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Der alte Marktplatz hat im Lauf der Jahrhunderte viel Sinn und Unsinn auf sich herumgehn lassen müssen und ist davon nicht größer geworden oder enger, verschlossener oder offener, sondern das alte gutmütige Menschentheater geblieben, das er immer war: stets bereit zu Aufführungen. Heute trug er bei aller angeborenen Fröhlichkeit eine gewisse Würde zur Schau, die den Kenner dieser Örtlichkeit ein wenig besorgt machen konnte. Gegenüber dem bronzenen Hanfried war ein bekränztes Podium aufgebaut. Vorläufig befand sich nur der gute Kurfürst auf seinem Platz, der andere Sockel stand noch leer. Zwischen Johann Friedrich und der unbekannten Podiumfigur fand sich, etwas erhöht und aller Welt sichtbar, ein langer weißgedeckter blumengeschmückter Speisetisch, vor dem die Musik saß. Obgleich der Marktplatz gedrängt voll Menschen stand, fehlten die blauweißen Rauchfahnen der Rostbratstände. Der Duft gewöhnlicher Bratwürste paßte heute nicht zu den erlesenen Genießbarkeiten, die zu erwarten waren.
Die Kapelle begann zu spielen, die Leute reckten die Hälse, eine 423 Bewegung ging durch die Festversammlung – die Preisrichter betraten den Platz. Voran schritt das Grand Hotel und nahm in dem Armsessel in der Mitte der Tafel Platz. Seine Mitrichter rückten die Stühle, setzten sich. Die Musik spielte alla marcia maestoso: in langem Zug erschienen weißgekleidete Kochlehrlinge und begannen die Speisen aufzutragen. Schüssel um Schüssel, Platte um Platte – wahrlich ein Anblick nur für gesättigte Zuschauer. Aber in dieser Hinsicht beruhigte schon ein kurzer Blick in die Runde. Die da den Markt füllten, schienen alle einen guten Grund gelegt zu haben. Zudem nahmen ja auch die Zuschauer teil an den Genüssen der Preisrichter, denn der Ansager schlug bei jedem neu erscheinenden Gericht auf die Pauke und rief hallend den Namen der Speise: »Forellen in Tokayer!«, »Trüffeln in der Asche!«, »Gebratenes Spanferkel!« Und sofort nach der Titelangabe betrat, von Zurufen der Festteilnehmer begrüßt, der jeweilige Schöpfer des Gerichtes das Podium, verbeugte sich und nannte das Rezept: »Sechs Stangen Porree, vierhundertachtzig Gramm Hammelfleisch, zwei Goldparmänen ohne Schalen und Kerne« – so ging es endlos weiter. Lernbegierige Zuschauer schrieben die wunderbaren Rezepte nach. Auf dem Marktpflaster standen ungezählte Festteilnehmer und sahen die Preisrichter speisen – aber man sage nicht, daß nun die Zuschauer nichts gehabt hätten von den Köstlichkeiten, die dort ab- und zugetragen wurden: nach jeder Probe erhob sich ein Mitglied der Tafel und schilderte den gehabten Genuß. Den Vorgeschmack in Betrachtung der Außenform gab der Redner an, die Hauptwürze, den Duft, die feiner mitschwingenden Nebenwürzen, den Nachgeschmack als das eigentlich Bleibende und zuletzt die voraussichtliche Verdaulichkeit. Da er vor Fachleuten referierte, konnte er gewiß sein, völlig verstanden zu werden – eine andere Speisung der Fünftausend: hier nahmen fünf Männer das Mahl zu sich, und fünftausend wurden satt. Die Stimmung hob sich immer mehr. Über den Köpfen der Zuschauer sah man Pasteten zur Tafel tragen und wieder abtragen, getrüffelte Fasanen, Bauernschüsseln mit dampfenden Klößen, Schaumweinkaltschalen, chinesische Reisgerichte, und eine gewichtige weißgekleidete Figur nach der anderen mit der ungeheuren weißen Mütze auf dem behaglich schmunzelnden