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In den letzten Tagen war die Ortsbezeichnung Berlin so oft im Lohberghaus ausgesprochen und auf Ansichtspostkarten geschrieben worden, daß sie sich Herrn Kortüm endlich unverlierbar eingeprägt hatte.
»Isch Bankassi«, murmelte er, »es wird Zeit, in Sachen Haupt auf die Reichsbank zu gehen.« Er winkte Stannebein heran und sagte: »Wir verreisen, George. Aber zu niemand davon reden. Ich habe lange Jahre festgesessen und hatte es vergessen: man schweigt, wenn man auf Reisen gehn will. Ich erlebte kürzlich auf mehreren Abstechern Mißhelligkeiten, weil ich den Leuten sagte, wo ich hinwollte. Also Schweigen, George.«
Heimlich packte Kortüm das Nötigste ein. In der stillen Mittagsstunde verschwand er mit Stannebein. Frau Wingen fand einen Zettel: »Geschäftsreise. In wenig Tagen zurück.«
Wenn zwei weitgereiste Männer wie Kortüm und Stannebein in die Eisenbahn steigen, ist kein Zwischenfall zu erwarten. Sie führten wenig Gepäck mit sich, Kortüm hatte ausreichend Geld eingesteckt, das Wetter war klar und sonnig. Zur rechten Zeit kamen sie auf dem Anhalter Bahnhof an. In einer Stadt wie Berlin sieht sich niemand nach einem Herrn Kortüm um. Hier kommen ganz andere Reisende an, aus China, aus Lappland. Kortüm, ein gemessen einherschreitender Herr, machte vorläufig keinen Eindruck auf die ihm begegnenden Einwohner der Hauptstadt, eher noch der ihm mit dem Koffer in der Hand vorausgehende Diener Stannebein, welcher gröblich die Menge zerteilend seinem Herrn den Weg zum nahen Hotel bahnte.
In der weiten Halle des Gasthofes blieb Kortüm tiefatmend stehen: »Es hängt mir noch an, George. Im Schottengelände war ich drüber weg, aber in dem Trubel hier merke ich es wieder. Ich gehe heute abend nicht aus. Aber wenn Sie sich Berlin ansehn wollen?«
Stannebein nickte so zustimmend, daß Kortüm warnend den Zeigefinger hob: »George!«
»Drei Dunkle. Sagen wir viere.«
»Vier. Gut. Nicht saufen, George. Wo wollen Sie hin? Kennen Sie zum Beispiel –? Herr Ober!« der vorübereilende Kellner blieb stehen – »wo kann ich die Liste der abendlichen Vergnügungen einsehen?«
»Bitte!« In einem Messingrahmen hingen die Zettel der Theater und sonstigen Schaustellungen.
»Da wäre also«, begann Kortüm, »ja, hier hätten wir zunächst die Staatstheater . . . Oper: Götterdämmerung –«
»Ach nee, Herr Kortüm.«
»Augenblick . . . Schauspielhaus – Teufel! George!« – Stannebein versuchte mißtrauisch den Titel des Stückes zu lesen, aber Kortüm zeigte gar nicht auf einen Titel, auf einen Namen zeigte er. »Konstanze Schröter: George, ich gehe heute abend ins Theater.«
»Lassen Sie mich das machen, Herr Kortüm. Denken Sie lieber an Ihre Gesundheit. Die Reise hat Sie mitgenommen. Gestern sahen Sie besser aus.«
Kein Wort hatte Kortüm gehört. »Konstanze«, murmelte er, »Frau Schröter, die große Schauspielerin, meine Freundin.« Er wandte sich dem Herrn dieser Halle zu: »Portier, ich brauche unbedingt eine Karte fürs Schauspielhaus!«
Der Herr in Rot und Gold blätterte gelassen in einem Heft, er telephonierte in der überlegen nachlässigen Art, wie Leute telephonieren, die sich in der Hauptsache fernmündlich verständigen.
»Erstes Parkett?« fragte er dann.
689 »Vorderste Reihe«, antwortete Kortüm.
»Nur noch achte Reihe. Guter Platz.«
Kortüm war auch über diesen Platz glücklich. »Und Sie, George?«
»Ich stehe halb elfe am Theater un hole Sie ab, Herr Kortüm.«
»Sehr beruhigend. Dann weiß man, daß Sie keine Dummheiten machen.«
Kortüm erkundigte sich noch rasch nach der Reichsbank, bat um Angabe der Sprechstunden in der Direktion und mußte sich nun beeilen, wenn er noch einen Bissen essen und den Anzug wechseln wollte.
Stannebein speiste nicht im Hotel, verschmähte auch, seine kostbare Zeit im Bräukeller des Gasthofs mit Essen zu vergeuden. Der reisegewandte und durchaus ortskundige George eilte zur Stadtbahn, fuhr nach Haltestelle Holzmarkt, wo er in der Nähe des Spreehafens seit alter Zeit eine zwar nicht geräumige, aber sehr anziehende Gaststätte wußte, die nur für Landbewohner im Verborgenen blühte, Seeleuten wie Spreeschiffern jedoch wohlbekannt war. Die enge Straße hallte wider von den frohen Weisen, die aus dem Inneren des Etablissements schallten. Das Bier war vortrefflich. Streng genommen hatte Stannebein eigentlich Dienst, jedenfalls konnte er nicht mehr als vier ganze Dunkle trinken. Über die Schnäpse zwischen diesen dunklen Ganzen war jedoch zwischen ihm und seinem Herrn nichts Näheres vereinbart worden. Bier trank Stannebein vertragsmäßig, Schnaps nahm er nach Belieben zu sich. Die Musik donnerte und bummste, aber die Kapelle trug Matrosenjacken und die Mädchen waren so wenig zimperlich wie in anderen Hafenorten auch. Hier lebte sich's anders als in Besenroda. »Schwerenot, 's wurde Zeit, daß wir uns mal wieder auf die Socken gemacht haben.«
Hier lebt es sich anders als in Esperstedt«, murmelte Herr Kortüm, als er an Marmor, Bronze und Spiegelglas hinwandelte, um auf seinen Parkettplatz zu gelangen. Bei ihm im alten Schottenhaus war ja auch ein Theaterstück aufgeführt worden, ein Festspiel sogar, freilich ohne Marmor und Bronze. »Wie mag sie nun in diesem Aufwand spielen?«
Nach ihren ersten Worten wußte Kortüm: sie spielt so schön wie je. Konstanze hatte zu geben, und sie gab mit vollen Händen. Sie ist jünger geworden, dachte Kortüm.
Als der Vorhang fiel und der Beifall aufbrauste, schwoll Kortüm 690 das Herz. Er regte keine Hand, rief nicht Bravo, saß ganz still; fast ein wenig zusammengesunken saß er da vor innerem Stolz: wenn diese beifalltobenden Leute wüßten, daß hier in Reihe acht auf Platz neunzehn ein Mann aus Besenroda sitzt, dem sie zu Weihnachten einen Strauß Veilchen geschickt hat! Er sah sich um, musterte das Publikum und sprach: »Gut gut.« Kortüm war zufrieden mit diesen Leuten. Sie spendeten unermüdlich Beifall. »In Berlin scheinen dankbare Leute zu wohnen.« Aber wie er sich auch umsah, er kannte niemand. Alles unbekannte Gesichter. Bis auf den letzten Platz war das Theater ausverkauft. Kortüms Blick glitt an der Gesichterreihe im zweiten Rang hin; im ersten, als er die Logenbesucher streifte, hielt er still – da war ein bekanntes Gesicht! Oder nicht? Der Mann saß im Halbschatten. Kortüm erhob sich und bat den Logenschließer um ein Opernglas. Er stellte es ein, schraubte, und im Glasrund stand der Kopf Klaus Scharts. »Er ist es doch. Ein wenig älter geworden. Ich kenne ihn noch als undeutlichen Menschen.« Kortüm schraubte, stellte schärfer ein – »Sieh da, aus Kindern werden Leute. Hm . . . und aus Leuten werden –«
Es wurde dunkel. Der zweite Akt begann.
In Stannebeins Hafenbar erreichte eben die dritte Nummer des Programmes ihren Höhepunkt. Goldbraun geschminkte und hier und da mit einer Papierblume bekleidete Mädchen führten Südseetänze vor. Der Hafenspielleiter hatte es leichter als sein Kollege am Gendarmenmarkt. Das Publikum nahm ihm die halbe Arbeit ab. Die Zuschauer sangen mit. Nur der fallende Vorhang verhinderte, daß die Gäste im Parkett den braunen Mädchen auf der Bühne auch noch tanzen halfen. Tabakrauch vernebelte den Raum, aber man fand sich. Lisette trank mit George aus einem Glas. Eben sang ein Fräulein auf der Bühne ›Das Elterngrab‹. Stannebein und Lisette wurden traurig und rückten einander näher – sie hatten beide keine Eltern mehr.
Vor Kortüms Augen trugen in dieser Stunde große Schauspieler die Last des dritten Aktes über die Bühne.
Der Theatermond schien sehnsüchtiger in eine Schlafstube mit schlichten gekalkten Wänden, als das wirkliche Gestirn flimmernd durch Fenstergitter zu tasten vermag. Eine Uhr schlug auf der Bühne, glockenhaft. Kortüm sah nur Konstanzes lächelnden Mund und hörte ihn sagen während der langsamen tiefen Uhrschläge: 691
»Solange der Erde Schwerkraft zieht
Nach unten das Gewicht der Uhr,
Treibt uns ihr Zeiger in Gottes Gebiet
Über Menschenspur.
Die Wolken ziehn heimlos durch blauenden Duft:
Ihr Zeltdach wurde des Geistes Raub,
Als Menschenwitz die blaue Luft
Erkannte für besonnten Staub.«
Die Falten des Vorhanges rauschten zusammen.
Kortüm sprang auf, drängte sich durch die Leute, ging über Treppen und Gänge nach der linken Seite hinüber, wo Klaus Schart seinen Platz hatte.
Die Loge war leer, als Kortüm kam. Er suchte Klaus in der Halle, auf den Treppen, vor dem Büfett. Nirgends war er zu sehen. Bei Konstanze mochte sich Kortüm in der Pause nicht melden lassen. Die Schauspielerin braucht die paar Minuten zum Ruhen, sagte er sich. »Aber ich werde sie nach Schluß der Vorstellung zu treffen suchen.«
Das erste Klingelzeichen mahnte. Ermüdet eilte Kortüm nach dem Parkett, drängte sich vor den pünktlicheren Zuschauern auf seinen Sitz. Er hätte heute am Reisetag doch nicht ins Theater gehen sollen. Dem letzten Akt folgte er mit Mühe. Konstanze vermochte seine Unruhe nicht wegzuspielen. Zuweilen sah er nach der Loge hinüber. Der Platz Scharts blieb während des letzten Aktes leer. »Wie kann der junge Mann es über sich bringen, nach Hause zu gehn, wenn Konstanze Schröter spielt?« dachte Kortüm, »man muß morgen seine Adresse feststellen und ihm die Meinung sagen.«
Nach Schluß der Vorstellung trat Kortüm an den Logenschließer: »Sagen Sie, wo treffe ich jetzt Frau Konstanze Schröter?«
»Vielleicht am Bühnenausgang«, sagte der Mann eilig und half den Leuten in die Abendmäntel.
Kortüm hätte ebenfalls Hut und Mantel nehmen und ins Hotel fahren sollen. Die Reise hatte ihn angestrengt, die Vorstellung bewegt, und das Suchen und Hasten brachte ihn vollends um die gewohnte Gelassenheit. Unbewußt drehte er am Stellrad des Opernglases und murmelte: »Bühnenausgang?« Kortüm ging ein paar Schritte im Strom der Menschen mit, ein paar Treppenstufen. »Der Bühnenausgang?« fragte er einen mit Damenmänteln beladenen Herrn.
»Ums Haus rum natürlich«, war die kurze Antwort.
692 »Frau Schröter will ich nicht auch verpassen.« Er trat unter das Vordach des Haupteinganges, ging nach links, ging schließlich um das ganze Theater. Auf der rechten Seite sah er endlich eine offene beleuchtete Tür. Er musterte die Leute, die da herauskamen. »Ja, das sind Schauspieler«, sagte er sich. Erst kamen viele auf einmal, zerstreuten sich. Dann traten einzelne Damen und Herren heraus, wandten sich zu den Privatwagen, die in der Straße standen. Kortüm wartete . . . »Ich habe sie verpaßt.« Jetzt erschien noch ein großer stattlicher Herr, dahinter – das ist sie! Kortüm wollte herantreten. Aber gleich hinter Konstanze ging ein Mann – Schart! Klaus Schart nahm Konstanzes Arm. Sie blieb einen Augenblick stehen, atmete die Abendluft ein. »Frisch und gut«, sagte sie leise.
»Warm und dunkel!« rief da dieser Schart, nahm ihre beiden Arme an den Ellbogen – es sah fast aus, als wollte der Mensch Frau Schröter küssen!
»Was fällt dir ein?« lachte sie.
»Die Nacht«, antwortete Klaus leise und sah sie an . . .
»Komm«, sie lächelte – »nach Hause.«
Kortüm sah Konstanze in einen Wagen steigen. Er sah Klaus das Steuer nehmen. Der Motor surrte leise. Das Auto fuhr an, glitt die Jägerstraße hinunter. Kortüm sprang vor, an die Bordkante. Das Schlußlicht blinkte jetzt zwischen anderen Lichtern, aber er sah es noch. Da klappte der rote Winker heraus. »Halt!« rief Kortüm. Der Wagen war verschwunden. Andre Wagen sausten die Straße entlang, andre Schlußlichter leuchteten, andre Autos winkten, verschwanden, wieder andre, unzählige, ein Strom.
Kortüm wußte nicht, daß er ohne Hut und Mantel auf der Straße stand, nur das Opernglas in der Hand hielt und den Blick starr auf die Ecke Markgrafenstraße–Jägerstraße gerichtet hielt. Hinter Kortüm klappte eine Tür. Ein Schlüssel rasselte. Die Lampe über dem Eingang erlosch. Kortüm starrte auf die ferne Straßenecke; wie sie winkten! Wieder zeigte ein glühender Finger dorthin. Immer mehr Lichter . . .
Der Polizist wurde schließlich auf den Mann mit dem Opernglas aufmerksam. Er schritt erst einmal nahe an ihm vorbei. Der Theaterbesucher sah gebannt auf die Markgrafenecke. Der Schutzmann blickte auch hin – nichts Besonderes zu entdecken. Er sah nun Kortüm an, trat zu ihm: »Haben Sie Ihren Hut in der Garderobe vergessen?«
»Vergessen? Nein . . . nur belogen bin ich.«
»Nanu.«
693 »Ja. Betrogen. Schart . . . am Abend vorm Maskenfest . . . mir ins Gesicht hinein gelogen?«
Der Schutzmann griff nach dem Arm des Fremden.
»He, Düwel un Ankerspill, Hallo!« Stannebein kam um die Ecke gerannt. »Da bin ich!«
Kortüm rieb das Kinn.
»Sie kennen den Herrn?« Der Schutzmann hatte sich an Stannebein gewandt.
»Melde mir zur Stelle.«
»Zeit wird's, daß Sie sich um ihn kümmern. Sehn Sie mal.«
Kortüm rieb noch immer das Kinn. Der Beamte musterte die beiden.
»Denn wolln wir wohl«, summte Stannebein im Ton der Südseemelodie.
»Ah, George« – Kortüm erkannte Stannebein – »man singt. Die Veilchen, weißt du noch, als ich depeschierte? Du streutest Asche. Die Straße war glatt. Haha. Die Veilchen sind wohl aus ihrem Hochzeitsbukett gewesen.«
»Asche, Herr Kortüm? Is richtig. Aber Hochzeit, Herr Kortüm?« Stannebein hatte doch ziemlich viel außervertragliche Schnäpse zwischen die Ganzen geschaltet.
»Also nun reden Sie nicht mehr«, sagte der Beamte zu Stannebein, »und bringen Sie den Herrn nach Hause. Sehn Sie nicht?«
Durch einen leichten Schleier sah Stannebein seinen Herrn an der Straßenlaterne lehnen. Das grünkalte Licht stand Herrn Kortüm gar nicht zu Gesicht. Grau sah er aus. »Da is es wieder« – Stannebein wurde nüchtern vor Schreck.
Der Schutzmann winkte: »Auto!«
Stannebein half Kortüm einsteigen. So leicht ging das nicht. Der Beamte mußte unter den anderen Arm greifen.
»Hotel Exzelsior!« rief Stannebein durch die Glasscheibe.
Kortüm hob langsam die Hand: »Anhalter Bahnhof.«
Stannebein wollte dazwischen reden, aber der Schutzmann unterbrach ihn: »Bahnhof. Da haben Sie 'n Arzt. Nu man los 'n bißchen.«
In wenig Minuten hielt der Wagen unter der Vorhalle des Bahnhofs. Der Fahrer und Stannebein führten Herrn Kortüm in den Warteraum.
»Hier, 'n Schluck Wasser, Herr Kortüm.«
»Nach Hause«, sagte Kortüm und schob das Glas weg. Der Fahrer war nach dem Bahnhofsarzt gelaufen. Ein Bahnbeamter betrachtete den 694 Kranken und fragte Stannebein leise: »Der Herr hat sich wohl hier in der Charité untersuchen lassen wollen?«
»Nee. Bloß in die Reichsbank hat er gewollt.«
»Wohin? Das is das Richtige für einen, der nich ganz aufm Damme is.«
Der Arzt kam, untersuchte Kortüm. »Ja«, sagte er nachdenklich, »wir nehmen am besten einen Wagen. In die Dessauer Straße –«
»Ich fahre nach Hause«, sprach Kortüm und richtete sich auf. »Sofort.«
Der Bahnbeamte schüttelte den Kopf. »Der nächste Zug geht erst in anderthalb Stunden.«
»George, ich fahre in anderthalb Stunden nach Hause.« Er gab ihm seine Brieftasche. »Nimm zwei Karten. Erster Klasse.«
Die Ruhe des Sitzens hatte ihn ein wenig zu sich gebracht. Der Arzt zuckte die Schultern: »Warten Sie noch mit dem Kartenkaufen. Wir wollen sehen.« –
Herr Kortüm war eingestiegen. Er lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf den Polstern. Stannebein war völlig nüchtern geworden und murmelte vor sich hin. Der Arzt hatte Kortüm nur mit Bedenken fahren lassen. Kortüm hörte nicht, was Stannebein murmelte. Sehr hörenswert war das auch nicht – eigentlich nur eine lückenlose Kette von Seemannsflüchen brachte er zutage. Als nämlich der Zug Trebbin passierte, wollte Stannebein seinem Herrn die leichte Wolldecke auf die Füße legen, griff ins Gepäcknetz und bemerkte, daß sie als einziges Reisegepäck ein Opernglas mit sich führten, welches übrigens nicht ihnen, sondern dem Logenschließer an der Tür vor Reihe acht im Parkett rechts gehörte. Mantel und Hut hingen im Fundbüro des Theaters. Der Koffer stand im Hotel Exzelsior. Kortüm war schon einmal unter Zurücklassung des Gepäcks abgereist, aber damals als ein Sieger, als der Herr des Marktplatzes von Jena. Auf dem Gendarmenmarkt zu Berlin hatte sich heute nacht bei Kortüms Abgang kein Beifall hören lassen, kein Trompetenschmettern. Ein Schutzmann mußte bemüht werden, um Kortüm in den Wagen zu helfen.
»George, in der Deckeltasche des Koffers, links, steckt meine Arzneiflasche. Bitte.«
»Herr Kortüm . . . verdammig, den Koffer hab ich in der Aufregung vergessen. Wir reisen ohne allens.«
»Ohne alles. So so. Wie der Mann in der Richtfestgeschichte. Die 695 hat mir der Klaus Schart geschrieben. Und Konstanze hat sie gelesen. Ja, es reist sich angenehm ohne alles, wenn es von Hause weggeht. Wenn ich aber ankomme morgen früh und sage: ohne alles – so ist das eine erbärmliche Rückkunft.«
»Wir sind nicht vor Abend da«, tröstete Stannebein, »der Zug hat überall keinen Anschluß.«
Kortüm war tief ermüdet. Er sinnierte weiter für sich: »Morgen abend? Was ist der Unterschied – einmal fällt der Schatten nach links, und dann fällt er nach rechts.«
»Wir haben Mondlicht, wenn wir ankommen, Herr Kortüm.«
»Mich fröstelt's«, sagte Kortüm. Stannebein zog seine Jacke aus und deckte seinen Herrn zu, wie sich's eben machen ließ. »Mondlicht . . . Ja, Windhebel sagt, Monduhren gäbe es nicht. Schade. Gerade wenn die Sonne fort ist, muß man zuweilen die Stunde wissen, in der man lebt.«
»'s is gleich um drei, Herr Kortüm. Nich mehr lange, dann wird's hell.«
»George, wenn wir ankommen, holst du mir gleich Monich herauf. Haha, der wird Augen machen, wenn ich ihm erzähle, wie sie Theater gespielt haben in Berlin.«
»Was es da zu lachen geben soll für Herrn Monich, weiß ich je nu nich.«
»Aber ich. Er wird sich über meine Grabrede freuen.«
»Was – wird'r?«
»Endlich habe ich den Schluß. Doktor Windhebel hat ihn nicht gefunden. Aber ich! Nimm einen Bleistift, George. Weißes Papier ist da in meiner Rocktasche. So. Nun genau nachschreiben, was ich sage. Also: – Punkt. Großes P und S, Stannebein. Das heißt post scriptum. Hast du's? Weiter: Eine Grabrede, liebe Trauergemeinde –«
»Was soll ich schreiben?«
»Schreib!« Kortüm wiederholte die Worte und fuhr langsam fort: »Eine Grabrede ist zugleich ein Richtfestspruch. Das Haus steht fertig. Wir haben es geschafft. Setzen wir denn den Richtkranz! Lange Bänder dran, fröhlich flatternd und schön bunt, liebe Trauergemeinde! Und sagen wir nun den dritten Richtfestspruch, den endgültigen! Ja, drei sind nötig gewesen. Der erste mißlang unserem lieben Entschlafenen. Der zweiten Richtfestrede aber fehlte bis zu dieser Stunde der Schluß. Nun ist der Schluß gefunden. Der Richtfestschreiber hat das Ende der Geschichte dem Bauherrn persönlich vorgespielt auf dem 696 Gendarmenmarkt – höchst sinnreich und sehr tief: du lebst, solang du baust. Solange du bauen kannst, bist du am Leben, denn wenn du's Haus verlierst und seine Türen sich dir schließen – die Steine her, Gebälk und Mörtel, du fängst neu an. Dann wieder neu. Und wieder neu. Du lebst und legst die Kelle nur beiseite . . .« Kortüm schwieg hier eine Weile, dann fuhr er fort: »– wenn du am Ende nicht mehr weißt, für wen du mörtelst. Wer die Freunde verloren hat, soll nicht mehr bauen. Denn sonst baut der ein leeres Haus, das widerhallt von seinen eignen Schritten. Dachdecker! Ans Werk. Deckt zu. Kortüm will seine Ruhe haben.«
Stannebein steckte den Bleistift ein: »Nich'n Wort schreib ich mehr, Herr Kortüm. Jetzt liegen Sie ganz stille da.«
Kortüm sah aus, als wollte er wirklich endlich Ruhe haben.
Von den Ereignissen, die nun kamen, wurde nicht nur im Schottengelände gesprochen durch Jahre und Jahre. Das ganze Land horchte auf. Niemand vermochte die dunklen Vorgänge zu erklären, nicht einmal die Staatsanwaltschaft; die beiden einzigen Wissenden antworteten auf keine Frage. Aber auch mit seinem bisher letzten uns bekannt gewordenen Unternehmen verbreitete Herr Kortüm nichts als Segen und Wohlfahrt. Der »Besenröder Anzeiger« wurde eine vielgelesene Zeitung, wahrhaft fruchtbarer Anzeigenboden für Herrn Menger. Das »Esperstedter Tageblatt« hielt sogar das Hotel Exzelsior in Berlin. Brachten doch diese beiden Organe laufend die neuesten Gerüchte über Herrn Kortüm.
Seine denkwürdigste Geschichte erzählte Herr Kortüm diesmal nicht behaglich unter der Palme im Konversationsraum auf dem Sofa sitzend, Rotwein schlürfend und Brasiltabak rauchend; er lebte dem Lande die unerklärbare Geschichte vor, und der weiße dänische Fünfmaster an der Insel Tristan da Cunha tief im Süden des Atlantik bedeutete wenig gegen Herrn Kortüm.
Stannebein beklagte beim Umsteigen in Saalfeld und beim Aussteigen in Besenroda nicht mehr, daß der Koffer in Berlin geblieben war. Um Gepäck konnte er sich nicht kümmern. Die beiden 697 einzigen Stücke, das Opernglas und das Postskriptum der Grabrede, konnte er in der Tasche unterbringen. Seine freien Hände brauchte er für Herrn Kortüm, der sich jetzt ganz auf ihn verlassen mußte. Rasch und ohne Stöße brachte das Auto die Reisenden auf die Schottenhöhe. Jetzt hätte Kortüm die glatte Betonstraße gelobt, wenn er derlei Zusammenhänge noch beachtet haben würde. Aber noch war die Lohberghöhe zu überwinden. In Stannebeins Matrosenarmen spannten sich holzharte Muskelfasern. Sanfter als Sänften trug George heute nacht die Last den Berg hinauf. So kam denn Kortüm zuletzt heim ganz ohne Maschine. Zuallerletzt trägt den Menschen der Mensch.
Die Haustür war verschlossen. Stannebein trat mit dem Absatz vor die Tür: »He! Hallo!« Stannebein trommelte an die Türe. Oben klappte ein Fenster. Lotte warf einen Mantel um, lief die Treppe herunter. Die Schlüssel rasselten, die Tür ging auf: »Lieber Gott.«
Am Treppenabsatz stand Hedchen im Hemd und sah mit großen Augen, wie der große Herr Kortüm nach Hause kam. Im Schlafzimmer weinte der Junge.
»'n Arzt holn«, keuchte Stannebein.
Endlich lag Herr Kortüm auf seinem Bett. Ein unendliches Friedensgefühl durchströmte ihn; nun macht alle, was ihr wollt.
»Gott sei Dank, daß wir keine Gäste haben«, dachte Lotte, fuhr in die nötigsten Kleider, trieb die Kinder ins Bett: »Gar nichts weiter ist. Herr Kortüm hat es bloß wieder auf der Brust. Gleich kommt der Doktor, und 's ist wieder gut.«
Der Mond beschien den Lohbergpfad. Wie ein Vogelschatten huschte Lotte zwischen den Baumstämmen hin, abkürzend, so rasch sie konnte. Sie riß am Portal des Sanatoriums die Klingel. Zweimal. Dreimal. Es dauerte seine Zeit, bis der Hausknecht munter wurde. Zeit verging, bis er Licht und Schlüssel und Türe fand. Und Zeit verging, bis die Frau Doktor in ihrem Schlafrock erschrocken auf der Treppe stand: »Aber Frau Wingen. 's war doch schon wieder alles gut! Mein Mann? Ja, der ist in Esperstedt. Zu einer Entbindung.«
»Bitte telephonieren Sie!«
»Bei Rickelts ist er. Die haben kein Telephon. Er muß aber jeden Augenblick wiederkommen.«
Wiederkommen . . . Lotte hatte den Tod und seine Lebensart kennengelernt. Sie rieb mit der Hand das Stück Treppengeländer blank, an dem sie sich festhielt. »Ich laufe selber hin«, sagte sie, »bei Rickelts in der Gänsegasse?«
698 »So schlimm ist es?« Aber Lotte war schon zur Tür hinaus.
Mimi stand auf dem Treppenflur allein. Wer ist nun bei ihm? dachte sie. Niemand. Bloß der grobe Kerl, der Matrose. Aber ihr Mann mußte doch gleich kommen. Sie trat ans Flurfenster. Das Auto war in ein paar Minuten oben. Wenn er nur erst weg konnte von Rickelts! Im Mondlicht sah sie Frau Wingen das grellweiß beschienene Betonband entlanglaufen. Jetzt verschwand sie hinter den Tannen . . . Eine Viertelstunde verging. Sie weckte den Portier. »Kellert, Sie müssen sich anziehn!« rief sie durch die Tür. »Rasch! Aufs Lohberghaus. Herr Kortüm ist krank geworden.« Mimi holte auch Frau Wissel aus dem Bett, die Wirtschafterin.
»Gleich, Frau Doktorn. Gleich.«
»Und schicken Sie den Hausknecht zu Monich hinunter. Er soll zu Kortüm raufgehn. Vielleicht steht's schlimm mit ihm.«
»Ehe die Leute in Gang kommen«, schalt sie und zog sich an. –
Stannebein hatte das Licht eingeschaltet. Die Lampe blendete den Kranken: »Mach sie aus, George. Dort, den Leuchter.«
Die Kerze brannte. Stannebein suchte nach Wasser.
»Da haben wir's« – die Kanne war leer. Niemand hatte Kortüm heute zurückerwartet. Der Wasserträger fehlte eben einen Tag.
»Da muß ich in die Küche.«
»Nicht, George. Hole frisches.«
In mächtigen Sätzen eilte Stannebein den Pfad hinab zur Quelle. Ruhe, hätte Kortüm gesagt, langsam, George. Es geht uns schon besser. Beinahe gut geht es uns. Ah, das eigne Bett.
Kortüm sah ihn nicht laufen. Er lag still, ganz still, lächelte. Das Liegen im Halbdunkel beruhigte ihn. Der Atem begann die Sperre zu überwinden. Ganz fein erst, ein winziger Faden Luft, sickerte der Lebenshauch wieder durch den gequollenen Riegel in der Brust. Wieder ein wenig mehr Luft, noch tiefer, beinahe schöpft es voll . . . es wird, nur Ruhe.
Schon die besorgte Hilfsbereitschaft rings um ihn beruhigte – da lief einer für ihn, dort rannte Frau Wingen. »Man ist noch nicht allein.« Seine Blicke glitten über die vertrauten vier Wände, über die Geräte, die ihn groß und glänzend im milden Kerzenlicht umstanden und sagten: alter Kortüm, wir sind da. In Gedanken ging Kortüm durchs Zimmer, an den Schränken hin. Wie hell geschabt die Schreibtischplatte; man hat manches gerechnet an dem Tisch . . . Sein Geist 699 war schon wieder beweglich. Er zog die Schublade in Gedanken auf: dort liegt das Bargeld, da die Verträge und – oh, hier haben wir das Testament und die Grabrede. Kortüm stützte sich auf den Ellbogen. »Das Testament ist gut, aber die Rede – wo hat George den Schluß der Rede hingelegt?« Kortüm richtete sich höher, sah sich im Zimmer um. »Das Papier muß in die Mappe.« Kortüm stand vorsichtig auf. Da lagen die Zettel zerknüllt. »George . . . ein braver Mann, aber der Sinn für Papier geht ihm ab.«
Er bückte sich, wendete den Oberkörper. Plötzlich hatte Kortüm das Gefühl, als ob das Licht weiterrückte. Er drehte sich, das Licht drehte auch, Kortüm wollte ihm folgen, das Licht schoß in Kreisen um ihn herum. Kortüm griff nach der Kerze, griff fehl, schlug im Fallen beinern hart mit dem Kopf auf die scharfe Ecke des Tisches und blieb leblos am Boden liegen. Die Papiere flatterten über Tisch und Teppich. Dann blieben sie auch liegen.
Der Flur im Lohberghaus war hell erleuchtet. Lotte und Stannebein hatten den Schalter auf Licht gedreht stehen lassen. Als Stannebein mit der Wasserkanne in das halbdunkle Zimmer kam, erblickte er im schwachen Kerzenlicht zuerst nur die weiße Papiersaat am Boden. Das Bett – – »Herr Kortüm!«
Er sah ihn leblos liegen, riß den Leuchter vom Tisch, ließ den Schein auf Kortüms Gesicht fallen. Lange sah Stannebein in das Antlitz des Mannes, der ihn ins Haus genommen hatte, als ihm seine Heimat in einem künstlichen See ertränkt worden war. In solche ruhevollen Gesichter hatte der altgediente Matrose schon manches Mal gesehen. Er stellte langsam das Licht auf den Boden. Er faßte Kortüm, hob ihn – Kortüm war plötzlich so schwer, daß Stannebein ruckte und alle Kraft zusammennehmen mußte. Er legte Kortüm auf das Bett.
Draußen klangen gedämpfte Stimmen. Geschäftig wollte Mimi ins Zimmer treten. Hinter ihr hob Kellert den Kopf, um was zu sehen. Frau Wissel drückte sich in der Tür an der erschrocken stehen gebliebenen Frau Doktor vorbei: »Ach . . .«
»Wenn 'n Doktor so spät kommt«, sagte Stannebein.
Frau Wissel hob den Leuchter, Mimi trat ans Bett. Sie sah Stannebein an, aber der Kerl stand wie ein Klotz, den Mund vorgeschoben, rührte sich nicht.
Die Doktorsfrau winkte den Leuchter näher, blickte Kortüm in die weitoffenen Augen, sie faßte auch nach dem Puls, stand eine Weile unbeweglich. Dann trat sie zurück. »Nun kommt er zu spät« – sie senkte 700 ihren Kopf ein wenig auf die Seite und faltete die Hände. Kellert und die Wissel starrten schweigend den Mann auf dem unordentlich zerwühlten Bett an. Dann falteten sie auch die Hände. Das Licht flackerte. In der Stube war Totenstille. Stannebein schob langsam die Fäuste in die Hosentaschen.
Die Haustür schlug. Schritte. Ächzend tappte jemand auf Filzsohlen die Treppe hoch. Man hörte Monichs Stimme knurren: »Verdammte Reiserei, verdammigte. Nu geht's wieder von vorne los.« Jetzt hatte er den oberen Flur erreicht. Die Tür ging auf.
Ohne Kragen, in Hausschuhen, den Rockkragen hochgeklappt, erschien Monich im Türrahmen. Helles Licht flutete herein. Monich blieb auf der Schwelle stehen, zog verdutzt die Tür hinter sich zu, sah von einem zum andern. Er trat einen Schritt ins Zimmer, erblickte Kortüm. Monich sah Mimi an . . . sie nickte nur ein paarmal langsam mit dem Kopf.
Monich stand eine gute Weile unbeweglich. Dann setzte er sich auf den Bettrand.
Keiner regte sich.
»So hast du dir das gedacht, Kortüm . . .« Er fuhr mit seiner Hand über Kortüms Hand. Knöpfte den oberen Knopf an Kortüms Weste zu, alles ganz langsam.
Mit Schweigen ging wieder eine Zeit hin.
Die Frau Doktor tauchte ein Handtuch in das kalte Wasser, faltete das Tuch und legte die Kompresse auf Kortüms Stirn. Monich sah in Kortüms Augen und schüttelte den Kopf. Mimi seufzte: »'s ist doch was getan.« Zu ihren Leuten sagte sie leise: »Wartet, bis mein Mann kommt. Räumt draußen ein bißchen auf.«
Sie ging. Frau Wissel begann, die Papiere aufzulesen. Ein weißes Blatt nach dem andern verschwand vom Fußboden. Stumpf sah Monich zu. Die Frau ging nicht gut um mit dem Papier.
»Weg da, Wisseln!« Monich nahm ihr die Schriftstücke aus der Hand. »Seht draußen nach. Wer hat'n den Schrank aufgerissen?« Er bückte sich nach den Papieren. Die Wissel und Kellert gingen auf den Zehenspitzen hinaus.
Monich blätterte in den Schreibereien, ohne Buchstaben zu lesen: »Kortüm . . . gucke mal; was er sich alles aufgeschrieben hat . . .« Wieder saß er eine Weile auf der Bettkante und sah seinen Freund Kortüm an. Er schüttelte nur den Kopf von Zeit zu Zeit. »Stannebein!«
George gab einen Laut des Verstehens von sich.
701 »Stannebein, gib mir seinen Schreibtischschlüssel her. Wer weiß was das für Papiere sind.«
Stannebein schluckte erst ein paarmal, dann suchte er in Kortüms Tasche den Schlüsselbund. Monich öffnete den Tischkasten, aber er legte die Papiere nicht hinein. Mit großen Augen nahm er den obenauf liegenden Brief heraus und las halblaut: »An August Monich. Sofort öffnen im Falle meines Todes. Kortüm.«
Nach allen Seiten wendete er den Brief: »Je ja . . . Stannebein . . . hat'r noch was gesagt?«
Der Diener zuckte die Schultern: »Ich habe Wasser unten geholt und hab'n dann so gefunden. Auf dem Fußboden. 's letzte, was er zu mir gesagt hat, eh' ich ging, war: Hole frisches.«
»Frisches« – tief seufzte Monich auf – »Stannebein, 's is nich viel mit uns. Da lebt einer un lebt, un auf einmal, wenn er an nischt denkt . . . hm. Stannebein, aber warum man lebt? Je.«
Der Matrose schloß Monichs unvollendete Betrachtung über das Leben mit einem halbzerdrückten Matrosenwort. Monich sah ihn betrübt an: »Stannebein, schämen Sie sich.«
»Nee.«
Sie schwiegen.
Dann begann Monich wieder: »Da sitz ich. Un da liegste, Kortüm. Un was hab ich? 'n Brief . . .«
Wieder verging eine Zeit.
»Stannebein, ich rede gerne mal ein Wort. Aber ich kann keins mehr reden. Nich eins. Nu gefällt mir's auch nich mehr.«
Er stand auf, ging Schritt für Schritt zur Tür. »Ich komme nachher wieder rauf.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Je, was hab ich 'n nu? Den Brief hier hab ich. Sein Sie stille, Stannebein. Sagen Sie nischt.«
Monich ging und redete vor sich hin: »Nee. Nee, ich sage nu nischt mehr. Kein Wort. 's is je alles . . . Je.«
Am Schottenhang, wo die ersten Besenröder Häuser anfangen, steht eine Bank. Monich setzte sich. Die Ilm plätscherte und gurgelte leise hinter den Erlenbüschen.
»'ne warme Nacht. Welchen haben wir'n heute: 'n dritten. Je, Monich, das hast du dir am zweiten nich denken können.« Monich begann die erste längere Unterhaltung mit sich selbst in seinem Leben. Die Anworten, welche die Ilm gibt, der Morgenwind oder ein 702 Grashalm, genügten wohl dem Herrn Kortüm. Monich hörte diese Antworten auch, aber er verstand sie nicht. Und Kortüm übersetzte sie ihm nicht mehr. August Monich ließ den Kopf hängen und sah die Erdkrümel an, scharrte sie ein wenig mit der Schuhsohle auf – diese schwarzkrümelige fruchtbare Erde, die Leben verschlingend das Leben gebiert, dem Tod antwortet mit Geburt.
Auf dem engen Flur im Hause des Gemüsehändlers Rickelt stand Lotte Wingen. Sie hatte schon zweimal an die Wohnstubentür geklopft, und zweimal hatte sie Rickelt angefahren: »Ja doch.« Die Küchentür ging auf. Ein Mädchen lief mit einem dampfenden Wassertopf die Treppe hinauf. Die Hebamme rannte mit Tüchern. Jetzt faßte Lotte die Frau fest am Arm: »Frau Lämmel, is denn nun der Doktor bald fertig?«
»Bei uns geht's heute auch um Leben un Tod, Frau Wingen. Laufen Sie doch zu Doktor Stemmlern.«
»Der is ja über Land auf Praxis!«
»Je lieber Gott, so is es mitm Menschen. Einer kommt, einer geht.«
Verzweifelt setzte sich Lotte auf die Holztruhe im Flur. Sie stand wieder auf und ging hin und her. Dann stieg sie ein paar Treppenstufen hinauf, horchte, kehrte wieder um auf halbem Weg. Sie öffnete die Haustür. Alles dunkel und still draußen. Die Standlampen des Langloffschen Autos beleuchteten schwach ein Stück leerer Straße. Kein Mensch zu sehen.
Oben schrie ein Kinderstimmchen, ein hilfloser Tierlaut. Quälende Unruhe trieb Lotte von der Straße in den Flur und wieder auf die Straße. »Eins kommt, eins geht«, flüsterte die Frau vor sich hin. Sie sah am Haus hinauf. Dunkel die Fenster. Die Schlafstube lag auf der Hofseite. »Lieber Gott, es jammert, wenn's in die Welt kommt und wenn's mühsam sich wieder losmacht.«
Monich hatte nicht den Trost des ewigen Zuges vor Augen, des scheinbaren Kommens und Gehens – wie auf der Bühne verschwinden sie links und kommen rechts wieder herein. Der endlose Zug, Lamento mit Kränzen und Reden links, Geburtstagswünschen und Blumensträußen rechts. Monich saß auf der Bank, kein Menschenlaut, kein Tierlaut in dieser Stunde. Selbst die Blätter regten sich nicht. Die Nacht war warm. Es fiel kein Tau. Hier fragte den Monich wenigstens keiner, ob es denn wahr wäre. Ganz allmählich nur wurde ihm klar, was geschehen war. »Nee nee, nu mach' ich mich am besten auch 703 marschfertig«, murmelte er, stand auf und setzte sich wieder hin. »Die Zeit geht hin. Wie sie hingeht . . . Als Kortüm zum erstenmal in meinen Laden kam, das war in dem Jahre, als sie die Ilmbrücke bauten – da kam er un fragte, wem das Land da oben an der Esperstedter Straße gehörte, un wie er da groß auftrat, un ich ihm antwortete: so einfach is das hier nich. Da kann man nich bloß die Brieftasche rausziehn un die Tausendmarkscheine aufblättern. Je ja . . . die langen Jahre.« Monich ließ dieses ineinandergewickelte verknotete bunte Garn der Erlebnisse ablaufen wie ein Knäuel, bis er die leere Spule sah. »Un was übrig is, das bin nu ich.« Er sah den Brief in seiner Hand an. Zum Lesen war es zu dunkel. Was da wohl drin stand? »Hat Zeit«, dachte Monich, »nu hat ja gleich alles Zeit für Kortüm. Nu eilt gleich nischt mehr. Nu können auch die Leute reden, nu können sie sagen, was sie wolln, nu laß ich sie ruhig zu Worte kommen.«
Nur einen ließ Monich nicht zu Worte kommen, ehe er den Brief öffnete in dieser Nacht: den Doktor Langloff. Der war ja auch immer noch in Rickelts Wohnstube.
Die Ankunft des kleinen Esperstedters verwirrte den Abgang des großen Kortüm heillos.
Nur billig war es, daß der Vater Rickelt vier Wochen später seinem Sohn in der Taufe die Vornamen Friedrich Joachim gab.
Aber der ungefragte Pate lag auf dem Bett mit steinernem Gesicht, und wer so weit ist, dem genügt ein Heilgehilfe vom Schlage Stannebeins. An kalten Kompressen ließ er es nicht fehlen. Was sollte er auch tun . . . ganz allein. Mit dem tropfenden Tuch in der Hand stand er still, verwünschte den Doktor nicht mehr, warf das Tuch klatschend in die Ecke. »Laß . . .« Er sah Kortüm an. Das Licht flackerte, sonst hätte er geglaubt, das Augenlid Kortüms zuckte. Er drehte das große Licht an. Nein.
»Die Doktors«, knurrte er. Wo sind sie, wenn man sie braucht? Na ja, an Bord hatten sie auch keinen gehabt. Wenn einer so dalag – Zähne auseinander, Zunge raus, mit den Armen pumpen, so wurde es ihnen beigebracht auf der Seemannsschule. Stannebein horchte nach der Treppe. Nein, das waren die beiden draußen beim Aufräumen. Was bloß die Wisseln zu kramen hat mit dem Kellert. Der Doktor kam nicht. »Nee«, sagte Stannebein, »die Zähne auseinander.« Manchmal hat das geholfen. Nun die Zunge raus. Mit dem Bettuchzipfel ging's. Stannebein war nicht zaghaft. Und nun den einen Arm über den Kopf heben. Zurück. Den andern hoch, zurück. Im Takte, wie eine 704 Maschine. Besser als danebenstehn und nichts tun. Die Minuten rannen hin. »Was das Pack da draußen zu schwatzen hat«, murrte er im Takte. Der Schweiß trat Stannebein auf die Stirn. Immer weiter, im Takte. »Da sind bloß Männerkleider drin«, hörte er die Wisseln draußen sagen. »Jetzt schmeiß ich sie naus«, sagte Stannebein, ließ Kortüms Arm los; da sah er, daß die Zunge in Kortüms offenem Munde sich ein wenig krümmte, der Mund ging langsam zu, öffnete sich einen winzigen Spalt breit wieder. Stannebein fuhr mit dem Kopf vor, starrte nahe in Kortüms Gesicht. Das war wie ein Hauch. Manchmal kommt das aber von selber, ohne Leben . . . nein Kortüms Westenknopf hob sich, senkte sich. Mit einem Schwung über das Bett kniete Stannebein über seinem Herrn, drückte die stopplige Wange an Kortüms Gesicht . . . Kortüm atmete. Jetzt schloß er die Augenlider. Nach einer Weile legte Kortüm den Kopf auf die linke Seite, wie er im Schlafen lag. Auf dem Kissen war ein Blutfleck. Stannebein fühlte: bloß vom Schlag auf eine Kante. Wie eine Katze sprang der vierschrötige Matrose vom Bett. Den Lappen – die Wasserkanne war leer. Er riß die Türe auf: »Kellert! Hol frisches Wasser. Aber los, he.«
»Nu nu«, sagte der Portier.
Die Tür schlug zu – der Matrose hatte keine leichte Hand.
Kortüm öffnete die Augen, die Lider zitterten. Stannebein drehte den Schalter. Das milde Kerzenlicht hüllte mehr ein, als es beleuchtete. Es sah fast aus, als ob Kortüm lächelte. Nein, er verzog nur den Mund.
»Der Kerl bringt gleich frisches Wasser«, versuchte Stannebein zu flüstern in seinem Knurrbaß. »Ich gehe nich noch 'nmal«, setzte er hinzu.
Hatte Kortüm das verstanden? Er blickte Stannebein mit klaren Augen an. Er drückte ein paarmal den Kopf ein wenig nach hinten.
»Weiß schon« – Stannebein schob noch ein Kissen unter den Kopf. Aber Kortüm schien noch nicht zufrieden.
»Noch höher?«
Herr Kortüm saß fast im Bett.
Und jetzt öffnete er den Mund und holte Atem. Tief. Immer wieder. Er zeigte nach dem Fenster. Stannebein riß es auf. Die kühle Luft der letzten Nachtstunden strömte herein. Kortüm saugte sie in sich.
»Meine Tropfen, George. Dort.«
»Er red' . . .«
»Auch das andere Fenster«, sagte Kortüm und richtete sich höher.
705 Auf dem Flur draußen war eine Frauenstimme zu hören: »Nu wart ich nich länger, Kellert.«
»Rufe Frau Wingen herein, George.«
»Die is in den Ort 'nunter nach dem Doktor gelaufen. Da draußen, das is die Wisseln.«
Man hörte die Frau auf dem Flur fragen: »Ham Sie'n 's Wasser geholt?« und Kellerts Antwort: »Wozu 'n? Kortüm braucht keins mehr. Un der Matrose kann sich 's selber holn.« Stannebein machte eine jähe Bewegung zur Tür, Kortüm hielt ihn am Arm: »Laß. Es ist schön, wieder reden zu hören, George.«
Aber die Frau auf dem Flur draußen sprach schon weiter, gedämpft, doch jedes Wort verständlich: »Kommen Sie denn nu mit, Kellert?« »Je«, antwortete der Portier, »gucken Sie bloß. 's steht viel rum in der kleinen Holzbude hier oben. Wie vollgestoppt. Was denken Sie'n, Frau Wisseln, wer das nu 'nmal kriegt?« »Aber Kellert, wer denn wohl! Die Frau Doktern.« – »Alles? Hm. 'n schöner Schrank. Grade so ein' könnt ich brauchen.« – »Die Doktern hat je selber 's Haus voll. Vielleicht verauktioniert sie's.« – »Täten Sie mit bieten, Frau Wisseln?« – »Wissen Sie, Kellert, ich bin eben so 'n bißchen rumgegangn im Hause. 's is manniches hier. Haben Sie das Porzellan angeguckt?« – »Im Buffet? Nee.« – »Der Schlüssel steckt. Gucken Sie mal nein. Sehn Sie mal hier das Muster mit den Rosen.« – Man hörte Kellert leise durch die Zähne pfeifen und nun sagen: »Nehmen Sie das etwa mit?« – »Nu mit, Kellert, ich will mir's unten nur 'nmal 'n bißchen in Ruhe ansehn.« – »Da kann ich aber nur sagen: die Kledasche hier vom alten Kortüm un die Unterwäsche, wie aus'm Laden, sehn Sie? Die tät ich mir gönnen.« – »Kellert, ins Grab nimmt keiner was mit.«
Die Tropfen hatten Kortüm etwas geholfen. Was ihn aber gestärkt hatte in seinem Leben von je, das war der Zorn. Während der Zwiesprache der beiden Menschen da draußen, die eine Musterung seines Eigentums vornahmen, richtete er sich immer höher auf. Kortüm sah im Geiste eine große niedrige Stube, einen Mahagonitisch, rauchende Menschen, die anfaßten, beschmierten, was einem Toten heilig gewesen ist. Kortüm schüttelte den Finger im Ohr, es rauschte so – war das wohl das gröhlende Lachen in Erdmuthes alter Stube? Nein, das Blut rauschte. »George –«
»Jetzt schlag ich'n die Zähne in die Fresse –«
»Still, horch, George!«
706 Vom unteren Flur herauf war die leise Frage der Wissel zu vernehmen: »Kellert, haben Sie'n nich 'n Korb gesehn? Oder 'ne Pappschachtel?«
»Hilf mir aufstehn, George.«
»Hinlegen, Herr Kortüm. Ich mache's schon. Momentchen. Jetzt sollen Sie Ihre Freude haben. Die beiden brechen alle Rippen im Nausfliegen.«
Kortüm winkte nur mit der Hand: »Laß die. Lohberg, Gendarmenmarkt – was ist der Unterschied? George, ich will nicht mehr.« Er legte sich in die Kissen zurück, schloß die Augen.
»Nich aufregen, bloß nich wieder aufregen!«
Kortüm lächelte: »Nein, George.« Er lag eine Weile ruhig, atmete tief. Dann sagte er: »In meinem Schreibtisch links, die Mappe –« Kortüm unterbrach sich. Man hörte Kellert und die Wissel auf dem Flur gehen. Jetzt schlug die Haustür.
»So, Freund« – er blieb ruhig liegen, atmend, die Augen geschlossen – »die sind fort, das Haus ist sauber. Hast du die Mappe?«
»Die hier?« Kortüm blätterte die Papiere nach, nickte. »In dem Fach liegt ein Doppelschlüssel . . . das ist er. Schließ das Stahlkästchen auf, hinter den Ordnern steht es. So. Gib mir das Geld her.« Kortüm barg die Scheine in der Brusttasche. »Und meinen Paß, George. Deine Papiere liegen im Fach drunter. Steck sie ein.« Kortüm richtete sich wieder hoch, verwahrte die Papiere in der Mappe: »Die Mappe trägst du.«
»Herr, wollen Sie sich den Tod richtig holen?«
»Hilf mir auf.«
»Nee!«
»Unterm Arm anfassen. So. Es geht. Haha. Nun faß wieder an. Komm.«
Kortüm konnte sich auf Stannebein gelehnt ganz gut forthelfen.
»Herr Kortüm, ich lasse Sie jetzt los!«
»Die Treppe ist nicht gut gebaut. Faß fester. Ist ja nichts. Bin nur gefallen. Unglücklich gefallen. Nein. Nicht unglücklich. Glücklich, George! In Berlin traf's böser. Hier war es nur die Tischkante. Und die Leute, die erben wollen. Was liegt da? Mein brauner Rock. Den haben sie verloren. Laß ihn liegen. Komm.«
Sie standen vor der Haustür.
»Hast du den Schlüssel? Ach so . . . Frau Wingen. Laß auf. Komm.«
Den Lohbergpfad hinunter ging es schwieriger. Kortüm setzte sich 707 zum Ausruhen auf einen Baumstumpf. »Laß, George« – er klopfte sich auf die Brust – »die alte Barkasse hält noch viel aus. Nur nicht außer Atem kommen.«
»Aber, Herr Kortüm, der Doktor kann doch in jeder Minute da sein. So verfehlen Sie ihn erst recht.«
Kortüm machte sich wieder auf den Weg. Der erste Frühwind rauschte wühlend durch die Wipfel.
»Zum Arzt will ich, hast du gedacht?« – Kortüm blieb stehen – »George Stannebein, dir haben sie Haus und Heimat unter Wasser gesetzt. In deiner Mutter Wochenstube schwimmen jetzt Hechte. Hast du's huschen sehen um meinen Lohberg die Nacht? Ich will nicht mehr hier. Die Gäste gehn zu Ende. Übrig sein zum Schluß mag ich nicht. Auch nicht mit Veilchen in der Hand. Das steht uns nicht zu Gesicht, George. Und geplündert schafft sich das Tagewerk nicht gut. Hast du sie erben hören hinter der Türe? Aber die kamen doch zu spät. Ich bin schon auf dem Gendarmenmarkt versteigert gewesen. Zum ersten, hat der Auktionator gelogen vorm Jahr, als ich ihn nach Frau Schröter fragte. Zum zweiten, die Veilchen haben keine Wurzeln. Und zum dritten – ich habe keine Gäste mehr. Komm.«
Nach wenig Schritten blieb Kortüm noch einmal stehen: »Siehst du den Kirchturm da unten? Da wohnt Monich. Zu dem sagte ich gerne noch: ›Jawohl, alter Freund, haha.‹ Aber dann käm' ich nicht fort. Es wird Zeit. Der Himmel graut schon.«
Kortüm ging an Stannebeins Arm den Außenweg hinter dem Schottenhof entlang, dann ein Stück auf dem Waldpfad an der Betonstraße hin. Nun bog er in den Weg mit den Ruhebänken unter den jungen Eschen ein. Am Ende blieb Kortüm stehen und zeigte auf eine Tafel: »Kannst du's lesen?«
So viel Licht gab der Frühdämmer eben her: »Kor–tüm–weg«, entzifferte Stannebein.
»Da!« – er zeigte wie die hölzerne Weiserhand – »da geht er hin. Weite Wege. Aber wir sind sie gewohnt, George.«
Monich hatte auf seiner Bank gedacht: nun lasse ich sie ruhig zu Worte kommen. Der erste, welcher eine andre Meinung hatte als Monich, war Bilmes. Er stellte den Rechen zur Erde, als er Monich zu dieser frühen Stunde in Filzschuhen und ohne Kragen auf der Bank sitzen sah; er zog aus der Hosentasche ein Birkenholzbüchschen, entnahm ihm eine Prise und sagte: »Nanu. Schönen guten Morgen.«
708 »Je ja, Bilmes.«
»Was denn: jeja?«
»Wissen Sie's schon?«
»Ich komme doch eben erst ausm Bette. Kommen Sie etwa nich ausm Bette?«
»Na, da sin Sie der erste, der's weiß. Kortüm is tot, Bilmes.«
Nach längerem Schweigen schüttelte Bilmes den Kopf: »Nee.«
Monich stützte die Ellbogen auf die dicken kurzen Beine und sah vor sich hin.
»Nee!« wiederholte Bilmes.
Monich seufzte und ließ den Kopf tiefer hängen.
Bilmes schüttelte immer nur den Kopf.
»Ich komme je eben von ihm her, Bilmes.«
»Wenn Kortüm gestorben wäre die Nacht, hätt' ich was gemerkt. Ich seh 'n lebendig.«
Monich hätte sich seine Wissenschaft gerne abstreiten lassen. Bewegt sagte er: »Sie sin 'n Spintisierer un Phantaste, Bilmes. Wenn – wenn Sie's besser wüßten, ach Bilmes – –«. Der Satz blieb unvollendet. Monich stand kurz auf, ging auf die Häuser zu und an Hankes Zaun hin. Das Leben des neuen Tages kam in Gang. Die Fensterladen klappten auf. In der Ferne dengelte jemand die Sense. Der erste Wagen polterte vorbei. Auf Hankes Werkplatz pickte ein Hammer. Monich trat an die Weißdornhecke.
»Noch munter, Monich, oder schon?« rief Meister Hanke und lachte, daß die Straße hallte. Monich sah ihn an und nickte nur langsam mit dem Kopfe. Hanke trat über den Grabstein weg, an dem er meißelte, und kam an den Zaun: »Was hast'n?«
»Vor 'n paar Tagen haben wir alle beide auf Kortüm seine Gesundheit getrunken . . .«
Hanke schmeckte mit den Lippen: »Is es ihm gut bekommen?«
»Besser als mir vielleicht.«
»Fehlt dir was?«
Monich holte Atem: »Ja, Hanke . . . Kortüm fehlt mir, seit heute nacht.«
Monichs Ton und Blick sagten mehr als das Wort. »Aber Monich.«
»Je, Hanke, nu kannst du anfangen.«
»Kortüm is –«
»Tot, Hanke.«
»So schnell is es gekommen? Siehst du, Monich, ich habe für sowas 709 das Gefühl. Aber nu komm nur erst einmal rein. Wie is'n das so plötzlich gekommen?« Er öffnete die Lattentür. Hanke kam ja beruflich nur mit Hinterbliebenen zusammen. Er war im ersten Augenblick von Monichs Nachricht betroffen, weil er vor ein paar Tagen Herrn Kortüm noch frisch und rüstig die Straße hatte entlanggehen sehen, aber Hanke kannte ja die vielen Formen des Todes alle – den kurzen, den langen, den blitzhaften, den gesunden, den sinnlosen, den grausigen, väterlichen, mütterlichen, den pfiffigen Tod. Die unzähligen Masken des großen Verwandlungskünstlers waren dem Meister des Grabmalgeschäftes und Inhaber eines reichhaltigen Sarglagers im Laufe langer Jahre vollzählig bekannt geworden. Er fand sich rasch ins Leben zurück und sagte zu Monich, der wie aus dem Schlafe gerissen auf einem Grabstein saß: »Nu gucke mal. Da hat er sich aber schnell fortgemacht. Was nehmen wir denn nu da?«
»Je . . .« Monich zog Kortüms Brief aus der Rocktasche. »Hier muß alles drinnestehn. Er hat mir einmal gesagt: Monich, ich schreibe alles genau auf. Du weißt je, Hanke, er schrieb doch immer alles auf. Je. Das hier . . . hm, das les' ich zu Hause.«
»Wenn du's hier lesen willst, Monich – ich bringe dir 'n Stuhl. Lies ruhig, Monich.«
»Nee, Hanke. Zu Hause. Aber hier kommt was . . . Grabrede, nee, dabei kann's auch nich sein. Is das aber lang! Hier kommt's. Hier haben wir's. Siehste, da steht's. Gucke mal, das hat er noch selber geschrieben.« Monich ließ den Zettel sinken und starrte vor sich hin. Hanke kannte aus seiner Geschäftspraxis diese jähen Trauerstöße, er wartete taktvoll. »Was hilft's denn, Meister . . . also, lies mit: Ein Meter fünfzig hoch. Ganz glatt. Keine Verzierung. Bloß Inschrift. Un die heißt – schreib dir's auf, Hanke: ›Hier ruht‹ – nu die zweite Zeile: ›Friedrich Joachim Kortüm.‹ Nischt weiter. Aber so was, Hanke. Auch kein Datum. Je . . .«
»Das woll'n manche so, Monich. Jeder hat da seinen Geschmack. Aber das mit dem Stein, das paßt. Sieh dir 'nmal den an. Is das nich 'n schönes Steinichen? Steht er nich da wie aus der Erde gewachsen? Kein Untätchen dran. Un ich brauche dir bloß die Buchstaben neinzukloppen, und fertig is er. Vom Lager weg is immer eine glatte Sache. Du weißt, was du kriegst.«
»Der Stein is gut, Meister« – Monich seufzte und stand auf – »aber daß du 'n setzen mußt, das is nich gut. Na, mach's gut, Hanke.«
»Nu, Monich, wart 'nmal. Da is noch mehr zu reden. Der Stein 710 kostet ohne Fundament, frei Lager, mit Inschrift vergoldet hundertachtzig Mark.«
»Gut, Meister.« Monich griff nach der Türklinke.
»Nee, Monich, wart 'nmal. Da is doch auch noch der Sarg. Wie willst du's denn mit dem machen?«
Auch über den Sarg wurden sie einig. Hanke redete ab von der gewöhnlichen Dutzendware: »Ich sage dir, Monich, das sin heute die reinen Spanschachteln. Das is nischt für Kortüm. Nimm einen soliden. Auf die paar Mark kommt's nu auch nich an, un du kriegst was für die Dauer. Du hast was für dein Geld. Ich sage immer zu meiner Kundschaft: reell is reell, sage ich. Ich habe grade kein Muster davon im Laden. Aber bis heute abend is er an Ort un Stelle. Beschläge sind da dran, Monich! Die Griffe haben zwei Löwenköpfe, un an der Seite Palmwedel, alles auf Silber lackiert – du hast deine Freude dran. Was kann man denn für seine Entschlafenen noch tun? sag ich immer. 'ne anständige Leichenausstattung kaufen.«
»Gut, Hanke, wir machen's denn so.«
Auch über diesen Preis wurden sie rasch einig. Ein Trauernder kargt nicht.
»Also mach's gut.«
»Warte mal, Monich. Da is noch was anderes. Wie machst du's denn mit der Annonce und was sonst zur Aufmachung gehört?«
Monich nickte nur. Der gefällige und tüchtige Fachmann übernahm alles: »Ohne Aufschlag« – das Geschäft war glatt und gut.
»Is gut, Meister. Du rechnest mit mir ab. Is gut, daß du mir das abnimmst. Ich muß nu nach Hause. Du siehst je hier – der Brief. Ich habe 'n Kopp nu anderst voll.«
»Je ja, Monich, wenn nur einer stirbt, da merkt man erst, daß er gelebt hat.«
Inzwischen war Kortüm in Begleitung Stannebeins an der Betonstraße angekommen. Beide waren froh, endlich auf der glatten Bahn weitergehen zu können, als Kortüm plötzlich Stannebein fester am Arm faßte und hinter einen Haselbusch trat. Von Esperstedt her kam ein Wagen. Die Lampen leuchteten flau in die Morgendämmerung.
»Ich glaube, da saß Frau Wingen drin.«
Stannebein nickte: »Der Doktorwagen.«
»George, es fehlt mir ein wenig in den Beinen. Ich muß mich setzen.«
711 »Ich habe 's doch gleich gesagt.«
»Sei still.«
Stannebein kaute an einem Grashalm und sagte kauend: »Da kommt wieder 'n Auto. Von Besenroda 'rauf.«
»Halt es an.«
Stannebein trat in die Straßenmitte, winkte. Der Wagen fuhr langsamer. »Nee«, rief Stannebein, »das is'n Ausländer.«
Auch Kortüm hatte gewinkt. Das Auto glitt noch ein Stück vorwärts, hielt. Ein offener Wagen. Nur der Herr am Steuer saß drin. NL konnten sie am Rückschild lesen.
»Verzeihen Sie die Störung«, sagte Kortüm, »ich fühle mich nicht wohl im Augenblick. Würden Sie mir helfen, zu dieser ungewohnten Stunde ein Stück vorwärts zu kommen?«
Der fremde Autofahrer tat nur einen Blick in Kortüms krankes Gesicht. »Oh«, sagte er in fremdem Akzent und griff rückwärts nach der Türklinke.
Kortüm sank in die Polsterecke.
»Nehmen Sie Decken«, rief der Holländer zurück. Der Wagen fuhr an. Stannebein wickelte seinen Herrn ein. Der Kilometerzeiger stieg. Achtzig, neunzig. Die Frühluft schnitt ins Gesicht. Kortüm zog den Deckenzipfel über sein Gesicht, setzte sich, so tief er konnte, und schloß die Augen.
Hundert, Hundertzehn . . .
Nach einer guten Weile hörte ihn Stannebein sagen: »Jetzt sieh rückwärts, George. Wir müssen bald so weit sein. Von hier aus sieht man die ›Silberne Windfahne‹ noch einmal.«
Stannebein drehte sich um: »Fahne? Nee.«
»Wälder?«
»Rübenfelder. Und drüben links liegt eine Stadt.«
Hundertzwanzig . . . fast hundertdreißig . . .
»Was siehst du jetzt?«
»Felder. Einen Bauer, der schneidt Klee. Und die Straße.«
»Die Straße.«
Lotte klinkte die Haustür auf: »Rasch. Bitte.«
»Liegt er oben?« fragte Doktor Langloff.
»Die Treppe hoch, Herr Doktor. Gleich die erste Tür.«
Langloff war todmüde. Seufzend öffnete er Kortüms Stubentüre, blieb auf der Schwelle stehen und sah sich fragend nach Lotte um. Auf 712 dem Boden lag das Kopfkissen. Ein durchnäßtes Handtuch hing über der Stuhllehne – tropf, tropf, tropf. Die Kerze schwelte in einer Stearinpfütze. An den weit offenen Fenstern blähten sich die Gardinen.
Lotte trat ein. Das Bett leer, der Schreibtisch offen, der Schlüsselbund hing dran. Die Arzneiflasche war umgefallen, die braune Flüssigkeit in das grüne Tischplattentuch gesaugt.
Langloff und Lotte blickten sich an. Lotte legte langsam die Hand aufs Herz.
Das Auge des Doktors glitt noch einmal prüfend durch das Zimmer, dann seufzte er ergeben: »Kortüm.« Worüber wunderte er sich denn? Kortüm, antwortete man auf eine solche Frage, dachte er, und die Frage ist beantwortet, auch die Frage der bis ins Herz erschrockenen Frau Wingen. Noch standen sie reglos auf derselben Stelle, als Doktor Stemmler eintrat. Lotte hatte in der Verzweiflung des Wartens schließlich die Nachtglocke an Stemmlers Haus noch einmal gezogen und gebeten, er möchte doch gleich nach seiner Rückkehr auf das Lohberghaus kommen.
Auch die Kräfte eines Arztes haben Grenzen. Die beiden Herren hatten in dieser Nacht noch kein Auge zugetan – sie atmeten jetzt fast auf.
»Ja, Frau Wingen«, sagte Langloff, »ohne Patienten sind selbst zwei Ärzte machtlos.« Mit einer vorstellenden Handbewegung gegen das leere Bett fügte er hinzu: »Er ist totgesagt, aber trotzdem nicht anwesend – das ist so Kortüms Art.«
»Was fehlte ihm denn, Kollege?« fragte Stemmler.
Schrittweise wagte sich Lotte weiter ins Zimmer, trat an Kortüms Bett, faßte zaghaft die Kissen an. Von der gelehrten Unterhaltung der beiden Ärzte verstand sie wenig; kardiales Asthma und manche andere fremde Worte vernahm sie, aber was half hier Wissenschaft, wenn der ganze Kortüm fehlte?
»Und Stannebein? Wo ist der?«
Vielleicht wußten die Kinder etwas. Sie weckte Hedchen. Das kleine Mädchen hatte geschlafen. