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Festliche Einweihung der Schottenstraße: an diesem Tage konnte Herr Kortüm seine Gästekurve nicht einzeichnen. Der Andrang spottete jeder Registrierung. Zu den standörtlichen Gästegruppen Echostube – Sanatorium kam heute das Schottengelände insgesamt. Von den Kinderwageninsassen und Fußgängern, den Last-, Kalesch- und Mietwagenbenutzern bis zu den eigentlichen Autoinhabern bewegte sich alles Lebendige in Richtung Schottengelände. Herr Menger schrieb in einem begeisterten Aufsatz: »Nur die Toten auf den Friedhöfen blieben an ihrem Ort!«
Im Speisesaal des Sanatoriums wurde ein Mahl eingenommen, ein Festmahl – kein Wort gegen Elvira! Der Apotheker Mickewitz speiste mit, sah seine Nachbarn speisen und eilte zwischen Eisbombe und Käseplatte in die Fernsprechzelle: sogleich, unverzüglich, möge der Provisor die Magenmittelbestände auffüllen. Hiebrich ließ sich vom Gesellen eine Holzmolle voll Bratwürste nach der andern in den Fliederweg vor der Echostube bringen, wo sein Rost dampfte. Kortüms Gaststätte war besetzt: die Echostube, die Treppenstufen zum ersten Stockwerk, die Türschwelle und der Püsterichplatz. Ein Leierkastendreher 586 machte Musik dazu. Ein Mann mit Luftballons verkaufte seine Ware trotz Kortüms Einspruch: »Sie beengen mit diesen Ballons auch noch den Raum über den Köpfen!« Schon war auch auf dem Lohberg kein Platz mehr zu finden, und die Leute machten sich auf dem Pfad zum Gipfel seßhaft. Kortüms Organisationsgabe feierte Triumphe. Bis nachmittags vier Uhr hatte er bereits zwei Kaffee-Hilfskochstellen und drei Faßausschenken errichtet. Nicht eine Minute gönnte er sich Ruhe, verschlang im Laufen ein paar Bissen und trank gar nichts, denn die Sonne schien heiß, und an solchem Festtage widerstrebte es ihm, seinen schwarzen Rock abzulegen. Schwartenmacher befestigte in aller Eile die wertvolleren Museumsobjekte mit Draht: die Funde standen recht ungeschützt in Flur und Gang des Lohberghauses. Windhebel sah ihm schadenfroh zu: »Mit Draht anbinden würde ich an Ihrer Stelle nur den Katalog des Kortüm-Museums. Der ist das einzige, was nicht wieder zu beschaffen ist in eurem Museum.«
Arcularius saß auf einem Bierfaß, die Kaffeetasse auf den Knien, und, sie mit der freien Hand sorglich vor den Vorüberdrängelnden schützend, sagte er zu Kortüm: »Gratuliere, Verehrtester.«
Der Echowirt wischte den Schweiß von der Stirn und lehnte sich erschöpft an die steinerne Nadel: »Ja, Umsatz wohin man blickt – die neue Schottenstraße läßt sich gut an.«
Es war ein großer Festtag.
Am anderen Morgen jedoch wollten Windhebel, am nächsten Arcularius, am dritten Schwartenmacher und an den folgenden Tagen wollten noch ein paar andere Leute bemerken können, daß die Schottenstraße einen Fehler habe. Aber Männer dieses Schlages stellen leicht unbillige Forderungen. Herr Kortüm versuchte sich selber ein Urteil zu bilden. In endloser Kette glitten die Autos über die glatte Bahn. Neben dem Betonstreifen lief der Fußweg hin. Auch dieser Pfad wurde ordnungsmäßig begangen. Bilmes fuhr seine Schubkarre bergab, Kersch stieg mit der Axt auf der Schulter bergan. Eine Bauernfrau zog den Handwagen mit dem Eierkorb hinter sich her. Der Zeitungsjunge, der Briefträger, Fleischermeister Hiebrich mit einem Kalb – alles noch nicht motorisierte Lebendige zog hier seines Weges.
