seiner Tabakspfeife kaute, der Püsterich, weil ihm der Schuldiener das offene Maul mit einem Glasrohr verstopft hatte. Da der zart duftende Dampf keinesfalls dem Scheitel Albrechts entwichen sein konnte, nahm die völlig verdutzte Freitagsgesellschaft ganz richtig an, daß er aus dem Scheitel des Püsterichs steige. Flaschen standen umher, Wannen, Trichter, Siebe, Bürsten – eine halbgefüllte und offenbar besonders wertvolle alte Geneverflasche trug der Schuldiener sorgfältig auf seinen beiden Armen. Zuerst faßte sich, wie dies von ihm als Fachmann auch erwartet werden konnte, der Apotheker Mickewitz. Mit scharfen Augen überblickte er fachkundig die ungewöhnliche Kochanstalt und brachte nach einer Weile mit zusammengekniffenen Lippen lediglich ein etwas unverständliches »Aha« hervor.

Allmählich begannen auch die anderen Herren sich zu äußern.

»Wie können Sie sich erlauben, auf meinem Hof . . . in der Nacht . . .^, fing Herr Kortüm einen Satz an und schwieg dann.

»Du verfluchtiger Hund –«, begann Monich und schwieg danach ebenfalls.

»Was is'n das?« fragte Kuffert.

»Aha!« rief Mickewitz zum zweiten Male, jetzt aber deutlicher.

»Ähnliche Vorrichtungen dienen dem Chemiker zur Erzeugung von Wasserstoff«, erläuterte der kleine blonde Lehrer, aber er wurde 254 unterbrochen. »Wasserstoff?« – Mickewitz lachte zornig. – »Im Gegenteil!«

Pastor Schmidt jedoch nahm nun das Wort: »Wie ist es möglich, daß ein Schuldiener nächtlicherweile und heimlich solchen, ich muß geradezu sagen: teuflischen Spuk treibt mit einem Gegenstand, dessen sachlicher und ideeller Wert sich völlig seinen Maßstäben entzieht! Wie – ich frage Sie, Schuldiener Albrecht! – wie wollen Sie uns die Vermessenheit erklären, die Sie trieb, einen immerhin merkwürdigen Fund derart zu mißhandeln?«

»Mißhandeln?« fragte Albrecht beleidigt. Es war Zeit, daß er nunmehr Stellung zu dem kochenden Püsterich nahm, da die Freitagsgesellschaft von diesem selbst keine vernünftige Erklärung erwarten konnte. Dieses Fundobjekt wurde sichtlich immer heißer. In langen Tropfen lief das Schwitzwasser an ihm herab, und sobald ein Tropfen in die Kohlen fiel, gab es einen kleinen Zisch.

»So nehmen Sie den ehrwürdigen Kessel doch wenigstens von den Kohlen weg!« rief der Pastor.

»Nee«, wehrte sich Albrecht, »nu wär's schade drum.«

Mickewitz besichtigte und beroch unterdessen die Flaschen und Wannen. Albrecht drückte die große kantige Flasche fester an sich. Der Widerspruch des Schuldieners kränkte den Pastor. Er trat näher an Albrecht heran und rief: »Schade wäre es? Um den Unflat etwa, den Sie in dieses Denkmal hineingegossen haben?!«

»Unflat? Nee, Herr Pastor.« Er wandte sich hilfesuchend an den immer noch herumschnüffelnden Mickewitz: »Nich wahr, nee, Herr Aptheker, das is kein Unflat nich?«

Er hatte sich an den falschen Mann um Hilfe gewandt. Mickewitz dachte gar nicht daran, die Konkurrenz zu unterstützen. Als Herr Kortüm an ihn als den Fachmann die Frage stellte: »Sagen Sie, Herr Apotheker, ist dieser Mann geistesgestört?« antwortete Mickewitz erregt: »Das scheint leider durchaus nicht so!« und winkte Albrecht heran: »Woraus haben Sie die Maische hergestellt? Wie!? Oder sollten Sie einfach Beerenwein abdestilliert haben?«

Albrecht schien nicht zu hören, denn er kaute wieder an seiner Pfeife und blickte in den Tannwipfel hinauf.