Kopf stand auf dem Podium gegenüber dem guten Kurfürsten mit dem nackten Schwert in der landesväterlichen Faust. Achtungsvoll betrachtete die Menge das unerschütterlich weiterspeisende Preisrichterkollegium, das, ohne zu zögern, ohne zu murren, eine Feinkost nach der anderen im Interesse des Ganzen zu sich nahm. Hochrufe 424 dankten den weißbekittelten und weißbemützten Meistern, die so Herrliches bereiten konnten. Plötzlich aber stand da ein schwarzer Mann auf dem Podium und im Angesichte des Herzogs Johann Friedrich! Ein Herr in Schwarz, der langsam die Hand zur Krempe seines Zylinders hob, den hohen Hut ein wenig lüftete und – immer den Hut halbrechts neben dem Kopf – mit ruhiger Stimme seine Schöpfungen analysierte. Aber nicht wie ein Gelehrter nach Gramm und Kubikzentimeter, sondern wie ein Künstler: »Die Hummerschalen in einem porzellanenen Mörser zerstoßen. Der Mörser handwarm. Auch das Pistill wenigstens Körperwärme. Nun Basilikum, ein Fiederchen des Blattes, oder zwei – ob eben der Hummer aus dem Nordseewasser kommt oder nur aus dem geschmacklich weniger günstigen des Atlantik . . .« Es war sehr still auf dem Marktplatz geworden: hier konnte man lernen und, zum Teufel, auch wieder nicht lernen! Kortüms Handbewegungen sagten mehr aus über die Gerichte als seine Worte. Das Preisgericht kaute nicht mehr, das Gericht sah ihm zu: der Mann geht nicht von Regeln aus, sondern vom Gefühl und von der Substanz.
»Der kann's«, sagte die Festkochwoche, als Herr Kortüm seinen Zylinder wieder aufsetzte und gelassen die Treppe herabstieg. Das Grand Hotel erhob sich persönlich und referierte über den einnehmenden Vorgeschmack, den soliden Kaugeschmack, den überaus leichten Schluckgeschmack und den unvergeßlichen Nachgeschmack der Kortümschen Gerichte.
»Kortüm! Hoch Kortüm!« schrie es. Es begann jemand zu singen, und die Musik – im Traume wohl oder schon ein bißchen angezecht oder genarrt von dem plötzlich frohen Tosen auf diesem Markt, um den noch die alten Giebel standen, in den die alten Haustüren mündeten, über dem vielleicht auch die alten Sommerwolken noch schwebten – die Musik geriet unversehens in ein Lied, das sie in versunkener Zeit manches Mal hier hatte spielen müssen bei Sonnen- und bei Fackellicht: »Factus de materia levis elementi / Folio sum similis –«
»Auf ein Wort, Verehrter –«
»– de quo ludunt venti –«
»– es ist nämlich so«, das Grand Hotel zupfte Kortüm am Ärmel: wahrhaftig, in eigener Person, herabgestiegen vom Richtertisch auf das Pflaster . . . »Daß Sie kochen können, weiß die Welt! Hören Sie den Markt, Kortüm? Sie bedürfen keiner Bestätigung mehr. Sie sind bestätigt. Aber« – er wies auf das Podium: jetzt waren die Köchinnen dran; eben erstieg Mimi Schlick die oberste Stufe.
425 »Lieber Gott«, murmelte Kortüm.
»Sie haben vollkommen recht. So ist es. Wir müssen ihr helfen, Kortüm. Um der Sache willen. Unsere Lebensarbeit zielt nicht nur auf eine bloße Besänftigung des Gaumens. Um den Magen geht es, um die Gesundheit, wir sind mitverantwortlich.« Das Grand Hotel öffnete in Gedanken die unteren drei Westenknöpfe, dieses viele Sprechen nach der anstrengenden Richtertätigkeit griff ihn an, er japste nach Luft. »Wir müssen den ersten Schritt tun, Kortüm –«
Der Marktplatz sah die beiden Herren verhandeln.
»Der da is der Präsidente.«
»Nee, der doch. Der Große is Kortüm.«
»Ach, der mit'm ersten Preis?«
»Kortüm! Kortüm!!« rief es aus der Menge.
