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Inzwischen waren die Tage der Küchen- und Kellerwoche herangekommen – eine anspannende Zeit im Gastwirtsgewerbe. Auf dem Flügelhaus war bisher niemand von dieser gastronomischen Unruhe gestört worden, denn Herr Kortüm konnte kochen, wußte, daß er kochen konnte, bereiste deshalb nicht die Landeskochtage, sondern sprach zu sich und den weißgekleideten Gestalten in der angenehm durchdüfteten Flügelküche: »Kochen wir! Aber kümmern wir uns um unsere Töpfe. Denn die zu füllen sind wir bestellt. Und füllen wir sie an mit Wohlgeschmack und Bekömmlichkeit, so merken wir am Appetit der unserer Fürsorge anvertrauten Gäste, was unsere wahre Aufgabe ist und wo der Reingewinn wirklich herkommt.«
Da Herr Kortüm ferner nicht das Bedürfnis fühlte, sich laufend mit Berufsbrüdern über die Vorkommnisse in Gewerbe und Umwelt zu besprechen – eher noch mit Erdbebenforschern, Schauspielerinnen, Leinwandhändlern und Schulmeistern – so gab er zur Zeit der Landesfestkochwoche die Anordnung, am Fernsprecher zu sagen: Herr Kortüm baue grade und könne nicht abkommen.
Diese Auskunft war nun schon zweimal an die Berufsgenossenschaft gegeben worden, und im dritten Jahre sagten sich die Geschäftsfreunde: Herr Kortüm sei zwar ein anerkannt bewegungsfreudiger Gastronom – aber ein Mann könne doch nicht immer bauen, und ein Bau, sogar 414 ein Umbau, müsse doch auch einmal fertig werden. Die Spitzen des Landespreiskochausschusses setzten sich persönlich in Bewegung, um die Vorgänge im Schottengelände mit eigenen Augen zu sehen.
Bei ihrer Ankunft auf dem Schottenhügel standen die Herren des Ausschusses still, sahen sich rings um und sprachen zueinander in großem Erstaunen: »Welch ein Friede hier! Entzieht sich dieser Mann etwa mit Gewalt einer Preiskrönung?«
Keine Spur von Kalk und Kelle, Staub und Steinschlag war zu merken.
Kortüms Arbeitszimmer lag, wie wir wissen, gleich der Kommandobrücke eines Schiffes blickfrei nach allen Seiten. Er bemerkte denn auch sofort die drei Ankömmlinge und sagte zu Monich, der ihm Proben von neuen rotweiß gestreiften Sonnenvorhängen gebracht hatte: »Sieh da, Monich – drei Kollegen vor meiner Tür: der lange dort ist Hotel Disch, links – der mit dem Klemmer – ist der Gasthof auf dem Schneeberg, und der Dicke mit dem Taschentuch, das Grand Hotel.«
»Alle Wetter. Was wollen denn die, Kortüm?«
»Zunächst speisen. Packe den Drell weg. Komm mit. Wir werden hören.« –
Die drei Ausschußspitzen betasteten bei Tisch Herrn Kortüm und besonders den Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr Monich sorgfältig von allen Seiten. Aber sie kamen zu keinem sicheren Ergebnis. Herr Kortüm war ausgesucht höflich und beantwortete gelegentliche kleine Versuchsstiche mit noch größerer Höflichkeit. Der Ausschuß sagte sich: er kommt selten in unsere Mitte, aber unsere Gebräuche sind ihm dennoch vertraut – es ist schwer, ihm auf den Zahn zu fühlen. Bekanntlich speisen Hoteliers, wenn sie zu dreien, vieren auftreten, vorzüglicher als Filmstars und werden ganz bestimmt besser bedient als regierende Fürsten. Die Kellner gleiten durch den Raum, wenn drei, wenn vier Fachmänner so einen scheinbar beiläufigen, etwas müden Blick auf ihre Bewegungen fallen lassen – die Schüsseln schweben in der Luft, und die Getränke sickern von selber in die Gläser. Oh, und die Speisen! Die erholungsuchenden richtigen Gäste hätten heute Hungers sterben können: die Küche dachte an nichts als an den runden Tisch in der Ecke unter der Lampe mit dem gelben Schirm: dort saßen vier lebende Hoteliers, sachverständige Chefs, Gewitzte von Grund aus, denen mit Redensarten, Pfiffen und Kniffen zu kommen nicht geraten war. Die stachen mit den silbernen Gabeln durch jegliche Aufmachung und befühlten den Kern der Sache. Der Kern war denn heute auch danach: 415 Monich aß mit Wonne, sah und hörte nichts und sprach kein Wort. Der Erfolg war natürlich dieser: der Landesausschuß hielt den ihm unbekannten Mann für den allergescheitesten Kollegen und aß vorläufig weiter. Kortüm jedoch, meinte Hotel Disch, also mit Herrn Kortüm wäre ja alles klar. Der käme dies Jahr. Die Landeskochwoche fände doch ganz in der Nähe statt, in Jena diesmal.
