Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Nacht

Der Mensch wird nicht einmal geboren, sondern vielemal, und er stirbt nicht nur einmal, sondern vielemal. Bei seiner Lebzeit und nach ihr kommt er, geht, kommt wieder, geht wieder – wie sein Blut war oder wie der Geist war, den er bedeutete, und wie dieser Geist 457 den Geist der Zeiten antrifft im Gang der Geschichte. Wer durch das Blut lebte, wird im Blut wiedergeboren und stirbt wieder, kommt, geht, kommt in seinen Kindern. Und wer auch den Geist trägt, lebt im Geist der Geister. Wenn Leben Bindung ist, wäre Freiheit gerichtet auf den Tod, weil aber Tod die Bindung nicht löst, ist Leben nur ein kurzer Aufenthalt zwischen Freiheit und Freiheit.

Ungefähr diese Gedanken sagte der trauernde Kortüm in seiner Sprache und in immer neuer Abwandlung vor sich hin. Er vergaß, daß Windhebel neben ihm saß, merkte nicht, daß es Nacht geworden war und das Gras feucht von Tau. Aber der Gelehrte stellte seine Füße auf das Querholz des Stuhles und sagte: »Ich glaube, wir gehen unter Dach.«

Kortüm sah auf, erblickte das sternbesäte blausamtene Dach über sich und sprach: »Einiges steht aber doch schon zu Lebzeiten fest. Wenn auch nicht auf der Erde. Sehen Sie diesen Mond, Herr Doktor. Blendend silberweiß und voll. Wie sicher er schwebt.«

»Ich weiß nicht. Irgend jemand, Ovid glaub ich, versichert, daß die Bewohner von Arcadien älter seien als der Mond. Bei jeder Gelegenheit betonten sie mit Stolz, daß ihre Urväter auf einer mondlosen Erde gelebt haben.«

»Der Mensch hat also bereits in Urzeiten gelogen.«

»Hinter Sagen hat Wirklichkeit gestanden« – Windhebel stellte die Bahnen einiger Gestirne dar, erwähnte die entsetzliche Möglichkeit, daß ein Komet beim Schwingen um die Sonne auf seiner elliptischen Bahn einem anderen Stern zu nahe kommen könne und nun um diesen laufen müsse, als ein Mond um eine Erde. Er zeigte viele Lichtpunkte am Himmel, deren Namen Kortüm noch nicht gehört hatte, nannte furchtbare Zahlen, deutete unentwirrbare Laufbahnen an. »Ja«, schloß Windhebel, als er seinen Wirt bedrückt in den Weltenraum hinausblicken sah, »in den Jahren, als Wolfram hier in Ihrer Gegend den Parzifal entwarf – merkwürdige Jahre – hat ein spanischer König lebhaft bedauert, daß ihn Gott bei Erschaffung der Welt nicht zu Rate gezogen hätte: er würde ihm dringend etwas mehr Einfachheit empfohlen haben. Man hat den König übrigens bei passender Gelegenheit wegen Gotteslästerung über die Grenze abgeschoben.«

Kortüm hatte nur halb zugehört. Sein Auge hing noch immer am Sirius, und er versuchte, sich die Lichtjahre seiner Entfernung vom Flügelhaus einzuprägen: »Ich habe gedacht, Sie befassen sich jetzt mit der Erforschung der Erde, Herr Doktor.«

458 »Zuweilen. Von Beruf ist man Astronom.«

Nach einer Pause fragte Herr Kortüm unvermittelt: »Ist ein Fernrohr teuer?«

Der Gelehrte rückte diese Frage zurecht und nannte dann einige Zahlen für bescheidene Instrumente. Kortüm rechnete, ging um den Püsterichbrunnen herum, und als er wieder bei Windhebel angekommen war, sagte er: »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Gehn wir jetzt unter Dach.«

Für Herrn Kortüm endete dieser Begräbnistag mit dem Entschluß, sich ein Fernrohr zu kaufen.

In Albrechts Hause war es an diesem Abend so still wie in dem Weltraum, den sich etwas näher zu rücken Herr Kortüm eben beschlossen hatte. Wenigstens Menschenohren vernehmen nichts von den Furchtbarkeiten, die sich auf Sternbahnen abspielen, und nichts von den Frostschauern um das eingewinterte Menschenherz, aus dem so wenig ein Laut in die dumpfe Stallwärme der Behaglichkeit dringt wie aus den planetarischen Räumen herab.

