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In wenig Zeit hatte also Herr Kortüm verstanden, sein Flügelhaus um zwei bemerkenswerte Neuerungen zu bereichern: um einen Feind – im Doktorhaus an der Ilm unten, und um den Kortümweg – nahe bei sich am Hause. Zu diesen beiden Arbeiten waren die laufenden Schreibereien gekommen. Nun war er müde. In der »Waage« konnte er sich nicht niederlassen, weil immer noch die World darin hauste. Noch weniger empfahl sich ihm der leere Tisch vorm Püsterich. Er hätte ganz allein im Schottenhof gesessen und wäre in seinen Gedanken hängen geblieben – alle Leute gingen nämlich auf dem neuen Kortümweg spazieren. Dorthin etwa? Nein. Der Hausdiener hatte ihm erzählt, daß eben jemand eine kleine Blumengirlande um den Wegweiser gewickelt hätte. So wanderte denn Herr Kortüm über die Südwiese bis zum Abfall des Schottenhügels. Hier stand er lange still, zerdrückte in Gedanken eine Dolde des wilden Fenchels und sog den Duft ein.
Er kannte doch diesen Blick nach Süden hin, aber heute ging da am Himmel ein gewaltiges Schauspiel vor sich, wie er es nie gesehen hatte.
An diesem warmen Abend breitete sich das Tal in olivgrünen Wellen aus, vor deren schwerem Sammet ein paar Buschgruppen und Bäume eben noch tiefbraun zu erkennen waren. Aber immer rascher, vor 398 sehendem Auge, flossen Land und Busch in eines zusammen. Drüben wölbte sich der runde vulkanische Hut des Kolmberges blaugrau in die Luft. Gleichermaßen rauchigblau dämmerte der Grund des Himmels. Der Fuß des Berges hob sich schon nicht mehr ab vom Dunst der Luft. Der Kolm schien aus der Ewigkeit hochzusteigen. Erst der Gipfel des Berghutes stand klar vor einem brandig glimmenden Rot der zweiten Himmelsschicht, die ebenso rauchig in die dritte Breite, in ein grauend gedämpftes Orange überging. Gleich über diesen drei, aus Blau in Rot und in Gelb brütenden trüben Dunststreifen jedoch leuchtete kristallklar das Grün des sommerlichen Abendhimmels, durch den querüber selig ein paar endlich wahrhaft goldengelbe Wolkenstriche flogen, schrägauf und hinaus, wo das durchstrahlte Grün zur rein tiefblauen Glocke wurde, die unbewegt über allem sich rundete. In diesem blauen Gewölbe aber stand ein Stern, einer nur . . .
Über den Herrn des Flügelhauses kam das Gefühl, er stände hier in einem Begebnis der Vorzeit, als noch die Berge wuchsen und dort dieser Kolmberg eben tosend aus der zitternden Erde quoll und nun durchsichtig leuchtete, umweht nur von rauchigen Schleiern.
Kortüm nahm den Hut ab. Er wartete, bis die Erscheinung vorüber war und der helle Junihimmel, ein einziges Kristall, beruhigt über seinem Gelände stand. Die Erde war wieder eine Menschenerde, und Herr Kortüm wandte sich und ging langsam durch das hohe Wiesengras seinen Weg zurück.
Er hatte aber des Weges nicht acht. »Als der Berg hochstieg«, murmelte er, »wie die Wolkenstriche da quer durchschwammen –«
»Ich nehme Petersilche dran!« – Entsetzt wich Kortüm zurück. Menschen saßen hier . . . eine Bank, noch eine . . . »Oh, mein Weg!« Rasch strebte er von dieser Bank fort.
»Und was soll ich Ihnen sagen: urplötzlich sitze ich auf dreißigtausend Pfund Sauerkraut fest, jawoll!« – »He!« schrie etwas neben diesem Sprecher, »wieso?« »Weil es kein Eisbein mehr gibt, verflucht! Ich hatte mich groß eingedeckt wie sonst – wer kann denken, daß der Krautverbrauch um fast vierundfünfzig Prozent sinkt binnen einem Monat, verdammt?«
Der glühende Berg der Vorzeit war versunken in Kortüms Seele, wie mit schmutzigen Händen unter Straßenpflaster gedrückt . . . »Wie schön war es in der Vorzeit, als es noch keine Gäste gab.«
Diese Worte sprach Kortüm zu seinem Freund Monich, der ihn im Dunkel des Seitenweges erkannt hatte und jetzt leise antwortete: 399 »Wenn einer so hinter deinen Gästen hin- und herspaziert, da kriegt'r was zu hörn. Wenn du dir das aufschreiben tätst, wüßtest du gleich, wer die Leute sin, besonders wenn du dir aufschreiben tätst, was se sich leise in die Ohren sagen.«
»Hast du etwa gehorcht, Monich? Was die Leute laut sagen, ist genüglich. Außerdem weißt du im Dunkeln nicht, wer die Redner sind. Wenn ich ein Quaken vernehme, Monich, so sage ich: dies ist ein Frosch. Und die Kuh muht, der Löwe brüllt. Zuverlässig, Monich: quakt, muht, brüllt. Aber wenn der Mensch redet, so besagt das nichts.« In Herrn Kortüm mußte eine dumpfe Wut sitzen. Er winkte jetzt nur müde mit der Hand: »Ich erkläre dir das ein andermal. Aber es ist schwer, Monich. Zu Fragen, die ins Gebiet der Menschenkenntnis gehören, fehlt mir jetzt der Gerechtigkeitssinn. Gute Nacht.«
Herr Kortüm ging geradewegs ins Bett.
Das war besser, als wenn er den Kortümweg zu Ende gegangen wäre. Ganz hinten, auf der letzten Bank, saß Herr Doktor Langloff neben Frau Mimi verwitweter Schlick. Sie hatte nämlich den ganzen Tag einen unbestimmten Druck gefühlt. Einen leisen Druck nur. Aber man muß vorsichtig sein. Langloffs Untersuchung ergab einwandfrei, daß die Witwe eine kerngesunde und sehr ansehnliche Frau war. Er verordnete nur ein paar Tropfen und Diät.
»Diät habe ich kochen gelernt«, sagte Frau Schlick.
»Sehr wertvoll. Da können Sie in der Küche hier oben selber nach dem rechten sehen. Das Flügelhaus ist in dieser Hinsicht mangelhaft geleitet. Veraltet, wenn ich so sagen soll –« und Doktor Langloff setzte ihr auseinander, welche Kost ein Erholungsbedürftiger zu genießen hätte und was aus diesem Haus zu machen wäre, wenn die Leitung nicht in den Händen eines Mannes wie diesem Kortüm läge. Wenn statt eines Intriganten, der schlecht über andere Leute hinter deren Rücken rede, damit aber nur sein eigenes Geschäft untergrabe, wenn ein Sachverständiger dieses Haus übernähme, ein Mann, der wisse, was der Körper des Menschen braucht, ja . . .
Langloff war bei diesen Worten Frau Schlick etwas näher gerückt. Die Witwe versuchte, dem Doktor in die Augen zu sehen. Aber es war zu dunkel. Nur seine angenehme ruhige feste norddeutsche Stimme hörte sie.
»Herr Kortüm ist nämlich ein entfernter Verwandter von mir. Sehr entfernt natürlich. Aber er ist doch eigentlich ein netter Mann.«
»Für seine Verwandten kann niemand etwas, verehrte Frau Schlick. 400 Kennen Sie übrigens die Geschichten, die man in der Stadt von ihm erzählt?«
»Geschichten?«
»Was er da mit Künstlermodellen vorgehabt hat?«
»Oh Gott.«
Mimi Schlick hatte schon vorige Woche, als sie auch einen unbestimmten Druck fühlte und den Arzt konsultierte, unbestimmte Bemerkungen von Langloff gehört, die Kortüm nicht im besten Lichte zeigten. Sie hatte gut zugehört – anhören soll man alles – aber Mimi hatte geschwankt: sie sind beide gut . . . wer ist der bessere? . . . auf die Dauer der bessere? . . . Herr Kortüm war jemand. Aber nun Geschichten? Geschichten mit . . .? Mimi rückte in Gedanken etwas ab vom Herrn des Flügelhauses und etwas näher an Langloff. Sie, die Kortüm doch blindlings getraut hätte, fühlte jetzt fast das Bedürfnis, Schutz zu suchen bei einem Mann, von dem keine Geschichten erzählt wurden.
Unsicher begann sie noch einmal: »Er ist doch aber in seiner Art so gradeaus.«
»Das ist er. Wenn's ihm paßt. Und wenn er hintenrum weiterkommt, dann untergräbt er ohne Gewissensbisse das Vertrauen der Patienten zu ihrem Arzt. Mehr will ich nicht sagen. Aber das kann ich hinzufügen: ich habe zuverlässige Mitteilungen von einwandfreier Seite, von beinahe medizinischer Seite. Kein Wort darüber mehr an diesem herrlichen Abend. Sehn Sie, die Milchstraße.«
Frau Schlick wurde es Angst. Sie rückte noch näher an Langloff: »Man sieht doch keinem an, was hinter ihm steckt.«
»Manch einer sieht das doch, Liebe, Verehrte« – der Doktor nahm ihr weiches dickes Händchen in seine männliche sehnige Hand. »Man muß nur herumgekommen sein in der Welt. Ich kenne sie von einem Ende zum andern.«
»Gehen Sie wieder in die Ferne?«
»Nun bleibe ich in der Heimat.« Und er begann zu erzählen von Stürmen, Schicksalswechsel und leidvollen Abenteuern auf seiner Reisen wundervoller Fahrt: von Kannibalen, die einander schlachten, Anthropophagen, Völkern, deren Kopf wächst unter ihrer Schulter . . .
Ihr Blick hing an seinem Antlitz, das sie vor ihren atemlos geöffneten Lippen in der Dunkelheit der Nacht nur zu ahnen vermochte: »Ach, wie anders das dort in der Welt zugeht als bei uns.«
»Es ist überall dasselbe.« Doktor Langloff drückte sie näher an sich, denn die Nachtluft wurde kühl. 401