Aber es gab Leute, die nun eigentlich auf der Bordsteinkante zwischen Betonbahn und Seitenweg hätten gehen müssen. Wenn den Doktor Windhebel ein Gedanke bewegte, liebte er nach Besenroda hinabzusteigen und den Anblick der Tiefe, Schritt für Schritt in sie hineintauchend, beruhigend in sich aufzunehmen. Sst – sauste ein Auto an ihm vorbei. 587 Windhebel fuhr zusammen. Wenn, begann er seine letzte Überlegung von neuem, wenn die Quadrate der Umlaufzeiten sich wie die Kuben der mittleren Abstände . . . Rrrum ruckelte drohend ein Lastzug heran. Kam der Wagen von vorn, ging der Doktor unwillkürlich so weit wie möglich an den jenseitigen Rand des Pfades; huschte er von hinten plötzlich heran, erschrak er. »Bloß 'n Momentchen«, sagte ein wandelndes Reisigbündel und schob den Gelehrten in die Büsche, »so, danke schön. Da bin ich ja schon vorbei« – mit seiner tiefen Berechnung war es nun freilich auch vorbei. Abends behauptete Windhebel: »Zu Fuße kann man weder mehr nach Besenroda noch nach Esperstedt gelangen. Das Schottengelände ist abgeriegelt von den Wäldern im Süden und der Goldenen Aue im Norden.«
Lichtermark vermochte auf den Wegen nach Besenroda und Esperstedt keine Motive mehr vor sich hinzusummen. Der meditierende Arcularius verlor den Faden.
Wirtschaftlich rollte auf dem neuen Betonband ein gutes Stück Geld ins Sanatorium. Auch bei Kortüm guckten manche Fahrgäste gelegentlich ein in der Hoffnung, da sei es billiger. Wenn sie in großen eigenen Wagen reisten, sagten sie: »Originell«, wenn sie in kleineren Wagen älterer Bauart oder in Autobussen erschienen: »Nu gucke bloß, hä«, und gingen dann in der Regel ins sogenannte Haupthaus. Diese Einkehrer registrierte Herr Kortüm auch dann nicht, wenn sie wirklich Platz nahmen und die Speisekarte verlangten: »Das sind keine Gäste, sondern Reisende«, sagte er und überließ ihre Bedienung dem Kellner.
Auf der Straße ins Schottengelände bewegten sich innerhalb des Betonbandes die Reisenden in Autos und daneben auf dem Fußweg die Einheimischen mit ihren Körben und Schubkarren. Diese Scheidung bewährte sich vortrefflich: keiner behinderte den anderen. Aber der Volksteil, welcher auf Erden weder Autos noch Schubkarren bewegt, sondern beim Gehen, beim nachdenklichen Arbeitswandern so seine Gedanken hat, der wurde von den fahrenden Kolonnen abgedrängt. Es gab ja viele völlig verkehrslose stille Waldwege im Schottengelände, aber der uralte Nordsüdweg gehörte ebenso zum Wesen des Schottenhauses wie die Westoststraße von der Biskaya her nach Taschkent. Nun lag das Haus plötzlich an einer neuen Stelle: entweder an einer nordsüdlichen Verkehrsader oder an einem westöstlichen Triftweg.
»West und Ost und Nord und Süden«, sagte Kortüm. Denn leider auch die Unberäderten mußten Besenroda und Esperstedt erreichen können, wenn sie nicht verzichten wollten auf die Wanderungen in die 588 tiefen Wälder jenseits der Ilm im Süden und die weiträumigen Hügelwellen zu den Harzbergen hin nach Norden.
Ohne daß der geldsäckelnde Langloff es merkte, hatte sich sein Sanatorium verlagert. Doktor Langloff strich Geld ein, setzte um und war bester Laune. Kortüm saß lange Stunden in seinem Lehnstuhl und tat scheinbar nichts. Er sann vor sich hin. Als die Straße schlecht war, hatte er sich beschwert. Nun war sie glatt und grade. Sollte er jetzt etwa wieder Klage erheben gegen Gott und alle Welt? Dazu war Herr Kortüm ein zu guter Wirt und Lebenskenner. Er sah deutlich, daß weder die alte Schlaglöcherstraße noch die neue Betonglätte zu ihm führten, daß also die »Silberne Windfahne« regelrecht, offiziell und aktenkundig scheinbar überhaupt nicht zu erreichen war. Kortüm schlug schallend mit der flachen Hand auf seine braune Mappe: er mußte denn seinen eigenen Pfad finden zwischen Schubkarre und Maschine. Herr Kortüm stand vor keiner geringeren Aufgabe, als die Straße zur »Silbernen Windfahne« zu erfühlen zwischen Erde und Gestein, wie sie schon einmal erfühlt worden war in alten Zeiten zwischen der Biskaya und Taschkent, zwischen Adria und Nordsee.