»Nein«, sagte Herr Kortüm.
»Man kann doch wenigstens ein paar Tage abkommen«, redete der Schneeberg zu.
Herr Kortüm bedauerte: »Ich habe Bausorgen.«
Das Grand Hotel befestigte ein Scheibchen sanft schmelzender Kräuterbutter auf dem untadelig tiefrot schimmernden Steakwürfel, nahm diese Komposition zu sich, ließ einen Tropfen Hochheimer Spätlese Witwe Kober 1935 nachgleiten, tupfte mit dem Tüchlein die Stirn und sprach: »Pardon, Verehrter – umbauen? Wir sahen nichts.«
»Natürlich nicht. Ich baue eben an einem Weg, am Kortümweg, meine Herren. Ich werde Sie nach dem Kaffee dort spazieren zu führen die Ehre haben.«
Aber Kortüm kam so leichten Spieles nicht davon. Man verglich den Bau von Gasthäusern und Gaststraßen. Die drei Herren waren zu verhandeln gewohnt, und ehe das Flügelhaus wußte wie, waren ihm die Fittiche zusammengebunden.
»Ihr Wohl!« rief der Schneeberg.
»Was wollen Sie?« Das Grand Hotel kostete von einem Eskarolblatt. »Eben aus der Erde? Selbst gezogen? Glückliche Landbewohner. Ja, was wollen Sie, Kollege: Sie sind einfach dran. Wir haben doch schon alle den Preis. Und eh es wieder reihum geht, müssen Sie ihn haben.«
»Es gibt eine Tafel, die Sie an der Hauswand befestigen können. Blaue Emaille mit Gold. Sehr geschmackvoll. Außerdem die Schlipsnadel.«
Herr Kortüm wollte nach weiteren Ausreden suchen, aber Monich sagte im Friedensbedürfnis des absoluten Sattseins: »Kortüm – fahre. So ein Schild am Haus, das macht sich immer gut. Du fährst nach Jena, Kortüm, un ich, ich komme mit.«
»Morgen mit dem Frühzug«, sagte Hotel Disch befriedigt.
Aber Kortüm entschied: »Übermorgen.«
»Da wird die Zeit zum Preiskochen knapp«, warnte der Schneeberg. »Die meisten Wettbewerber treffen bereits heute ihre Vorbereitungen.«
416 »Dann gar nicht. Ich habe verstanden, daß man mich zur Überreichung des Preises nach Jena bittet.«
Das Grand Hotel sah die bereits geschaffene Grundlage wanken und schnitt seinen beiden Berufsgenossen mit einer vornehmen Handbewegung das Wort ab. »Selbstverständlich ist das dortige Kochen für eine gastronomische Persönlichkeit Ihres Ranges, Herr Kortüm, eine Formalität. Freilich eine nicht zu umgehende. Können Sie uns morgen durchaus nicht die Freude machen?«
»Durchaus nicht. Ich habe da einen Gast unterzubringen. Besonderer Fall. Ein kranker Organist. Wohnt in vier engen Pfählen. Unten im Ort. Er muß bei mir wohnen. Auf der Höhe. Sonnig. Ich habe meine Gründe.«
»Gründe«, sagte das Grand Hotel zustimmend, »verstehe. Geschäft ist Geschäft . . .«
Ge— Geschäft? . . . wollte Kortüm fragen, aber er besann sich rechtzeitig. Wenn die drei Herren eine Ahnung von Wingens Vermögenslage bekämen, müßte er ja wohl auf der Stelle mitfahren. Schon begann Monich: »Na weißte, Kortüm –«
»Du hast recht, Monich. Geschäft geht allem vor. Übermorgen.«
Man verstand sich gegenseitig völlig an diesem Tisch und goß vorsichtig die heiße Schokoladentunke auf das Pistazieneis.
Herr Kortüm reiste zum Landeskochen nach Jena. Da er preisgekrönt werden würde, führte er im größeren Handkoffer den schwarzen Anzug, die weiße Wäsche und die Lackstiefel mit sich, in einem kleineren runden Behälter den Zylinderhut und in einem dritten Köfferchen die Zutaten, die er beim Kochen brauchte.
Monich, dieser dem Landesausschuß völlig unbekannte Mensch, bedurfte weit weniger Ausstattungsstücke. Er kam an Zutaten mit einer halben Flasche Weinbrand aus, für den Fall körperlicher Mißhelligkeiten, und sagte: »Kortüm, wann bringst du nu endlich den Püsterichschnaps heraus? Wer auf die Reise geht, schleppt sich mit nischt nich gerne. Vom Püsterich eine Viertelpulle, un ich habe bei halb soviel Materie doppelt soviel Stoff wie in der halben hier.« Kortüm gab nur eine knurrige Antwort. Seine Stimmung war nicht die beste. Er hätte ruhig gestern fahren können, dann wäre er einen Tag früher wieder zu Hause gewesen. Wingen war noch nicht aufs Flügelhaus gezogen. Langloff hatte dringend abraten müssen: grade in den letzten Tagen sei der Patient zu unruhig gewesen, um eine Ortsveränderung als 417 wohltuend zu empfinden. Wingens aufgeregtes Orgelspielen war der Umgebung zu Ohren gekommen. Kortüm konnte nichts gegen Langloffs Rat sagen, er konnte nur schlechte Laune haben.
Bei ihrer Ankunft fanden der Herr des Flügelhauses und sein Freund Monich die Stadt Jena mit Besuchern bereits völlig angefüllt. Ohne Monichs gutes Zureden hätte Herr Kortüm wahrscheinlich schroff abgelehnt, das Getümmel um seine Person zu vermehren.
Drei Menschenansammlungen tagten gleichzeitig. Erstens war Markttag, zweitens hatte die Landeskochwoche begonnen, und drittens versammelte sich die Gesellschaft der Freunde geistiger und körperlicher Diät. Die erstgenannte Versammlung leitete heute wie seit so vielen Jahren schon der alte gute Kurfürst Johann Friedrich, der in Bronze inmitten des bunten Wimmelns steht und unter dem Namen Hanfriede als der behaglich schmunzelnde Vater dieser Versammlung verehrt wird. Die Landeskochwoche unterstand keiner echten Bronze, sondern dem nur als rocher de bronce wirkenden Besitzer des Grand Hotel. Und die Gesellschaft der Freunde geistiger und körperlicher Diät hatte sich dem zwar in der Gegend noch etwas neuen, aber äußerst tüchtigen und unermüdlichen Doktor Langloff anvertraut. Wenn diese beiden ortsfremden Herren ihre Sache annähernd so gut machten wie der Hanfriede, konnte von den kommenden Ereignissen nur das Beste erwartet werden.
Infolge gänzlicher Verstopfung der Hauptstraßen schlugen sich Kortüm und Monich durch Nebengassen. Nach einigem Kreuz und Quer kamen sie in eine gefährlich enge Gasse, und plötzlich waren sie auf dem Markt. Hier ging ihnen ein wunderbarer Anblick auf, dem auch Herr Kortüm nicht widerstehen konnte. Oben am Fenster des Rathauses standen zwischen wehenden Fahnen die Stadtmusikanten und bliesen – nur weil Markttag war, bliesen sie auf Trompeten. Um den Brunnen glühten die Holzkohlen unter den Eisenrosten. Weißblaue Wolken dampften in die Linden vor dem Rathaus, die Würste dehnten sich über der Glut, bräunten sich, dufteten. Herr Kortüm beobachtete fachmännisch, wie die Leute ohne Teller, Messer und Gabel mit den fettgeladenen Würsten zwischen den länglichen Semmeln fertig wurden. »Jeder auf seine Weise«, sagte er, »an der Behandlung dieser beiden Wurstenden, die aus der Semmel herausgucken, erkennst du den Charakter des Essers, Monich.« Der eine aß zuerst die beiden überstehenden Enden reine Wurst. »Das ist eine Nach-mir-die-Sündflut-Natur. Was ich habe, hab' ich.« Der ältere 418 Herr dort verspeiste nur das eine Wurstende, dann ordnungsgemäß die Mitte samt Semmel. Nun besah er genießerisch das übrige Ende Reinwurst und aß es langsam mit dem Hochgefühl des belohnten Sparers auf, während ihm ein Barfußjunge die Bissen in den Mund zählte. »Der Weise, Monich.« Eine junge wunderhübsche Frau mit dem Marktnetz voll Gemüse, einer Tüte Obst und einem riesigen Strauß Bauernblumen – diesen unter den Arm geklemmt – machte es ganz anders. Sie biß erst das eine Wurstende ab, dann das andere. Nun aber schob sie die Wurst mit dem zierlichen Zeigefinger durch die Semmel hindurch und zuletzt – steckte sie die leere Semmel in das Netz . . . »Eva«, sprach Herr Kortüm bewunderungsvoll. »Eva – gegen die ist auch der Weise nur ein Esel.« Aber die junge Thüringerin merkte mit der diesen liebenswürdigen Frauen eigenen Helligkeit sofort des fremden Herrn Gedankengänge, zog die Stirne kraus, drückte den blonden Zopf in den Nacken und ging mit den Augen gradaus an Kortüm vorbei.