»Aber da trägt doch einer der Köchin 'n Blumenstrauß nauf.«
»Darum«, sprach das Grand Hotel weiter, »sind die Preisrichter mit Ihnen einig, Kortüm: wir können Sie gar nicht krönen. Sie sind gekrönt.«
Herrn Kortüm gab es einen Ruck. Er wollte etwas sagen, aber Fanfarenstöße schmetterten über den Markt. Am Richtertisch erhob sich ein Herr und hielt eine kurze einleitende Ansprache.
»Und darum«, sprach das Grand Hotel leise weiter, »bekommt in der gewöhnlichen Preisverteilung hier den, wenn ich so sagen soll, nur materiell sichtbaren Preis der fleißigste unter den derzeitigen Diätköchen –«
Der Herr oben an der Tafel hatte seine Rede geschlossen. Es kam jetzt wieder ein so heftiges Musikstück, daß Privatgespräche unmöglich wurden. Aber danach stand Hotel Disch auf und hielt eine freudig aufgenommene, mit Scherzen gewürzte Ansprache über das Essen im allgemeinen und über die Kunst der Verdauung im besonderen – essen könne jeder, aber verdauen! Und zu einer guten Verdauung gehörten immer zwei: der eigentliche Verdauer und der Koch, der die Verdauung anzubahnen verstehe.
»Hören Sie, Kortüm? Disch gibt der Meinung aller Ausdruck. Der Öffentlichkeit muß unter solchen Umständen die Mimi Schlick vorgestellt werden – wir unter uns können ja essen, was wir wollen, aber« –
Wieder zerschmetterte Trommel- und Paukenschlag die Rede der beiden Herren. Ein Kochgeselle überreichte auf einer silbernen Platte dem Grand Hotel eine Pergamentrolle, an der das Siegel in Gestalt eines Hummers hing. Herr Kortüm trat zurück, er hatte das Gefühl, 426 die Stielaugen dieses Hummers tasteten nach ihm, er öffne die Scheren – das Grand Hotel aber fürchtete den Panzerkrebs nicht, nahm die Rolle, legte sie, da Kortüm die Hand nicht öffnete, in Kortüms Arm, stieg einige Stufen des Podiums hinan und rief: »Der beste Koch der Gegenwart, Herr Friedrich Joachim Kortüm, –«
»Kortüm hoch!«
»– wird in seiner Eigenschaft als der erste Meister seines Fachs vor der verehrlichen Festversammlung das Dokument der Preisverteilung zu überreichen die Ehre haben an Frau Mimi Schlick, die bekannte Diätköchin von Besenroda!«
»Von wo?« murmelte Kortüm.
Irgendein Rüpel schrie da aus einer entfernten Marktecke: »Appelmus!«
Herr Kortüm hatte eben einen Henkel der silbernen Platte ergriffen, zog sie samt dem widerstrebenden Kochgesellen näher, wollte das ihm in den Arm gelegte Pergament wieder auf die Platte legen – da blickte er bei dem rohen Ruf »Appelmus« auf zum Podium. Er sah das hilflose erhitzte Gesichtchen der guten kleinen Frau –
Gelächter war aufgeklungen. »Kohlrüben!« rief es aus einer anderen Ecke. Kortüm sah, wie Mimis Augen rote Ränder bekamen, wie sie sich mit Wasser füllten –
»Zwibbeln, Zwibbeln, Tränenzwibbeln« . . . das Gelächter wuchs an –
»Spielen Sie einen Walzer!« rief Hotel Disch der Musik zu, »zum Teufel, los doch!«
»Mm, da läuft das Tränchen über ihre Backe«, murmelte Kortüm. Mimis Hand tastete nach dem Treppengeländer, sie griff daneben, in das stachlige Tannicht der Girlande, das Händchen fuhr zurück; Kortüm sah alles genau . . . die Musik hatte ungleich eingesetzt, fiepte, quiekte, schwieg. Das Gelächter toste –
»Ein Fest«, sprach Herr Kortüm, und sein Auge suchte zornig die Schreier und Lacher, »verdammt, ein Fest auf Kosten einer Frau?!« Er sah das hilflose Wesen an – da ging er die Stufen hinan, gab ihr die Hand –
»Kortüm!!« schrie der Markt.
»Jawohl!« rief Herr Kortüm.
