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Seit dem Zeitungsbericht über den Hergang des Landespreiskochens in Jena und die Gründung der Pension Hackemann las Herr Kortüm nur noch selten den »Besenröder Anzeiger«. Monich machte ihn mit den wichtigeren Ereignissen, zum Beispiel mit dem Flügelstraßenbau, hinreichend bekannt. Da Kortüm das Blatt jedoch weiter bezog und auch bezahlte, nahm ihm die Schriftleitung seine Gleichgültigkeit nicht übel. Vielleicht erfuhr sie auch gar nicht, daß der Echowirt das Blatt nach Ablieferung durch die Zeitungsfrau ohne weiteres im Zeitungsständer unterbrachte. Aber ohne es selbst zu merken, 519 geriet Herr Kortüm trotz dieser für ihn so schweren Tage plötzlich mitten ins Zeitungswesen hinein. Er wurde eine für das Schottengelände maßgebende Persönlichkeit im öffentlichen Nachrichtenwesen und teilte mit den neuen Berufsgenossen unversehens Freud und Leid dieser sorgenvollen Tätigkeit.
Der Holzhacker Kersch hatte sich mit dem Gelegenheitsarbeiter Bilmes verabredet auf Montag Punkt halb eins in der Echostube. Kersch wußte dann, wo diese Woche Holz geschlagen wurde, und sein Freund Bilmes konnte an Hand dieses Wissens rasch zum Förster laufen und sich zum Reisigkauf melden. Kleinholz war gesucht, und wer es haben wollte, mußte zusehen, daß er als Erster kam. Kersch saß zur Zeit in der Echostube. Aber Bilmes kam nicht. Die Mittagspause war kurz, lange konnte Kersch nicht warten. Herr Kortüm hatte in Besenroda zu tun, Lotte in Esperstedt, und der Kellner benutzte die passende Gelegenheit, um Doktor Langloff zu fragen, ob das Sanatorium vielleicht einen tüchtigen Kellner brauche. Den kleinen Korn mußte der Aushilfsjunge dem Holzhacker Kersch bringen, der dem ungeduldigen Gast versicherte, alle drei – Kortüm, Frau Wingen, der Kellner – würden gleich wieder da sein. Aber niemand ließ sich blicken, dem Kersch eine so schwierige Botschaft allenfalls anvertraut hätte. Schließlich sagte er zu dem Jungen: »Paß auf! Im Schlage siebzehn, zweite Hälfte, hinter den Buchen, gleich neben der Kiefernschonung is der Förster, so um sechse, sieben rum! Hast du's verstanden?!«
»Nä.«
»Du, paß auf, sag ich dir!« schrie Kersch den Jungen an, damit er besser hörte. Er wiederholte die Botschaft: »Weißt du's nu?!«
Da Kersch eine Handbewegung machte, als ob er dem Jungen eine hinter die Ohren hauen wollte, sagte dieser vorbeugend: »Ja.«
»Dann sag mir's mal her.«
Der zur Zeit einzige Vertreter des Echostubenpersonals hatte sich auch alles ordentlich gemerkt, nur saßen die einzelnen Teile der Botschaft nicht an der richtigen Stelle: er redete etwas von siebzehn Förstern, die um sechse hinter den Kiefern ständen.
»Schafskopp – gib mir Bleistift un Papier her.«
Der Bleistift wurde gefunden. »Papier hab ich keins.«
Nun wies aber der Zeiger auf zehn Minuten vor eins. Kersch mußte an seine Arbeit. Er sah sich um. Dann schrieb er einfach an die leere Wand, was er zu berichten hatte, und sagte zu dem Jungen: »Wenn Bilmes kommt, sagst du ihm, hier ständ's dran. Un wenn ich nach 520 Hause gehe heute abend, komm ich hier durch, un du sagst mir, was Bilmes gesagt hat.«
Kersch ging. Nach einer Weile erschien Bilmes, las die Botschaft und schrieb darunter: »Ich habe schon Reisig. Hinterm Fuchsloch is es billiger. Bilmes.«
Am Abend las sein Freund Kersch diese Nachricht und schrieb drunter: »Du bist ein Ochse. Das hinterm Fuchsloch is Dreck. Kersch.«
Herr Kortüm aber entdeckte den Notenwechsel am späten Abend, als er eben zur Ruhe gehen wollte. Mißbilligend sah er die schöne Wand an, diese größte freie Fläche der Echostube; hier wollte Kortüm sein Ölbildnis aufhängen, für das er noch immer nicht den rechten Platz gefunden hatte. »Narrenhände beschmieren Tisch und Wände«, sagte er zornig. »Ich werde mit Frau Wingen reden. Wir müssen es sorgfältig entfernen.«
Er legte sich schlafen.
Gegen vier Uhr dreißig am anderen Morgen kam der Viehhändler von Esperstedt heraus. Der kalte Frühjahrsmorgen bewog den Mann, sich den Magen ein bißchen anzuwärmen. Er trat in die Echostube und trappte mit dem Gläschen in der Hand tüchtig hin und her – da fiel sein Blick auf die Inschriften.