Er fing an, auf Seitenwegen zu gehen; er wanderte auf Jägerpfaden, als ob ihm Doktor Langloff eine verzweifelte Laufkur verordnet hätte. Jeden Wildsteig, der von Besenroda über die Schottenhöhe nach Esperstedt führte oder der sich zwischen bemoosten Felsblöcken und Buchenstämmen in dieser Richtung erahnen ließ, schritt er unermüdlich auf und ab. Alle diese Pfade trug er in die Generalstabskarte ein, verglich sie, maß die Gehzeit mit der Uhr in der Hand, schließlich trug er mit roter Tinte den besten Fußweg in seine Karte ein und ging zum Besenröder Malermeister. Als seinerzeit Herr Kortüm seine Echostube streichen ließ, hatte sich der Meister nicht wenig über den befremdlichen Auftrag gewundert. Jetzt wunderte er sich noch mehr. Aber er führte auftragsgemäß die Arbeiten aus: zwölf kleine Wegweiser und zwei große Holztafeln mit schöner und klarer Schrift waren zu bemalen.
Eines Tages standen zwei neue große Schilder in der Landschaft. Die eine Tafel lenkte am Ausgang von Besenroda den Blick auf sich. Sie wies auf den Fußpfad, den Kortüm mit schwerer Mühe durch den einsamen Bergwald längs einer Wildspur gefunden hatte, und enthielt diese weithin leuchtende Inschrift: »Goetheweg.« Darunter stand: »Hier erstieg J. W. v. Goethe im Jahre 1779 die Schottenhöhe, auf der jetzt Kortüms Echostube steht.« Und in kleineren Buchstaben las man ferner: »Bis zur Echostube 15 Minuten.« Die andere Tafel erhob sich 589 am Ausgang von Esperstedt, wies auf den Fußpfad, der von Norden her zur Schottenhöhe hinaufführte und verkündete den erstaunten Wanderern: »Wolframweg«. In derselben Anordnung wie auf der Besenröder Tafel folgte in kleineren Buchstaben die Mitteilung: »Hier verließ Wolfram von Eschenbach im Jahre 1203 die Schottenhöhe, auf der jetzt Kortüms Echostube steht. Der Dichter befand sich auf der Reise zum Sängerkrieg auf der Wartburg. Bis zur Echostube 18 Minuten.«
Es konnte nicht fehlen, daß diese neuen Straßenanlagen und ihre historische Begründung das größte Aufsehen in näherer, in weiterer, ja in allerweitester Umgebung erregten. Bei der Goethe-Gesellschaft liefen Anfragen ein, wem die Entdeckung dieses Pfades geglückt wäre, bisher habe man doch nur gewußt, daß der Dichter sereno die quieta mente den vierten Iphigenienakt in jener Gegend an einem Sommertag geschrieben habe. Der Teil der Bevölkerung, welcher Goethe und Wolfram gelesen hatte, besah sich in tiefer Verwunderung die neuen Pfade. Hoch standen hier die Kerzen der Fingerhutstauden, lautlos schwebten bunt schillernde Fliegen in den paar Sonnenstrahlen, die das Blätterdach durchbrechen konnten, dicke Moospolster sänftigten den Tritt, Felstrümmer luden zum Ruhen und Nachdenken ein, und wer lauschend den Kopf neigte, vernahm nichts als das Rauschen des leisen Sommerwindes in den Zweigen. Die Goethe- und Wolframkenner wiegten die Köpfe hin und her, und endlich setzte sich diese Gemeinde auf einen Felsblock – sie bestand aus zwei älteren Herren – und sprach zueinander: »Hm . . . ach so . . . nun, es sei.« Ein anderer Teil der Ein- und Umwohner, jener nämlich, der wenig las, dem aber aus sonstiger Kenntnis oder Berufstätigkeit ein Urteil zustand, rief aus: »Nichts ist diesem Kortüm heilig! Da wagt dieser Gastwirt, seinen Namen zu nennen in gleichem Atem mit den Namen unserer beiden großen Geistesheroen!« Ein dritter Volksteil aber faßte sich kurz und sagte nur: »Hä«. Wenn diese erfreulichen Einwohner rasch mal zwischen saurer Arbeit ein kleines Lichtenhainer in der Echostube zu sich nehmen wollten, kamen sie von Süden wie von Norden her auf den neuen Pfaden Kortüms sehr viel rascher an Ort und Stelle. Und alle die Gäste, welche spazieren zu gehen scheinen, aber in Wahrheit gehend arbeiten und ihre Gedanken haben oder bekommen, die Gelehrten, die Ingenieure, die Künstler und die Seelenhirten – die erklärten übereinstimmend: »Herr Kortüm, Sie haben es wohlgemacht – freilich ist Ihre Zugangsstraße nun noch etwas beschwerlicher geworden, als es die alte Schlaglöcherstraße schon war.«
590 Der Kapitän dagegen drückte sein Mißbehagen, den Doktor an der Rockklappe an sich heranziehend, so aus: »Jetzt Schluß! Merkst du was? Der will die Bücherleser an sich ziehen, die Leute mit sitzender Lebensweise, verstehst du? Die sitzen nämlich abends in seiner Echostube am längsten.«
Der Kampf begann. Herrn Kortüms Sache stand rechtlich auf schwachen Beinen. Einen Jägerpfad ausbeuten mit irreführender Reklame – was sollte werden, wenn jeder . . .
Aber Kortüm hatte ja inzwischen manches dazugelernt, brachte diesmal die dritte Person auf seine Seite und stellte sie rechtzeitig vor sich hin. Auch in seinen Eingaben stand nun nicht mehr: »Ich brauche«; Kortüm schrieb: »Die geistig schwer arbeitenden Teile der Bevölkerung brauchen.« Von diesen Leuten sprach und schrieb er in beweglichen Worten und erwies schlagend ihre Verlorenheit zwischen Schubkarren und Betonband: »Wem sollen auf einer Bordsteinkante große Gedanken kommen?!« rief Kortüm aus.
Tapfer drang er in die Festungen der Behörden; er erstieg die Stockwerke, in denen weder Stichling noch Lobedanz noch das Landrecht von achtzehnhundertvierzig das Wort haben, wo die Treppen noch breit und mit Läufern belegt sind. Die hier hausenden Herren saßen selber halb zu Tod gearbeitet zwischen Aktenhaufen, strichen sich seufzend über die Stirnen, wenn von Ruhebedürftigkeit die Rede war und klappten das Aktenbündel »Eigenmächtige Aneignung zweier Wildpfade mit Hilfe irreführender Werbung« mit einem Ruck zu: »Der sogenannte Goetheweg und der sogenannte Wolframweg können einstweilen und auf Widerruf benutzt werden.« Manche dieser Herren schrieben sich in ihre Merkbüchlein sogar die Anschrift des Inhabers der Echostube und sagten beim Abendessen zu ihren Gattinnen: »Was würdest du zu einem gelegentlichen Aufenthalt in Thüringen sagen? Auf dem Lohberg etwa? Bei einem gewissen Herrn Kortüm, der nach meinen Akten kein schlechter Wirt sein kann, Liebe?«
Herr Kortüm reiste befriedigt aus der Hauptstadt ab, verließ in Besenroda sein Abteil, drückte das Kinn an den Kragen und sagte zu den Chauffeuren auf dem Bahnhofsplatz höflich: »Danke.« Er wanderte bis zur Kortümtafel und stieg von da aus in fünfzehn Minuten den Goetheweg hinauf zur Echostube.
Am Abend eröffnete er der erstaunten Tafelrunde, daß von heute und hier an die große und rund viertausend Jahre alte Nordsüdstraße einen etwas anderen Verlauf nehme: »Sie wissen? Adria, Nordsee, dann 591 weiter Island, Grönland, Alaska. Diese Straße ist ab heute verlegt – soweit sie mich und meine Gäste betrifft. Ja.«
Bisher war Doktor Windhebel der Mann, der an diesem Tisch auf Grund seiner Himmelskenntnisse den tiefsten Eindruck hervorzubringen verstand. Nicht einmal der Pastor Arcularius konnte ihn an Unwidersprechbarkeit überbieten. Jetzt starrten sie Kortüm an: »Die Wege sind tatsächlich genehmigt?!«
Herr Kortüm nickte: »Auf Widerruf. Aber, meine Herren, haben Sie seit den Tagen Babels ein Bauwerk gesehen, das nicht auf Widerruf errichtet worden wäre? Und leben wir nicht selber auf Widerruf?« Er schenkte ein: »Herr Doktor, Herr Superintendent, Herr Ingenieur, lieber Monich!« Er hob das Glas: »Den Menschen auf Widerruf und ihren Pfaden!«
Sie stießen an und tranken. Der Ingenieur trank das ganze Glas aus und hielt sich dann das leere Gefäß nachdenklich vors Auge, als ob er nach einem Tropfen Wein darin forschte: »Es ist doch zu überlegen«, murmelte er, »ob ich mir hinter Bendar Schah nicht gleichfalls ein Stück Land stehle und die Bahn dadurch baue. Hm, man braucht ja, wie wir sehen, einfach eine Tafel aufzustellen gleich der des Herrn Kortüm –«
»Nur« – Kortüm beugte sich weit über den Tisch dem Ingenieur entgegen und sagte mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzem Munde – »nur würde dortzulande nicht leicht jemand an der Tafel vorbeikommen, der sie lesen kann. Das erst, was die zwei Namen bedeuten, welche ich den Pfaden zu geben mir erlaubt habe, macht ja Schriftzeichen leserlich. Schenke ein, Monich.«
Der siegesbewußte Konkurrent des Ingenieur Müller hob wieder sein Glas: »Mögen die zwei Schutzpatrone jeden unserer Schritte segnen, den wir tun müssen auf selbstgebauten Wegen.«