Lotte saß auf dem Stuhl vorm Tisch. Das Licht brannte nicht. Die Nächte sind hell im Juni.

Sie traute sich nicht ins Schlafzimmer. Die Küche war besser. Alles sah ordentlich aus. Wer sie ihr aufgeräumt hatte, wußte sie nicht. Nur eine Puppe war auf dem Tisch liegen geblieben. Auf ihrem Gesicht lag das Spielzeug, wie müde Kinderhände es liegen lassen. Lottes Hand fuhr über die Puppenkleider, zupfte an dem Schürzchen, strich über das Flachshaar, setzte sie richtig hin, legte ihre Porzellanhände ineinander. Der Kopf der Puppe fiel dabei hintenüber. Blöd lächelte die Puppe in die Höhe, reglos. Der törichte Porzellanmund lächelte. Lotte sah im ungewissen Licht die steinernen Augen, sah das dumme steinerne Glück in bunten Lappen – jäh legte sie die Hände auf das Gespenst, warf die Arme darüber, preßte den Kopf auf die Arme. Lotte biß die Zähne in den schwarzen Kleidärmel, drückte die Zunge an das trockene faserige Gewebe: nur kein Laut . . . Ihre ganze Kraft verbrauchte die Frau, um das Schluchzen ins Herz hinunterzudrücken. Hedchen wacht sonst auf. Lotte müßte sterben, wenn das Kind noch einmal fragte: Wann kommt Vater wieder?

Die Dorfuhr schlug die zehnte Stunde. Es war die Zeit der hellen Nächte. Aber der Himmel leuchtete nicht mehr durchsichtig. Gewölk zog von Westen herüber. Lotte lag still mit dem Kopf auf den Armen. 459 Sie war ja so todmüde. Aber ganz wach dabei. Wenn sie jetzt nur ihre Augen fest an den Arm drückte, brauchte sie eine Weile nichts mehr zu sehen . . . vielleicht eine Stunde lang. Eine volle Stunde nichts sehen müssen! Das Tuch zog Lotte um die Ohren. Nun ist auch noch Totenstille . . . eine Stunde, vielleicht noch eine . . . es geht schon. Nur ganz ruhig so liegen bleiben.

Auf der Treppe tappten vorsichtig fühlende Schritte. Lotte hätte sie heute auch ohne Wolltuch nicht gehört. Die Türklinke bewegte sich. Die Tür drehte in den Angeln, knackte. Lotte hob den Kopf nicht, nur die Augen machte sie ein wenig auf. Im Spiegel sah sie, wie die Tür weiter aufging. Ein Lichtglanz fiel herein, kein stechendes Licht, flackernder Schimmer nur. Lotte erblickte eine Hand, die ein Kerzenstümpchen hielt . . . eine alte Frau kam herein, eine fremde, eine Dame mit einem Spitzenhäubchen. Sie hob die Kerze, sah sich um, erblickte Lotte.

»Guten Abend«, sagte sie lächelnd.

Lotte konnte längst nicht mehr erschrecken. Willenlos sah sie die Erscheinung an, und als die alte Dame ihr zunickte, nickte sie auch ein bißchen.

»Das Licht will gar nicht halten« – der fremde Besuch tupfte ein paar Lichttropfen auf die Linoleumplatte, hielt die Kerze ein Weilchen: »So . . . so . . .«

Der Wind ging jetzt draußen. Ein Luftzug wehte durch den Fensterspalt. Das Licht flackerte, und die Flamme wurde groß. Lotte rieb die Augen. Die alte Dame nickte ihr wieder lächelnd zu: »Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie. Ich bin nämlich das Fräulein Erdmuthe Haupt.« Sie hob ein paar Herdplatten hoch, schürte mit dem Eisen in der Glut. »Da brennt's ja noch. Ich wohne mit meiner Schwester beim Herrn Kortüm oben.« Das alte Fräulein goß den Wasserkessel aus, ließ aus der Leitung frisches Wasser einlaufen, stellte den Kessel aufs Feuer. »Ist das der Tee? Man hört's am Rascheln. So. Nicht zu viel Blätter. Die Hauptsache ist heiß.«

Lotte sah mit großen Augen zu, wie das fremde Fräulein in ihrer Küche waltete.

»Ja, der Herr Kortüm. Ich dachte, geht denn das? Aber Herr Kortüm sagte: ›Nehmen Sie nur ein Licht mit. Die Treppe ist so winklig. Im zweiten Stock ist's. Die Tür links.‹ Ja. Es geht alles. Nur auf die Zeit muß man es setzen.«

Eine Weile horchte das alte Fräulein auf den Wind. Lotte dachte auch: der Wind plötzlich. Als dann der Kessel zu summen anfing, war 460 es Lotte, als müsse das alles so sein. Sie war zu Hause. Und Fräulein Haupt war zu Hause. Der Wind mochte den Staub draußen jagen: der Kessel summte noch lauter. Jetzt klapperte der Deckel: »Da kocht's schon«, sagte Fräulein Haupt.

Sie goß das dampfende Wasser auf die Teeblätter.

Lotte richtete sich aus ihrem Stuhl hoch, wollte aufstehn. Sie wurde langsam wach, die Hausfrau wurde wach. Aber das alte Fräulein zog den Schemel heran: »Sie sind heute älter als ich.«

Lotte hatte beinahe alles vergessen. Da war das Gefühl in der Kehle wieder, und in der Brust kroch es dornig und eiskalt hoch. Verzweifelt sah Lotte die Frau an, die sie wach gemacht hatte. »Ich weiß schon«, sagte Fräulein Haupt ruhig und klapperte mit den Tassen, »Ihre Mutter ist krank. Es gibt aber Stunden, in denen ist ein fremdes Gesicht das beste.« Lotte hatte die Arme vom Tisch genommen: sie hat eine Puppe im Arm gehabt . . . Erdmuthes altes Herz zog sich zusammen. »'s Töchterchen«, sagte sie.

Und Lotte sagte leise vor sich hin: »Der Vater.«

Da faltete Erdmuthe Haupt ihre welken Hände: »Vater –«

Das Wasser in Lottes Augen ließ den Schein um die Kerze zittern, wachsen. Sie sah ihren Mann im Licht der Orgellampe: »Unser Vater«, sagte sie.

Erdmuthe lächelte: »Dein Name ist heilig.« Sie sprach das mit sachlicher ruhiger Stimme. Durch Tränen sieht der Mensch nichts Rechtes – Lotte sah nur den Flackerschein der Kerze.

»Dein Reich kommt«, nickte das Fräulein. »Es kommt.«

Lotte faltete die Hände, wie sie es als Kind gelernt hatte vor vielen Jahren. Dazu habe ich's gelernt? Ach . . . dazu.

»Ja«, nickte Erdmuthe, »wie unruhig das Licht brennt . . . Unser nötiges Brot gib uns jeden Tag«, und nun sprach sie Wort für Wort langsam aus, ohne eines der Worte besonders hervorzuheben, ein Regentropfen wie der andere am Fensterglas: »Du vergibst uns unsere Schuld, wie wir jedem vergeben, der in unserer Schuld ist. Und führe uns nicht in Versuchung.«

Der Schall der Dorfuhr wehte im Wind.

»Solches Wetter. Nun muß ich warten.«

Der Regen rauschte ebenmäßig nieder. Ein herb duftender Wasserhauch wehte in die Küche. Lotte atmete ihn ein. Ganz tief: die Luft läßt sich ja wirklich atmen. Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen. Wie ein Uhrgewicht zog die Müdigkeit an ihren armen Gedanken. 461 Regenrauschen. Der Schlaf umfing sie. Schon schlummernd sagte Lotte: »Gute Nacht« und ließ sich zu Bett bringen wie ein Kind. Sie ließ sich zudecken. Richtig zudecken, das Bett schön zustopfen an den Seiten. Geborgen. Hier war sie zu Hause. Die Welt? Wo denn. Irgendwo.

»Dazu, ach«, hörte sie das alte Fräulein noch einmal sagen. Aber Lotte schlief schon ganz fest.

 


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