»Das is je großartig«, murmelte er, zog seinen Blaustift aus der Tasche und schrieb in schönen deutlichen Buchstaben an: »Zwei einjährige Kälber zu verkaufen! Albert Steiger, Esperstedt, Krumme Gasse 6.« Und nach vollbrachter Tat entfernte sich Albert Steiger.
Der Fleischermeister Hiebrich berührte die Echostube auf seinem Wege nach Esperstedt ungefähr in der fünften Morgenstunde, las die Anzeige, stand knapp dreißig Minuten später in Albert Steigers Stall und kaufte die beiden Kälber. Gegen sechs erreichte er die Schottenhöhe auf dem Rückweg nach Besenroda, band die Kälber an eine Tanne, ging abermals in die Echostube, trank einen großen Korn und schrieb mit Rotstift an: »Heute frische Blut- und Leberwurst. Hiebrich.« Hochbefriedigt wanderte er seinem Hause zu. Ehe Herr Kortüm am Frühstückstisch saß, wußte ein guter Teil der geschäftstätigen Bevölkerung in der Umgegend von der neuen Einrichtung, von ihrem durchschlagenden Erfolg, und als der Herr der Echostube seinen ersten Rundgang unternahm, las er außer den bereits bekannten Inschriften noch die Bekanntmachung, daß der Bauer Götze einen Sack Linsen und Frau Untucht eine Legehenne mit zehn Kücken abzugeben habe.
Herrn Kortüms Empörung war grenzenlos: »Ich werde die 521 Verunreiniger dieser Wand gerichtlich zur Rechenschaft ziehen! Lassen Sie alles stehen, Frau Wingen! Ich brauche Beweise! Nichts abwischen!«
Er ging in sein Zimmer, suchte einen Bogen feinen Papieres in Aktenformat und begann dem Amtsgericht in Esperstedt auseinanderzusetzen, daß ein neuer Anstrich der Echostube achtundvierzig Mark koste, daß hierzu die Reinigungskosten sowie die Kranken-, Invaliditäts- sowie sonstigen Kassenbeiträge für die einzustellende Scheuerfrau kämen und nicht zuletzt die erlittene Aufregung in Rechnung zu stellen sei.
Während Herr Kortüm die Gerechtigkeit anrief, standen die Esperstedter und Besenröder in den Haustüren und unterhielten sich.
»Kortüm is gar nich dumm.«
»Das wissen wir längst.«
»Der hat's in sich.«
»Un immer was Neues fällt ihm ein.«
»Hast du auch schon so 'ne Kortümanzeige aufgegeben?«
»Billiger kann's einem je gar nich kommen. Wir wollten doch schon immer den alten Kastenwagen verkaufen. Meine Frau is eben nauf auf die Echostube.«
»Deine Frau?! Da kannst du mir leid tun, August. 's beste an so 'ner Kortümanzeige is doch, daß du dabei einen nehmen mußt. Der kostet dreißig Pfennige, wenn du'n Großen trinkst. 'ne Anzeige im Besenröder kriegste nich unter einer Mark. Un was haste da? 'ne Anzeige. Un bei Kortüm? 'n Schnaps. Hä!«
Der Echowirt war in seiner Anklageschrift noch nicht bei Punkt fünf angekommen, als bereits ein gutes Viertel der Inschriftenwand bedeckt war mit Angeboten, Anfragen und Bekanntmachungen aller Art in schwarzen, blauen und roten Schriftzeichen.
»Ein Pianino zu verkaufen.« Noch am selben Vormittag fand sich auf der bisher noch nicht angetasteten Südwand die Mitteilung in Rotschrift: »Biete 80 Mark. Ich hol es auch selber ab. Karl Gutsche, Gänsegasse 4.«
Ohne eines Organisators zu bedürfen, hatte das Schottengelände sofort dieses Kortümsche Anzeigenwesen von sich aus geordnet, nachdem nur der Grundgedanke einmal begriffen war. So kurz vor den Feiertagen herrschte natürlich eine besonders lebhafte Geschäftstätigkeit. Jeder wollte die wenigen Tage der Zahlbereitschaft noch rasch benutzen.
In ohnmächtigem Grimm las Herr Kortüm: »Zum Osterfest! Eierfarbe und Pappeier billig. Papierwaren Rückert.«
522 Mehrmals hatte der Echowirt die Abfassung der Anklageschrift unterbrochen, um einen solchen Kerl auf frischer Tat zu packen, aber immer hatte es sich gemacht, daß der Inserent gerade wieder fort war. Hinsichtlich der Anklage war die Ergreifung des Täters auch nicht wichtig. Die Leute hatten ja die Unverfrorenheit, ihre volle Anschrift auf Herrn Kortüms Wände zu setzen.