»Aber hat sie nicht recht? Hinsichtlich der Kürze des menschlichen Daseins, Monich?«
Der alte Kurfürst stand über dem lachend gelb und knallrot und grün und blauen Wogen, hielt sein Schwert hoch – nur hoch hielt es der Gute, nicht um zu schlagen mit des Schwertes Schneide. Hanfriede sah seine Kinder um sich versammelt und sagte: Gott, laß uns leben. Eilt euch. Seht mich an. Seit vierhundert Jahren schon ist all diese Herrlichkeit für mich vorbei. Die Körbe quollen über von frischem Gemüse, die Eierwannen wölbten sich, Butterwecken lagen zuhauf, vom Fisch und Krebs und Huhn bis zur Kalbshaxe jegliches Fleisch. Und die Blumen! Sträuße, Gebüsche von Bauernblumen in Konservenbüchsen und Kübeln auf dem Marktpflaster; in Händchen, Händen, Fäusten diese halbwilden Bauernblumen, um vier Uhr morgens in den Gärten hinterm Ettersberge und im Schatten des Fuchsturms abgepflückt und als fröhliche Fracht auf die Körbe mit Freßbarkeiten noch in den schon fahrenden Wagen geworfen. Hier war wirklich ein Fest, ein Kaufereifest, ein Handelsfest mit Musik. Alles schleppte, alles schwatzte, lachte, speiste und tränkte sich. Neben Kortüm sog ein Mann kühles Lichtenhainer Bier aus einem Holzkrug. »Ah«, sagte der Trinker und klappte den Deckel zu. Eine Frau mit der schweren Milchkanne in der Hand stieß ihn an: »Was machst denn du hier?«
»Hä, du siehst's doch: nischt.«
Dieses genüßliche »Nischt« brachte Herrn Kortüm zu sich. Er riß sich 419 los von der Lebenspracht, von diesem wunderbaren Volksfest ohne Programm und ohne Ansager: »Monich, wir müssen endlich an unsern Ort.«
Monich aber stand gedankenverloren vor einer Holzlatte, an der eine Reihe Schöpsenkeulen hingen – vorigen Sonntag hatte er sich an solchem Hammelbraten und Thüringer Klößen furchtbar den Magen verdorben. Vorwurfsvoll sah er sie an, wie sie so scheinheilig dahingen: »Ihr Ääster!« knurrte er.
