Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der Kortümweg

Da Herr Kortüm in seinem Zorn und seiner Sorge kräftig ausschritt, kam er noch zur Zeit im Schottengelände an. Schon klapperten die Mädchen im Speisesaal mit den Suppentellern, und bis an das Tanneneck duftete es lieblich nach schmorenden Lendenschnitten. Auf 387 allen Zugangsstraßen waren Leute zu sehen, die nach dem Flügelhaus hinstrebten, wie Herr Kortüm munteren Schrittes, aber nicht von finsteren Gedanken getrieben, sondern erfreut, statt Tannenharz und Heugeruch diesen Bratenduft einatmen zu können in dem angenehmen Gedanken, daß es nicht bei dem bloßen Duft bliebe.

Herr Kortüm blieb stehen und musterte seine heranziehenden Gäste. Da kam »Nummer achtzehn« – Doppelzimmer mit Bad – ein großer Kaufmann, der ruhig vor sich hinblickte oder an dem Vorwitzigen, der ihn anzusprechen sich erlaubte, gelassen vorbeisah. Kortüm grüßte ihn stets aufs achtungsvollste, aber der Dank von »Nummer achtzehn« wirkte immer, als ob sie abwinkte. Ebenfalls von Westen her schritt »Nummer einundzwanzig« heran, eine einzelne Dame völlig unbestimmbaren Allgemeinwesens. Hinter ihr ging »Zweiunddreißig«, ein Schiffsbaumeister aus Kortüms engerer Heimat, der selten sprach und dann stets sehr grob. Rost war sein drittes Wort. Kortüm nahm ihm die Unhöflichkeit nicht übel: was er auch baut und baut und baut, das frißt der Rost. Der Herr des Flügelhauses legte die Hand über die Augen, um die im Schatten des Waldweges nahenden Nummern zu erkennen; sie waren noch zu weit entfernt. Um so deutlicher schwirrte es von Osten her dem Bratengeruch entgegen. Eine ganze Gesellschaft . . . »Oh«, sagte Kortüm: in der Mitte des Menschenknäuels wiegte sich eine Dame, die dem Gastwirt ohne Nummer im Gedächtnis saß. Mimi Schlick winkte Kortüm mit ihrem dicken Händchen zu, und alle Schleifen und Spitzen und Patten ihres reizenden Kleides winkten mit. Ihr war das Flügelhaus trotz Erdbeben, trotz Konstanze Schröter in so lieber Erinnerung geblieben, daß sie ihre diesjährige Erholung als zahlender Gast in Herrn Kortüms Nähe suchte. Der Flügelwirt machte vor Mimi eine höfliche Verbeugung, deren zweite Hälfte er aber mit einer geschickten Wendung den folgenden Gästen zugute kommen ließ: dem ungewöhnlich kurzsichtigen Chemiker vom Rhein, der im Gehen unablässig Notizen machte und die jeweils beschriebenen Zettel seiner Frau reichte, die einen halben Schritt hinter ihm ging. Dann aber kam »Zimmer elf«, ein Professor aus Berlin, der seinen Strohhut mit einer Klammer vorn an der Weste befestigt hatte und beim Sprechen mit seinen zehn Fingern auf dem Hute wie auf einem Kalbfell trommelte. Kortüm vermied Gespräche mit dem Herrn. Wenn nämlich dem Professor die Antwort des anderen nicht behagte, trommelte er auch während der Rede des Gegners. Der Hut aber bestand aus gepreßtem Stroh und war 388 steinhart lackiert. Das Trommeln verwickelte Herrn Kortüm stets in Widersprüche, und er sagte im Ärger Sätze, die er selbst nicht glaubte. »Da sind mir sogar Leute lieber, die beim Reden künstliche Augen machen«, und er bewegte die Hand grüßend vor »Nummer einunddreißig«, einem mit solchen Augen ausgestatteten Herrn, der von Beruf Naturheilarzt war und ebenfalls Gespräche mit dem Professor aus Berlin mied. Dieser Heilkundige erfreute sich eines gewissen Rufes, denn er brauchte die Leute nur anzusehen und wußte dann über den Tag ihres Todes Bescheid. Ängstliche Naturen, die den tiefblickenden Mann kommen sahen, sprangen seitwärts in verbotene Waldwege oder mußten sich ihr Schuhband zubinden, bis er vorbei war. Nur »Zimmer neunundzwanzig«, eine ehemals berühmte Konzertsängerin – jetzt als Gesangspädagogin tätig, aber mit Hilfe von Zeitungsausschnitten, die sie in der Handtasche mit sich führte, jederzeit in der Lage, ihre große Vergangenheit schriftlich zu belegen – diese »Nummer neunundzwanzig« fürchtete den Heilkundigen nicht. Vielmehr machte dieser Mann nach dem ersten Spaziergang mit ihr durchaus natürliche Augen und sagte, die Mundbegabung der Dame stände ohne Pressestimmen fest. »Einunddreißig« griff denn jetzt auch tüchtig aus, um vor »Neunundzwanzig« den Speisesaal zu erreichen.