Mickewitz rüttelte ihn am Ärmel: »Antworten Sie mir, Mann! Ihre Destillation ist einerseits sachgemäß, anderseits regelwidrig. Sie haben Kräuter zugesetzt. Man bringt keine Kräuter in das noch rohe, ja warme Destillat! Was sind das für Kräuter? Nennen Sie mir das 255 Rezept, und ich werde Ihnen ohne weiteres sagen, ob das Rezept richtig ist.«

»Das möchten Se wohl, Herr Apotheker.«

»Ich verstehe immer: Destillat«, sagte Herr Kortüm leise zu Monich.

»Ich auch«, erwiderte sein Freund und schnüffelte stärker.

»Also«, begann Albrecht, »nu hörn Se mal: Sie haben das Ding in Ihrn Hinterhof auf den Hackeklotz gestellt un Sie haben es 'n Taufbecken genannt, un Sie eine Gießkanne oder so ähnlich, un Sie, Herr Apotheker, haben's gar nich angeguckt – aber iche, ich wußte aufn ersten Blick, woran ich war –«

»Wo – ran waren Sie?« Herr Kortüm, der so vieles wußte und erlebt hatte, verstand kein Wort und stellte diese Frage in berechtigter Unruhe.

»Sehn Se«, sagte Albrecht, »das hab ich von meinem Vater. Der hat 'ne kleine Schnapsbrennerei gehabt. In Nordhausen nämlich haben alle kleinen Leute eine Brennerei gehabt. Im Nebengewerbe, verstehn Se? Un deshalb hab ich aufn ersten Blick gemerkt, was es mit dem Doppelkessel auf sich hat: das Ding is nämlich eine Branntweinblase.« Er klopfte an den heißen Kessel. »Da steht der Apotheker: fragen Sie'n doch. Wer von der Sache was versteht« – Albrecht klopfte stärker – »der hat Respekt vor so'n Kessel. Das is 'ne Abzugsblase, jawohl.«

Er hatte gesprochen, und er trat nun auch den Wahrheitsbeweis an. Ein Glas war nicht zur Hand – gelernte Schnapsbrenner kommen für ihre Person mit der Flasche aus – aber ein Tassenkopf ohne Henkel stand auf der umgekehrten Wanne. Albrecht ließ aus der geschweiften großen Flasche, die er im Arm hielt, vorsichtig eine dunkelbraune Flüssigkeit hineintröpfeln: »Kosten Sie doch einfach 'nmal.« Er hielt die Tasse dem Hausherrn hin, aber Kortüm machte eine schroff ablehnende Handbewegung. Monich nahm die Tasse, roch hinein, ließ eine Spur des Inhalts kunstgerecht auf die Zunge gleiten, blickte augenblinzelnd zum Tannwipfel hinauf, dann sah er die Freitagsgesellschaft an . . . Pause . . . Jetzt nahm er einen regelrechten kleineren Schluck, blinzelte und schmeckte wieder . . . »Albrecht«, sagte er leise. Nunmehr goß er den gesamten Tasseninhalt in seinen Mund . . . Pause . . .

»Albrecht!« rief er.

Jetzt ergriff Mickewitz das Trinkgefäß, ließ sich eine Probe geben und kostete. Der Apotheker hatte seiner leidenden Kundschaft eine ansehnliche Reihe vorzüglicher Essenzen und Magenliköre zu mäßigen Preisen 256 anzubieten, und da kam ein Kerl daher, ein weder chemisch noch drogistisch vorgebildetes und durch keinerlei Fachprüfung erprobtes Subjekt, dem nur von seinen Nordhäuser Vätern her einige Handgriffe geläufig waren – und ein solcher Mensch erlaubte sich, in einem wahrscheinlich nicht einmal hinreichend gesäuberten, jedenfalls aber völlig veralteten Messingkessel ein derart duftendes Destillat abzuziehen . . . Mickewitz kostete nochmals . . . ein Destillat von unleugbar zartem und dennoch starkem Geschmack. Was hat dann Vorbildung und Fachprüfung überhaupt noch für Sinn? Er sprach zur Freitagsgesellschaft: »Mein Verdacht scheint sich zu bestätigen: dieses Produkt entstammt nicht der landesüblichen Kartoffel, vielleicht ist es aus Wein destilliert. Meine Herren, wir haben hier eine Art von Aqua vitae vor uns, ein Lebenswasser, also ein äußerst heftiges Getränk, das obendrein noch gewürzt ist mit Kräutern, was bei einem ordnungsgemäßen Aquavit nicht erlaubt ist. Mit was für Kräutern haben Sie das Destillat versetzt?!«

»Hä«, antwortete Albrecht.

Die Tasse ging während dieser Darlegung von Hand zu Hand. Kuffert kostete . . . dann Labemann . . . der Lehrer nahm einen ängstlichen Schluck . . . der Pastor Schmidt nahm einen erheblichen Schluck, bewegte eine Weile prüfend Zunge und Lippen und murmelte: »Kann das sein?«

»Natürlich kann das sein!« rief Mickewitz. »Nichts geht natürlicher zu! Wenn jemand überhaupt die Dreistigkeit besitzt, sich dergestalt an einem altertümlichen Gegenstand zu vergreifen, so verfügt er damit allerdings über einen geradezu unverwüstlichen Doppelkessel, wie er als Destillierapparat abgebildet ist auf Kupferstichen, die aus ungesunden Zeiten stammen! Aus jenen von Seuchen geplagten Epochen, die noch kein Schimmer unserer heutigen zweckdienlichen und sanitären Technik erhellte!«

»Was heißt hier Seuche un sanitär!« rief Kuffert und hielt Albrecht den Tassenkopf zum Nachschenken hin, »dagegen sind Ihre Schnäpse reine nischt, Mickewitz!«

Auch Labemann hatte sich noch einen Tropfen – »nur 'ne Idee, lieber Albrecht« – eingießen lassen und sagte gewissermaßen abschließend zu Herrn Kortüm: »Püsterich hin, Püsterich her – dieses Destillat hat, ich muß sagen: etwas Bodenständiges.«

»Herr Amtsrichter«, meinte Monich, »passen Se bloß auf. Wenn wir hier so weiterschlucken, hat bloß noch der Püsterich 'ne gewisse 257 Bodenständigkeit aufzuweisen. Kortüm – du solltest deinen Püsterich auch mal kosten.«

Herr Kortüm nahm zögernd die Tasse, nippte, Herr Kortüm trank: »Freunde!« sprach er. . . .

Spät wanderten die Gäste in ihre Täler hinunter. Eine Weile hörte Herr Kortüm noch ihre Stimmen heraufschallen, allmählich verklangen die Laute. Es war nun wieder ganz still. Eine trübe und warme windstille Nacht. Regen wird es geben, dachte Herr Kortüm und ging in tiefen Gedanken mehrmals um sein Anwesen herum, über dem heute in der dicken wäßrigen Luft der rote Schein der Trockenfeuer machtvoll groß und unbeweglich stand. Er sah an der Schottenhauswand zu den Fenstern seines vernachlässigten Museums empor und schüttelte den Kopf. Eben erst war er wochenlang mit Professor Holdermann beruflich in enger Verbindung gewesen. Die Akademie in der Hauptstadt stak bis unters Dach voll Kunst, und jedem Menschen dort war es eine ausgemachte Sache, daß man diese vieltausendfachen Formen nur genau zu betrachten brauche, um dann sagen zu können, was sie bedeuteten, was für einen Inhalt sie umschlössen. Die Guten, die Schönen erkennt man am Guten, am Schönen. Und da stand dieser erbärmliche Püsterich, ein Unflat von außen – und innen voll Süße? Ein leiser Verdacht gegen diese bekanntlich schönste der Welten stieg in Kortüm auf. Schon die Sache mit der schönen Kitty damals war ein wenig unheimlich gewesen – doch Kitty war eine Frau, und bei lebendigen schönen Frauen soll man Rückschlüsse irgendwelcher Art grundsätzlich nicht versuchen. Aber auf Messing muß doch Verlaß sein! Inhaltlich hätte er diesen Püsterich auf Grünspan, Staub und Schlacke geschätzt, und nun sprach man wohl morgen früh schon in den Tälern unten von Kortüms Püsterich und meinte damit ein magenstärkendes Getränk. Ob es dann nicht besser wäre, magenleidend zu bleiben, aber das Gute erkennen zu können am Guten und das Schöne am Schönen?

 


 << zurück weiter >>