Leider brachte Lotte vor diesen Untaten an Kortüms Wänden nicht den rechten Ernst auf. Sie hatte eine Weile gelesen und dann lachen müssen.
Kortüm sah sie groß an . . . Jetzt, dachte er, habe ich sie zum ersten Male wieder lachen sehen seit dem Tode ihres Mannes. Fast hätte ihr das Kortüm in seiner Freude auch gesagt. Aber er schloß schnell den Mund: ein Glück, daß sie es endlich einmal hat vergessen können. Mit der Anklageschrift in der Hand ging der Echowirt lächelnd vor den geschändeten Wänden auf und ab. »Die Zeit«, murmelte er, »nein – nicht die Zeit, das unverfrorene Leben ist die wahre Arzenei. Gott laß uns leben!« Er blieb vor der mit unzähligen Schriftzeichen bedeckten Wand stehen, aber, in Nachdenken versunken, erkannte er die einzelnen Krakel nicht. Kortüm sah nur, daß das lebendige Leben auf der Wand da webte und wirkte, das allmächtige, das unwiderstehliche herrliche Leben. »Oh, welcher Tag ist heute? Der elfte März. Hm. Seit das letztemal Sommer war, hat sie heute zum ersten Male ganz frei aus sich herausgelacht. Ja, so lange braucht der Mensch, vom Juli, einen Winter durch und bis in den März hinein. Und jeder Tag ist so ein Zeichen wie die da an meiner Wand, ein unleserliches manchmal, zuweilen ein deutliches, das uns ins Fleisch schneidet, hm hm. Das im Sommer damals haben wir verstanden; vergessen wir nun auch dieses Elften nicht«, und er nahm in tiefen Gedanken seinen Bleistift aus der Tasche und schrieb unbewußt, ohne das Geschriebene zu sehen: »Am elften März, das Echo.«
In seiner Versunkenheit hatte er nicht bemerkt, daß unterdessen ein flinkes Männchen in die Stube gewischt war, den Stift aus der Tasche zog und mit geschickten Strichen ein Insekt an die Wand malte. Darunter entstanden jetzt die Worte: »Wanzen, prompt und geruchlos vernichtet Kammerjäger Dumke Esp – –«
»Mann!!« schrie Kortüm und packte den Kammerjäger Dumke am Arm.
»Wieso denn?«
»Was erlauben Sie sich?! Wie können Sie meine Wände beschmieren!«
523 »Aber Sie inserieren doch selber hier!« und Dumke zeigte auf Herrn Kortüms Merkschrift.
»Sie sind –«, begann Herr Kortüm, sprach jedoch das Folgende wesentlich gedämpfter: »Wie? Erlauben Sie –«
Teufel, dachte Kortüm, was soll ich getan haben? Ja, da hielt er den Bleistift noch in der Hand, in dem dankbaren Gefühl, daß diese Inschriftenwand des Lebens es war, die Lotte endlich das Lachen entlockte; diese plötzliche Einsicht hatte das Ruchlose solcher Schreibetätigkeit in seinem Denken verwischt, und ihm war tatsächlich selber der Stift unbewußt schreibend an der Wand hingeglitten . . .
Kortüm ging hin zu der Stelle. Dumke kam eifrig mit.
»Sehn Sie's?«
»Hm.«
»Ganz deutlich. Da steht auch's Datum. Sehn Sie's? Der elfte März. Den haben wir heute. Un da steht – was soll das heißen?«
Kortüm sah scharf hin. »Das Echo«, murmelte er.
»Sehn Se: Sie warn's! Hä. Was einer selber schreibt, kann'r selber auch am besten lesen.«
»Nun. Wie dem sei. Das sind meine Wände, Herr Dumke.«
»Aber nu freilich! Ich will's je auch nicht umsonst! Wer sagt denn das! He! Sie! Kellner! 'n Helles. 'n ganzes Helles.«
Herr Kortüm faltete die Anklageschrift sorgfältig viermal zusammen und steckte sie in die Brusttasche. Er mußte sich jetzt seinem Geschäft zuwenden. Neue Gäste kamen. Der eine holte sein dickes ledernes Notizbuch heraus, schnappte das Gummiband ab und begann zu blättern. Der andere suchte den Landwirtschaftskalender hervor und schrieb etwas von der Wand ab. Sie tranken Bier. Sie lasen an den Wänden, sie schrieben, sie begannen die Bekanntmachungen kritisch zu besprechen und abzuwägen. Immer wieder traten neue Gäste ein, bestellten Kaffee und gingen mit den Tassen in den Händen lesend an den Wänden hin. Auch Käse und Butterbrot wurde verlangt, und die neusten Angebote wurden kauend gewürdigt oder verworfen. Mit ratlosem Erstaunen sah Herr Kortüm in seiner Echostube sich plötzlich Leben entfalten, wie er das nur in Ländern des Südens gesehen hatte.
»Es bewegt sich«, murmelte Herr Kortüm, »hm, sieh da.« 524