»Hoch!« schrie die Festversammlung, »Herr Kortüm hat's gesagt. Hoch!!« Es war ja so gleich, wer hier hoch lebte, wir leben alle hoch: »Hoch!!« Die Schüsseln und die Platten und die Töpfe dampften, die 427 ganze Stadt duftete nach Gebratenem, Gebackenem, Gesottenem – Feiertag ist, Musik mit Pauken und Trompeten: Gott, laß uns leben. Und der alte Kurfürst sagte ja dazu und hob schmunzelnd sein friedliches Schwert. Kortüm aber hob jetzt das Pergament – der Markt wurde still: »Jawohl. Ich bin noch da!« Und grimmig legte Kortüm das Pergament in Mimis Arm. Die Musik spielte einen Tusch. Herr Kortüm stieg die Treppe hinab. Auf dem Podium stand Mimi Schlick. Die Musik blies und paukte auf des geistesgegenwärtigen Hotel Disch Anweisung kraftvoll weiter. Das Grand Hotel konnte im Augenblick keine Anweisungen geben. Es atmete tief, ganz tief auf. Der anerkannt beste Koch der Gegenwart aber hatte seinen Festzylinder abgenommen, schaffte sich mit einigen Handbewegungen Raum, schritt eilig durch die Menge und verschwand. Monich suchte über all den Köpfen nach dem glänzenden schwarzen Rohr. Nirgends war es zu sehen.
»Bombenelement, Nachbar, un verflucht, was is denn das?«
»Da steht se«, sagte der Nachbar verdutzt. –
Kortüm ging in tiefen Gedanken durch leere Straßen. Wenn Schiffe scheitern, gehören die Boote zuerst den Frauen – darüber war kein Wort zu verlieren. Erstens war sie eine Frau, und zweitens konnte auf dem aus den Fugen gegangenen Markt nur er, kein andrer als er, der Herr Kortüm, ins hin- und herschlagende Steuer greifen. Der Gedanke schmeichelte ihm ein bißchen. Trotz eines höchst fremdartigen Untergefühles gewährte ihm diese Eroberung Jenas eine Befriedigung: die Leute wußten nicht wie, aber Kortüm war gekommen, als alle ratlos waren. Kortüm hatte sich nicht einmal mit einer Rede angestrengt, eigentlich nur den Arm hatte er hochgehoben – und die hilflose Frau war gerettet. Und die Kochfestwoche war gerettet. Und der Diätverein war gerettet, alle waren gerettet . . . »Ja ja«, murmelte Herr Kortüm, sah sich um und bemerkte, daß er vor der Bahnhofshalle angekommen war – ganz unversehens.
»Also gut«, sprach er, »heute abend bin ich in meinem Haus.«
Er hätte lieber ein Flugzeug nehmen sollen. In fünfzehn Minuten wäre er dann im Flügelhause gewesen und gerade noch zur rechten Zeit angekommen. Konstanze Schröter nämlich mußte ihren Wagen, den sie von Florenz über München in kleinen Tagereisen gemächlich bis aufs Flügelhaus gesteuert hatte, schon vorne am Tanneneck zum Halten bringen, weil sie nicht am Portal des Flügelhauses vorfahren konnte. Auto hinter Auto stand da. Hausdiener luden Koffer ab. Sie hupte.
428 »Was ist denn bei euch passiert?« fragte sie den herbeieilenden Portier.
»Die World, gnädige Frau.«
Du lieber Gott, wollte Konstanze sagen, aber sie fragte nach Herrn Kortüm.
Bedauernd hob der Mann mit den Goldknöpfen die Schultern: »Verreist.«
»Wenn die World zu ihm kommt?!«
»Nur auf kurze Zeit. Auch die World bleibt höchstens zwei Tage.«
Nein, da fuhr sie schon lieber weiter. Das Flügelhaus ohne Kortüm war eine halbe Sache. Aber ohne Kortüm und mit World? »Ich komme in den nächsten Wochen wieder vorbei. Bestellen Sie einen Gruß.«
Der Schaffner prüfte die Fahrkarten und sagte zu Herrn Kortüm: »In Ottstedt umsteigen.«
»Ich will ja nach Esperstedt.«
»In Ottstedt umsteigen.«
»Das ist kein direkter Zug? Teufel, wann habe ich Anschluß?«
»Acht Uhr zehn.«
Kortüm sah nach der Uhr: »Drei Stunden Aufenthalt!«
»Drei Stunden sind es bis zwanzig Uhr zehn, mein Herr. Um acht ist es bekanntlich morgens früh.«
»Was?! Ich habe heute keinen Anschluß mehr?«
»Acht Uhr zehn.«
Man soll nicht in Gedanken gehn. Aber man soll noch weniger in Gedanken fahren. Denn beim Fahren kommt man in Gedanken sehr viel weiter. Herr Kortüm suchte also das Gasthaus in Ottstedt auf. Er fand es bald, aber es verging eine gute Weile, bis jemand kam. Die erhitzte Wirtin erklärte ihm, es sei nämlich heute gerade große Wäsche. Das riecht man, dachte Kortüm und folgte der Frau. Hm, das Zimmer war niedrig, aber groß, die Fenster wohlverschlossen – »daß die Fliegen nich so reinkommen« – das Bett war von gewaltigen rotkarierten Federkissen aufgebläht.
»Die Hälfte genügt«, sagte Kortüm und ließ den Bettberg abtragen. Er öffnete auch das Fenster und bat um ein Stück Seife – nichts hatte er bei sich: sein Koffer stand ja in Jena.
Die Wirtin sah seinen Rock, seinen Zylinder an: »Ach, der Herr kommt wohl von einem Begräbnis?«
Kortüms Kopf fuhr herum, aber er sagte nichts.
429 »Da müssen wir vor allem erst mal was in'n Magen kriegen, nich wahr?« fragte die teilnehmende Frau.
»Danke. Ich werde vorläufig nicht essen. Aber, ja« – er strich über seine Weste – »ein Glühwein vielleicht.«
»Roten haben wir nich.«
»Aber Weinbrand? Hm . . . Ja, wissen Sie – Kortüm ist mein Name, Kortüm vom Flügelhaus.«
»Ach nee doch! Kortüm?! Der Herr Kortüm! Aber so was! Waren Sie denn das nich, der dazumal in Kranichstedt –«
»Liebe Frau«, unterbrach sie Herr Kortüm hier mit Recht, denn wer eben eine ganze Stadt regiert hat, mag nichts von Städten hören, in denen er regiert worden ist, »liebe Frau, das wollte nur besagen: ich bin vom Fach. Und mir ist im Augenblick etwas flau im Magen. Man hat da so seine eignen Rezepte.«
»Natürlich! Aber ja doch, Herr Kortüm! Wir sin doch von ein un derselbigten Brangsche!«
»Also bringen Sie mir einen Spirituskocher, einen sauberen irdenen Topf, Cognak, einige Gewürznelken, eine halbe Zitrone, etwas Zucker und ein kleines Glas Himbeer. Dazu zwei Löffel und ein Glas.«
»Hier rauf? Wollen Sie gleich ins Bette?«
»Ich habe vorm Haus einen Tisch stehen sehen. Unter der Linde. Dahin.« –
Herr Kortüm kochte seinen Wein, trank ihn, sah auf die abendwarmen Hügel drüben, und wenn auf der Landstraße, an der das Wirtshaus lag, ein Auto vorüberglitt, blickte er dem Wagen nach: »Der fährt vielleicht nach Jena, und dort wäre jetzt vielleicht Revolution, wenn ich nicht eben in Jena gewesen wäre und nun hier säße. Wie wenig die Leute von dem Boden wissen, auf dem sie herumfahren.«
Die Nacht brach ein. Kortüm verspürte keine Lust, von seinem Stuhl unter der Linde aufzustehen, wohl aber war ihm im Laufe des Abends nun doch ein Hungergefühl gekommen nach all den Tagen des beruflichen Fastens. Die Wirtin mußte ihm Schwarzbrot bringen und Schinken. Er aß mit Genuß, und als die Zigarre brannte, fehlte ihm ein Trunk. Ein Schluck Wein würde die Erinnerung an die eben verlebten Stunden verklären. Rotwein gab es nicht. Herr Kortüm beschloß, zum zweiten Male die Selbstbereitung eines rotweinähnlichen Getränkes vorzunehmen. Unter der mächtigen Linde war es schon völlig Nacht. Kortüm mußte aufpassen, daß er den Brennspiritus nicht am Kocher vorbeigoß. – 430
Konstanze hatte im Esperstedter Gasthof zu Abend gegessen. Dann setzte sie sich in ihren Wagen. Hinbummeln wollte sie im Auto, ganz gemächlich nach Weimar fahren. Ihr ging Florenz durch den Sinn, die Hügel am Arno sah sie, die weißen Villen an den Hängen. Ihr Auge glitt über das Thüringer Land. Nachtbeschattete Hügel, breitgelagert wie Bastionen. Auf so einer Festung wohnte nun dieser Herr Kortüm. Und die World war gekommen und belagerte ihn. Konstanze lächelte. Die gute Straße ging immer eben weiter, ohne Kurven. Ohne Gefahr konnte sie ein wenig sinnieren beim Fahren. Aber da kamen Scheunen, Häuser . . . wo sie wohl war? Da – was ist das? Im schwärzesten Schatten tanzt ein Irrlicht, eine Flamme. Plötzlich packte sie das Steuerrad fest mit den zwei Händen und trat im Schreck den Gashebel herunter. Der Wagen war im Nu durchs Dorf geglitten, aus der Häuserzeile gehuscht ins Freie. »Gespenster«, flüsterte Konstanze, »eine Erscheinung hab' ich gehabt . . . Ich denke an einen Menschen . . . und da seh ich ihn lebendig . . .«
Sie hätte schwören können: dort hinten in dem fremden Dorf, an einem Steintisch unter einem großen Baum hatte sie Herrn Kortüm sitzen sehen. Nacht und Nichts – nur Kortüms Kopf, aber in einem unheimlichen blauen Licht; und der Kopf nickte und sprach, sprach bei Gott mit einem Irrlicht, mit einer wunderbar blauen tanzenden Flamme, die oben in goldene schlängelnde Spitzen auslief – eine zitternde lebendige Krone.
»Unsinn!« Konstanze setzte sich in ihrem Wagen zurecht, schüttelte den Mitternachtsspuk ab und gab gut acht auf den Weg, daß nicht noch ein Unglück geschah.
»Aber ähnlich sähe 's ihm schon«, lächelte sie, als die tröstlichen Lichter der Stadt vor ihrem Blick auftauchten. –
Herr Kortüm blieb lange auf. Er hatte Angst vor dem rotkarierten Riesenbett und gedachte wehmütig seines Koffers, der mit allem Notwendigen wohlversehen im leeren Gasthofzimmer stand, zum Glück in Monichs Schutz.
Aber schließlich mußte er doch einmal Ernst machen mit dem Schlafen. In seinem Begräbnisanzug stieg der Sieger von Jena die Treppe hinauf, und nach längeren Vorbereitungen lag er in seinem gestärkten festlichen Oberhemd höchst unbehaglich im Bett und gab sich Mühe einzuschlafen.
Er träumte von seinem gestohlenen Koffer, von Monich, der ihn 431 rettete, der ihn aufs Flügelhaus brachte – aber wie der ihn hinstellte, war er verwechselt: Monich hatte den Kurfürsten aus Jena mitgebracht. Der Traum wurde immer quälender: da stand nun der Hanfried mit erhobenem Schwert auf dem Schottenhof, der Püsterich schnitt ihm Gesichter – das Gewicht der ländlichen Bettdecke drückte Kortüm.
Tief in der Nacht fuhr der Reisende hoch. War das ein Hochruf? Hoch, rief in der Ferne jemand. Erschrocken sah er sich im Zimmer um. Ach ja, das ist Ottstedt. Das Mondlicht brach wie ein mächtiger silberner Balken durch das kleine Bauernfenster. Grade auf den Tisch schlug die blitzende Flut, und auf dem Tisch stand einsam Kortüms einziges Gepäck: sein Zylinder. Wie der glänzende Hut das Licht spiegelte!
Herr Kortüm lächelte im Einschlafen. Sah es nicht ganz so aus, als ob da gleich über der Krempe ein paar schmale Lorbeerblättchen an seines Hutes metallisch kriegerische Rundung zärtlich sich schmiegten?