Manche Gäste kamen noch, die Kortüms Beobachtung gelohnt hätten. Aber Doktor Windhebel war ungesehen von Kortüm herangekommen, legte ihm die Hand auf die Schulter, zeigte auf die von allen Seiten heraneilenden Gäste und sagte: »Die Prozession der Hungrigen.«

»Ja«, sagte Kortüm mit Genugtuung, »aber sie haben keine Schmerzen. Künstlicher Hunger regt an, nur der sogenannte gottverdammte Hunger tut weh.«

Windhebel sah die nahenden Gäste der Reihe nach an: »Wird Ihnen das nicht über, jahraus, jahrein Gäste satt machen? Sehn Sie den: der ist grob. Der da aufgeblasen. Haben Sie den am Wegweiser drüben anders als belehrend reden hören? Die brauchbaren Leute, die was vor sich gebracht haben und die Hand legen können auf eine Sache, die ohne sie nicht in der Welt wäre – schön. Aber Gastwirt sein und alle, wahllos alle Menschen berufsmäßig am Leben erhalten, die das verlangen – nein. Der ist pfiffig mit gefalteten Händen, der drängelt, der hat graue Haare und ist eitel, als ob er noch keine dreißig Jahre gelebt hätte – alle satt und immer wieder satt machen dreimal am Tag: die Gerissenen, die Stellenjäger, die Übervorteiler, Nörgler, Stänker, Zänker – und Sie rechnen aus, wieviel Roßhaar 389 in den Matratzen nötig ist, damit der Zänker weich liegt, wieviel Rindfleisch in der Suppe, damit der Stänker bei Kräften bleibt, wieviel Koks in der Heizung, damit dem Nörgler keine kalte Luft ins offene Maul zieht – Herr Gastwirt!«