»Monich, komm doch endlich!« –
Herr Kortüm hatte keine leichten Tage. Von früh an war er in der Preisküche tätig und ging am Abend zeitig zu Bett. Dafür schlief er in dem angenehmen Bewußtsein, daß ihm die Arbeit gut von der Hand ging und geistvolle Einfälle von selber zuströmten. Wie er die Berufsfreunde da um sich herum mühsam stoppeln und verstohlen Zettel aus den Taschen ziehen und Rezepte vor sich hinsagen sah, wo er aus Eigenem und ohne Rezepte die Gerichte hinzauberte wie ein leichtes Gespräch nach Tisch, trug er den Kopf immer höher. Immer schärfer aber trafen die Blicke der Fachmannschaft seine ansehnliche Rückseite, um zu ergründen, wo der Mann ablas, was er da zutage brachte. Herr Kortüm stand erhobenen Hauptes in seinem schneeweißen Kittel am großen Herd, sah ruhevoll auf die Armee von Schüsseln, Tiegeln und Töpfen, in denen es brodelte. Zuweilen drückte er das Kinn an den Hals, kratzte sich nachdenklich in den Bartstoppeln. Dann näherte sich seine Hand einem Gewürzkasten und entnahm ihm einige kaum sichtbare Körnchen. Mit einem gewissen Schwung und doch wie von ungefähr fuhr seine Hand über einen der Tiegel – und es war etwas geworden, was in keinem Kochbuch stand. Je länger er am Feuer wirkte, desto großartiger wurden diese Handbewegungen. Er bot mehr den Anblick eines Dirigenten, der sein eigenes Werk aufführt, als den des Koches. Kortüm sah überhaupt keinen mehr –»eingebildet wie er ist«, sprachen seine Mitköche. Ach, sie hatten unrecht und wußten es nicht. Kortüm brauchte Haltung: Herr Kortüm litt Hunger. Richtigen Hunger hatte er. Und aß nicht. Denn eben hier lag das Geheimnis seines Könnens. Ein satter Koch, sagte Kortüm, behandelt die Gottesgaben als Gewichtsteile fertiger Rezepte, die in Büchern stehen. Aber ein hungriger Koch ist durchdrungen vom Gefühl der Leere. Und die Leere ist der geheimnisvolle Schmerz, aus dem einem schöpferischen Koch die Fülle quillt. Allein dem Hungrigen fallen tausendfach Eßbarkeiten ein, die ein Satter nicht ahnt –
420 »Niegegessenes, Monich! Sei nur nicht satt, mein Freund, und du hast Gedanken.«
»Na weißte, Kortüm – im allgemeinen – von dir abgesehn – gibt's aber leider viel mehr Gedanken in der Welt als Beefsteaks.«
Monich sah Kortüm wenig in diesen Tagen. Er war auf sich selber angewiesen und nutzte denn diese Jenaer Zeit nach Kräften. Bald wußte er mehr von Jenas geheimer und öffentlicher Gegenwart, als die mit diesem Studium fachlich beauftragten Persönlichkeiten. Monich bedurfte dazu keinerlei Akten. Hier nahm er einen Schoppen zu sich, dort ein Lichtenhainer vom Eis. Er vertrieb die schädliche Kühle in seinem Leib wieder mit einem Kaffee und stellte das Gleichgewicht der Kräfte mit Hilfe eines Kümmels her. Monich aß eine Rostbratwurst, er verspeiste einen warmen Speckkuchen und verglich ihn in einer anderen Backstube kritisch mit heißem Zwiebelkuchen. Zur Einnahme der drei geordneten Mahlzeiten kam der vielbeschäftigte Mann gar nicht. Aber wo er probte oder pröbelte, dort blieb er eine Weile, lehnte sich über den Ladentisch, nahm Platz auf einem Faß oder auf einem Mehlsack, wie sich's gerade machte, und begann eine Unterhaltung mit den Verkäufern dieser verschiedenen Nahrungsmittel, zog auch ihre Frauen, ihre Kinder und die sonstige greifbare Verwandtschaft ins Gespräch: Monich horchte die ganze Stadt ab und wußte nach zwei Tagen schlechthin alles. Seltsamerweise münden ja auch die geheimsten Besprechungen, Absichten und Pläne in die Öffentlichkeit, und die Moniche schweigen sie weiter von Ohr zu Ohr. Kortüms Monich sah den Doktor Langloff mit Frau Mimi Schlick im Schatten eines Lindenbaumes zu Mittag essen und aß seinerseits am Nebentisch einen kleinen Imbiß. Er beobachtete das Gespräch des Hotels Disch mit einem Vorstandsmitglied des Diätvereins. Ja, er hörte sich sogar einen Diätvortrag Langloffs an! Allerdings dauerte diese Rede unvorhergesehen lange, und trotz der vielen Kostproben, die er tagsüber in verschiedenen Stadtteilen studienhalber zu sich genommen hatte, empfand er jetzt zum ersten Male wieder richtigen Appetit. Monich ging eilends zu Kämmer Karl, bestellte mit dem Hinweis, es sei eilig, ein Eisbein mit Erbsen und Sauerkraut und versicherte dem Kellner, nichts mache den Menschen so hungrig wie ein Diätvortrag; wenn er sich einmal aus Geschäftsrücksichten den Magen ein bißchen überladen habe und trotzdem so recht angenehm hungrig werden wolle: »In den Diätverein!« Monich ging auch wirklich zur Geschäftsstelle, erkundigte sich nach den Bedingungen des Eintritts sowie nach den Pflichten und Rechten der Mitglieder. Er 421 studierte eingehend die Liste der Mitglieder. »Heute«, sagte der Schreiber einladend, »ist das Grand Hotel Ehrenmitglied geworden.«
»Dunnerwetter«, antwortete Monich, schob das zum Unterschreiben dargereichte Formular – »Name, Vorname, Geburtstag, Geburtsort, Beruf, Herkunft, Adresse, Körpergewicht, Angabe von Lieblingsbeschäftigungen genügt« – Monich schob dieses Formular zurück und sagte, er käme morgen wieder. Im »Blauen Engel«, wo Frau Mimi Schlick Wohnung genommen hatte, trank er rasch eine Portion Kaffee, aß Quarkkuchen dazu und fragte den Kellner nach Frau Schlick aus.
»Die Dame, die da am Tisch in der Ecke schreibt?«
»Gucke, da sitzt se.«
Monich erfuhr, daß die Dame sehr viel zu tun habe. Der Diätverein trete ja auch im Rahmen der Landespreiskochwoche auf, und Frau Schlick koche den Wettbewerb.
Monich war mit dem Kaffee des »Blauen Engels« recht zufrieden. Auch die Speisekarte bot eine reiche Auswahl. Er nahm nun öfter eine Kleinigkeit in der Gaststube des »Engels« zu sich, und am Abend wurde er hier Zeuge eines bedeutsamen gastronomischen Vorganges. Das Grand Hotel speiste hier mit Frau Schlick und Doktor Langloff zu Abend. Der Portier wußte das Nähere: Frau Schlick hatte das Diner selbst zubereitet und wollte dem Grand Hotel beweisen, daß man auch im Rahmen einer gewissen Diät köstlich essen könne. Teile des verbindlich gedämpften Trinkspruchs hörte Monich mit eigenen Ohren: nicht auf Zutaten komme es an – auf die Liebe! Mit Liebe müsse gekocht werden.
Monich wußte wie gesagt alles. Jena lag als eine Kinderfibel aufgeschlagen vor seinen Augen – mit Ausnahme des Universitätsviertels, aber in der Universitätsgegend herrschte ja Ruhe. Die Stürme selbst von drei Tagungen solcher Art pfiffen nicht in die Fensterhöhlen der Wissenschaft. Diesen Bezirk konnte Monich unbeschadet links liegen lassen bei seinen Studien.
In der ersten ruhigen Stunde mit Kortüm sprach er: »Kortüm, rücke mal 'n bißchen ran. Weißte was? Doktor Langloff is auch da.«
»Daran tut der junge Mensch gut. Er wird in hiesiger Klinik seine Kenntnisse in Landkrankheiten zu vervollständigen suchen.«
»Nee. Der vervollständigt was anderes. Weißte, was der macht? Der kocht auch.«
Kortüm sah Monich an. So konnte nur ein wirklicher Koch herabblicken auf einen, der von Köchen sprach.
422 Aber Monich schüttelte besserwissend diesen Blick ab: »Indirekt kocht er. Verstehst du?«
»Nein, Monich. Indirekt kann niemand essen, also auch nicht kochen.«
»Der kann's. Der quirlt nich in den Töppen rum, weißte? Der quirlt was ganz anderes. Die Vorstandschaft quirlt der. Un sie, sie kocht. Die kleine Rundliche, die immer so um dich rum war, die Dicke, wie heißt sie?«
»Frau Schlick?«
»Hä, Kortüm: die kocht.«
»Wo?!«
»Auf der Landespreiskochwoche! Genau so wie wir alle beide! Jawoll. Das heißt, mir hat der Büfettier vom ›Engel‹ vorhin gesagt: genau genommen kocht die Schlick'n auch nich – der Diätverein kocht. Langloff'n seine Appelmusmänner. Die Schlick'n stellt Langloff bloß vorne hin – merkste was?«
Herr Kortüm machte eine lässige Handbewegung: »Wir brauchen es ja nicht zu essen, Monich.«