Kortüm hatte den Kopf immer weiter zurückgelegt, kratzte sich immer langsamer am Kinn und blickte immer lächelnder auf Windhebel herab: »Herr Doktor, Sie verstehen Ihr Fach. Was ein Erdbeben ist, wissen Sie aus dem Grunde. Aber vom Menschen, verehrter Herr Doktor, verstehen Sie nichts. Gar nichts. Bitte, das soll kein Vorwurf sein. Es verstehn überhaupt ganz wenig Leute etwas vom Menschen. Ich will Ihnen damit keineswegs zu nahe treten. Nein! Wie sollten Sie den Menschen kennen? Sie sind kein Gastwirt.« Herr Kortüm nickte vor sich hin: »Der kennt ihn, den Menschen meine ich. Bitte, lassen Sie mich ausreden. Der Gastwirt vor allem: weil die Leute von einem Wirt das angenehme Leben gegen Barzahlung verlangen können. Ja. Dabei will ich nicht behaupten, daß der Gastwirt allein in der Lage ist, die Menschen zu durchschauen. Vielleicht käme als Menschenkenner ferner in Frage der und jener alte Oberkellner, gelegentlich auch ein langgedienter Portier, hm . . . dann der Kompaniefeldwebel noch, ja . . . und der liebe Gott natürlich. Es heißt, auch Dichter. Na, meinen Erfahrungen nach: Theaterstücke und Orgelspielen und Schulstube, alles durcheinander und dazu Kerle, die Pedro heißen, Leute, die sterben und trotzdem nicht tot sind – solche Sachen schlagen nicht in mein Fach. Ich halte mich an meine Erfahrung und weiß, daß es nur zwei Sorten von Menschenbeobachtern gibt. Die einen sind Leute wie ich. Wirte, verstehn Sie? Gastwirtsnaturen. Die wissen Bescheid. Die andere Art, ja, wie soll ich sagen . . . das sind nicht Wirte . . . das sind mehr . . . Hirtenberufe. Hirtennaturen, Herr Doktor. Die verstehn nichts.«

»Ich bin also Schafhirtentypus«, sprach Doktor Windhebel und sah Herrn Kortüm an.

Aber der Gastwirt nickte ganz unbefangen: »Leute, die auf sich angewiesen sind, die ihre Herde nur weiden, ohne zugleich von ihr geweidet zu werden, und die deshalb immer sagen, daß sie nicht aufs Einzelne sehen sondern aufs Ganze.«

»Spitzfindige Einteilungen stimmen nie. Ich sehe die Leute wie sie sind: pfiffige, drängelnde, gescheite, nörgelnde, stänkernde –«

»Nichts – es tut mir leid, nichts sehen Sie, Herr Doktor. Nur das Ganze natürlich – aber wir sprachen ja von Menschenkenntnis. Sie sagen, der eine führt sich groß auf, der andre unverschämt, dieser 390 mürrisch, jener – aber deshalb brauchen doch die Leute nicht so zu sein! Ich habe das so befunden: da ist einer verlegen – er tritt hochnäsig auf. Der hat Sorgen – und ist grob. Den quält irgend eine Angst – er drängelt. Dem tut was weh – er stänkert. Ach, es geht den Menschen ja gar nicht so gut, wie die Leute denken! Jeder schleppt was rum mit sich, das keiner merken soll. Was bleibt ihm übrig? Er setzt sich so ein Ding auf, wie sie's in Besenroda unten aus Pappe machen und unter dem Namen Maske in den Handel bringen. Das Gebiet der Menschenbeobachtung liegt Herren, welche sich beruflich mit dem Blick aufs Ganze begnügen müssen, sehr fern.« Man sah, wie Herr Kortüm diesen Mangel im Interesse jener Herren bedauerte. »Ja«, fuhr er fort, »das ist eben ein sehr schwieriges Gebiet. Geben Sie sich keine Mühe. Schon zur Beobachtung der männlichen Natur konnte ich, ein Gastwirt, der es verstehen muß, auch meinem besten Freunde keinen Leitfaden geben – jedennoch, Herr Doktor: die größere Hälfte der Menschheit ist weiblichen Geschlechts. Oh« – Kortüm legte jetzt wieder den Kopf zurück und blickte über Windhebel weg in die Ferne – »Frauen kennt auch ein Gastwirt erst im reifen Alter. So um die Fünfzig beginnt es zu dämmern. Um die sechzig wird es deutlicher, um Achtzig herum mag man sich wohl klar sein, aber – dann nützt es ja nichts mehr. Schon dem Fünfziger bietet das Dämmern wenig Positives: ihm selber und, in Teufels Namen, auch den andern wenig. Weil sie einem nichts glauben –«

»– dürfen«, sagte Windhebel. Diese Rede Kortüms hatte ihn versöhnt.

»Wie bitte?«

»In Sachen Frau nicht glauben dürfen, hab ich gemeint.«

Kortüm schwieg, dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Haha.« Aber diesmal sprach er nicht nur Haha, sondern der seltene Fall trat ein, daß Herr Kortüm wirklich lachte: »Plasma, ganz recht, Herr Doktor. Volk, jaja. Damit es ewig lebt . . .«

»Auf Erden«, sagte ziemlich ritardando der Erdbebenforscher vor sich hin und nickte nachdenklich.

Diese Erörterungen über Menschen und Menschenkenntnis hatten den gelehrten Doktor verblüfft, aber seine Annahme ging fehl, wenn er sich nun Herrn Kortüm in seinen Mußestunden mit dem Lösen akademischer Rätsel beschäftigt vorstellte. Dieser Mann brauchte seine Zeit 391 nicht mit Philosophieren zu verlieren. Das Leben selber versorgte ihn immer von neuem und reichlich mit interessanten Aufgaben. Einige Schuld an den neuen Kortümschen Menschenbetrachtungen kam diesmal freilich ausnahmsweise auf einen anderen, auf einen bisher nur wenig sichtbaren und deshalb auch von Kortüm noch nicht hinreichend erforschten Gast, einen gewissen Herrn Repshagen, Friedrich Franz Repshagen, Gutsbesitzer in Mecklenburg.

Dieser Herr gehörte vorläufig nicht einmal in eine der beiden Gastklassen des Flügelhauses. Weder betrat er die »Goldene Waage«, wenngleich offenkundig war, daß er keineswegs geistige Getränke verschmähte, noch erschien er in der Unterhaltungsdiele. Daß sich Repshagen auf das Sofa unter der großen Palme setzte, erwartete nicht einmal der in diesem Raum tätige Hilfskellner, denn der mecklenburgische Gutsbesitzer sprach so gut wie nichts. In den zwei Wochen seiner Anwesenheit hatte Repshagen eigentlich nur durch Knurren seinen Willen kundgetan. Allerdings mußte die Bedienung zugeben, daß diese Knurrlaute – zweifellos in einer jahrzehntelangen Schweigetätigkeit ausgebildet – sehr ausdrucksfähig waren. Man verstand sogleich, was Repshagen knurrte. Nur am ersten Abend waren etwas deutlicher vernehmbare Laute aus seinem Munde gekommen. Wie den meisten älteren Herren hatte man ihm nämlich eine halbe Flasche Mosel neben den Teller gestellt, Repshagen aber hatte mit dem Messerrücken an diese Flasche geklopft und dem herbeieilenden Ober gesagt, er möge den dünnen Plüwwer da vom Tische räumen. Er sagte noch mehr, aber der Kellner war zum Glück der fremden Sprache nicht mächtig. Herrn Kortüms Herzen jedoch tat der Bericht des erschrockenen Bedienten trotz der unhöflichen Form wohl. Der Herr des Flügelhauses temperierte von jetzt an die Bouteillen des Gutsbesitzers persönlich, und der Gastwirt mußte schon ein geborener Hamburger sein, um Repshagens ferneres Benehmen nicht als schnöden Undank sondern als Anerkennung zu verstehen. Der sehr kleine und sehr korpulente Herr, dessen Gesicht in einer satten Rosenfarbe leuchtete, welche der grünliche Jagdanzug außer dem Hause wesentlich hob, beantwortete Kortüms Sorgfalt nicht mit den landesüblichen Dankesworten, sondern überließ es der Heimatkunde des Gastwirts, den Erfolg seiner Bemühungen um den Bordeaux an der Art des Schlürfens abzuschätzen. Ohne Rücksicht auf die teilweise sehr feinen und infolge Arbeitsüberladung sehr reizbaren Gäste trat Repshagen fest auf mit seinen soliden Stiefeln im Speisesaal. Seitenblicke bemerkte er schon deshalb nicht, weil sein 392 runder Kopf ohne eine Halszwischenlage unmittelbar auf dem Rumpf saß und nicht wegen jeder Kleinigkeit hin- und hergedreht werden konnte. Freilich deutete der kurze Generalsschnurrbart auf seine Zugehörigkeit zu den besseren Ständen, und ein blitzender Diamant auf dem kleinen Finger verschaffte ihm selbst bei den Gästen Achtung, für deren Wesen Repshagen jedes Verständnis fehlte.

Nun geschah das Merkwürdige, daß dieser Herr Repshagen den überraschten Kortüm plötzlich in deutlich verständlichen Worten ansprach. Die Wege im Wald seien zu steil, er wolle ebene Wege genannt wissen.

»Bitte, Herr Repshagen, ich empfehle Ihnen meine neue Allee: wenn Sie die weitergehen –«

»Allee? Da geh ich nicht.«

Herr Kortüm bedauerte sehr: »Gewiß, die Eschen sind noch etwas jung –«

»Die Eschen sind gut, aber was drunter sitzt – haben Sie sich das mal angesehn?«

Kortüm blickte aufmerksam hin, schüttelte aber den Kopf.

»Unter den Eschen, da stehn Bänke. Und die Leute, die da drauf sitzen, sind solche Leute, wie immer auf solchen Bänken sitzen.«

Kortüm musterte noch aufmerksamer die Bänke und die Gäste, die drauf saßen, und schüttelte wieder verständnislos den Kopf.

Repshagen stupfte ärgerlich mit dem Spazierstock auf: »De Lüd, – de kieken enen an, as wenn ik nödig wär, dat sei wat tan reden ha'n.«

Herr Kortüm zuckte die Achseln: »Ein gewisses Umsichblicken ist das gute Recht jedes Erholungsuchenden, und ich kann meinen Gästen nicht verbieten, sich auf die Bänke zu setzen.«

»Nee. Aber Sie können die Bänke so hinstellen, als sich das gehört.«

Ratlos blickte der Herr des Flügelhauses abwechselnd die Bänke und Repshagen an.

»So rüm!« rief der Mecklenburger und machte eine drehende Armbewegung.

Nach einer längeren Pause des Nachdenkens sprach Kortüm gemessen: »Sie meinen doch wohl nicht, verehrter Herr, daß meine Gäste der Promenade den Rücken zukehren sollen?«

Repshagen aber hatte es wirklich so gemeint: »Die Natur solln die Leute genießen!« Er klopfte Herrn Kortüm mit der Krücke seines Stockes auf die Westenwölbung und sagte schlau: »Un dann häm wi twei Fleigen up een Slag, un wi künn da wedder gahn.«

393 »Man wird diesen Vorschlag in Ruhe erwägen müssen«, sprach Kortüm höflich, und er wäre unhöflich genug gewesen, nicht weiter an diese Repshagensche Beschwerde zu denken, wenn ihm nicht die Frage der Ruhebänke in diesen Wochen erhebliche Sorgen bereitet hätte.

Es fehlte an Bänken im Schottengelände. Die Zahl der Gäste hatte zugenommen, die Zahl der Sitzgelegenheiten jedoch nicht. Die Erholungsuchenden hatten sich auch bereits beschwert. Kortüms Aufzählung seines Bankbesitzes half ihm nicht: »Nein«, sagten die Gäste, »wir brauchen Bänke, auf denen man still für sich lesen und die schöne Natur genießen kann. Die eine Bank mit der Bezeichnung ›Gottesblick‹ reicht nicht. Kommt man dahin, sitzt schon immer jemand drauf. Und übrigens sind gerade die Leute auf dem ›Gottesblick‹ nicht die angenehmsten Nachbarn. Sie gucken einen an, als ob sie die ganze Bank für sich allein beanspruchten. Nimmt man aber doch Platz und will seine Blicke über die Natur schweifen lassen, so beachten sie nicht einmal die üblichen Anstandsregeln: mit Zigarrenrauch blasen sie einen an. Sie räuspern sich, wenn sie merken, daß man dem Vogelsang lauschen will. Sie trommeln mit dem Spazierstock. Der eine Herr, der mit der Nickelbrille, Astronom soll er ja wohl sein, der hat letzthin unanständige Melodien gepfiffen, bis ich gegangen bin. Nein, hier fehlen Bänke, richtige Naturgenußbänke.«

Kortüm war ein pflichttreuer Gastwirt und sagte sich: die Leute haben recht. Er ließ aus der Stadt Bilder von gutgeformten Bänken mit Preisangaben schicken. Die Kosten waren hoch. Dazu kam die Anlage der Bankplätze, der Kies, der Arbeitslohn. Diese Ausgaben paßten Herrn Kortüm schlecht. Er seufzte noch unter den Baugeldresten. Unmöglich waren diese Ausgaben.

»So rüm«, wiederholte der Herr des Flügelhauses nachdenklich. Im Kern hatte Repshagen nicht unrecht. Kortüm besaß zwölf wunderbare Bänke, sechs in jeder Reihe. Sie standen nur falsch. Wenn er sie herumdrehte, lag dem Sitzenden die freie Natur vor Augen, und allen war gedient. Nur von der Allee aus betrachtet, würde der Anblick der Rückenlehnen etwas ungewöhnlich sein, aber wenn einer, so verstand Herr Kortüm, daß eben leider alles Gute ungewöhnlich ist.

Am Abend berief er den Hausknecht und den Stiefelputzer. Er zeigte den Männern, wie man mit einem Schraubschlüssel die Muttern an den Bankfüßen vorsichtig zu lösen und nach Umstellung der Sitzgelegenheiten wieder fest anzuziehen habe. Ohne alle Unkosten war die Arbeit in wenig Stunden geleistet. Im Mondlicht saß Herr Kortüm auf der 394 ersten Bank und erprobte den Blick in die Natur. Er war sehr zufrieden, nahm Platz auf der zweiten Bank, der dritten, und als er die linke Reihe abgesessen hatte, untersuchte er die Wirkung der rechten Seite: schwarz standen im milchigen Mondlicht die nahen, eisblau die fernen Baumgruppen. Sanft verschwamm in der Ferne das Land in die Luft der Nacht. Das war freilich eine andere Aussicht als der Blick auf eine gegenüberliegende Bank und ein paar junge stakige Eschen!

Die Sonne zog am anderen Morgen so zitternd heiß am weißblauen Himmel hoch wie in den vergangenen Tagen auch. Die wanderlustigen Gäste hatten das Haus in den frühesten Morgenstunden verlassen, und die ruhebedürftigen Gäste begaben sich nach dem Frühstück gegen zehn Uhr mißmutig schweißwischend zu den Bänken der Eschenallee.

Man blieb hier zunächst stehen, sah sich gegenseitig an. Dann ging man die Allee bis ans Ende und wieder zurück, blieb nochmals stehen und beschloß, gemeinschaftlich ins Hotelbüro zu gehen, Herrn Kortüm persönlich bitten zu lassen und zu fragen, was diese Verkehrtheit bedeuten solle.

Aber die denkwürdige Unterredung verlief nicht ganz so, wie die erregten Leute sich's gedacht hatten, denn Kortüm hatte die Neuerung nach sorgfältiger Überlegung im Interesse seiner Gäste beschlossen: »Sie, Herr Pastor, und Sie und Sie, jawohl, meine Herrschaften, Sie sind an mich herangetreten mit dem Ersuchen, für Sitzgelegenheiten zu sorgen, die ungestörten Naturgenuß gewährleisten. Dazu seien Sie ins Schottengelände gereist.«

Die solchermaßen erinnerten Herrschaften konnten nicht leugnen, und die anderen, nicht auf Naturgenuß erpichten Gäste sagten zu der Gegengruppe, da müsse man sich doch wundern . . . Aber der Professor trommelte auf seinem Strohhut und bedauerte aussprechen zu müssen, daß Herrn Kortüms Rede der Logik entbehre. Bänke aufstellen sei das eine, Bänke umstellen das andere – hier sei die Rede lediglich vom Umstellen.

Ob, fielen nun die naturverbundenen Gäste ein, ob irgend ein vernünftiger Mensch bei ihrem durchaus gesunden Vorschlag auf den Gedanken hätte kommen können, daß die Hoteldirektion jetzt die Lehnen nach vorne und die Sitze nach hinten drehe!

Aber Kortüm war heute gut im Zug. »Was, meine Herrschaften«, rief er, »was ist vorn, und was ist hinten?! Seit der Mensch auf 395 Erden lebt, hat er über diese Frage gestritten.« Jetzt hörte der Professor auf zu trommeln. »Entweder ist Gottes freie Natur vorn und der Mensch hinten, oder der Mensch ist vorne und die Natur hinten.« Kortüm führte weiter aus, wie der Naturgenuß in dieser Saison beeinträchtigt würde, wenn seine verehrten Gäste an die schönen Stellen kämen und dort Männer fänden, die mit Schottern und dergleichen staubaufwirbelnder Arbeit beschäftigt seien. Auch müßte doch die Umgebung der Bänke erst freigelegt werden. Wer solle dabei lesen oder auf den Vogelsang lauschen oder die Farben der Landschaft genießen! Es entwickelte sich ein angeregter Gedankenaustausch. Kortüm dankte im stillen Gott, daß bloß Zimmernummern gegeneinander und an ihn selber gerieten und nicht die World dabei war. Er dachte an die nächtliche Schlacht in der »Goldenen Waage« – hier hatte er kein rettendes Echo zur Hand. Jene redegeübten und szenegewohnten Filmgäste würden ihm anders zugesetzt haben. Kortüm vergaß die eine gute Eigenschaft der World: einen Tag später weiß sie nichts mehr selbst von dem entsetzlichsten Redegefecht. Die in Ton- und Bildwiedergabe unbewanderte Gästeschaft hingegen vergißt unangenehme Gespräche nicht, weil sie die Aufregungen nicht bloß spielt. Herr Kortüm gewann die Schlacht gegen seine Gäste, aber wie jeder Sieger sollte er noch an diese Niederlage seiner Gegner denken. Für jetzt schloß er die Unterhaltung: »Meine Damen und Herren, vergessen Sie nicht: ich habe ohne Zögern, mit Hilfe von Nachtarbeit – auch ich selbst bin noch im Mondlicht unverdrossen für Sie tätig gewesen – Sitzgelegenheiten beschafft, auf denen Sie die Natur genießen können.«

»Hm. Na ja. Schon gut.« Achselzuckend begaben sich die ruhebedürftigen Herrschaften wieder zur Eschenallee, setzten sich und blickten schweißwischend in die Natur.

Das Flügelhaus war nun um eine Einrichtung reicher, die einiges Aufsehen erregte. Solche Wege sieht man nicht oft. Es kamen Lichtbildner. In illustrierten Zeitungen erschienen seltsame Bilder: auf dichtbesetzten Bänken sah man Herren und Damen, die den Spaziergängern den Rücken zukehrten.

Wie vielen Zeitungslesern kam eins dieser Blätter auch Konstanze Schröter in die Hände. Im Augenblick saß sie ein gutes Stück entfernt von Kortüms neuer Straße, vor der Tür eines kleinen Cafés am Lungarno in Florenz nämlich. Als sie dort das Wort »Flügelhaus« las, hielt sie das Blatt knitternd fest und versuchte die Gesichter dieser Spaziergänger zu erkennen. »Das also sind die regelrechten Gäste, von 396 denen Herr Kortüm beim Richtfest sprach?« Sie beschloß, gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland das Flügelhaus aufzusuchen.

Die Gesichter der Spaziergänger hinterm Rücken der Bänkesitzer waren verwischt. Ist er das hier? . . . Nein, Klaus Schart war nicht dabei. Aber er wollte doch seine Sommerferien auf dem Flügelhaus zubringen? Konstanze seufzte: »Der schulmeistert jetzt wohl irgendwo in Thüringen, statt mir den Schluß der Richtfestgeschichte zu schreiben.«

Und doch hatte Herr Kortüm mit seinem neuen Weg gerade für Leute vom Schlage Schart eine Bewegungsgrundlage geschaffen, die Nachahmung verdiente. Jede Stadt mit Vergangenheit verfügt in ihren Anlagen bekanntlich über einen Pfad, den sie Poetenweg nennt. Aber Poeten, welche diese malerisch verschlungenen Wege dichtend zu gehen versuchten, würden aller Nasen lang stolpern, ja, von besonders poetischen Pfaden, wie sie zum Beispiel die Stadt Jena dem Dichter Friedrich Schiller unterstellt, würde ein gedankenversunkener Mann beim Dichten kirchturmtief hinabstürzen. In einer Hinsicht sind diese sogenannten Poetenwege gut gemeint: sie sind blickesicher. Aber statt der forschenden Augen droht nun Absturz. Die Dichter haben die Wahl. Ja, nur schwer wollen die Menschen glauben, daß Männer, die auf sich angewiesen sind – Dichter, Musikanten, Philosophen, Staatsmänner – daß diese Männer, um ungeweckt formen zu können – was man auch sage: ebene Wege brauchen. Leider aber sind die ebenen Wege in aller Welt von den Augen der Nichtstuer bestrichen.

Und nun stand Herr Kortüm auf und zeigte, wie man glatte Straßen auch für Leute gangbar machen kann, die mit sich zu tun haben, wenn sie für andre arbeiten.

Eines sehr frühen Morgens fand sich am linken vorderen Eschenbaum angenagelt eine hölzerne Tafel in Gestalt einer wegweisenden Hand mit lang ausgestrecktem Zeigefinger. Auf diesem Wegweiser stand in großen Buchstaben: »Der Kortümweg«.

Wer die Tafel angenagelt hatte, wußte niemand – Kortüm war es jedenfalls nicht gewesen. Denn noch ohne Kragen und unrasiert kam er gelaufen, Hammer und Zange in der Hand. Zornig suchte er die erste Nagelkuppe zu fassen. Da hielt jemand seinen Arm fest: »Halt, Herr Kortüm!«

Der Herr des Hauses sah sich um.

Windhebel nickte ihm zu: »Die Tafel stimmt. Sie sind der erste, 397 dem es gelungen ist, die Summe von Einsamkeit plus Gesellschaft synthetisch darzustellen.«

Kortüm aber faßte die Zange fester und zog: »Was synthetisch ist, weiß ich nicht. Aber wenn Sie damit den Kerl treffen wollen, der hinterrücks solche Wegweiser anmacht, so sind wir einer Meinung.«

Windhebel packte Kortüms Arm fester als Kortüms Zange den Nagel: »So sehen Sie doch wenigstens, wo die hölzerne Hand hinzeigt.«

Grimmig folgte Kortüms Auge dem grobgesägten Zeigefinger: »Sieh da, nach Osten.« Eben hob sich die blendende Scheibe des aufgehenden Gestirnes über die Tannenwipfel und funkelte in morgenfrischem Golde.

»Hm«, sprach Kortüm und ließ die Zange sinken.

»Nach Taschkent«, nickte Windhebel.

Die Tafel blieb.

 


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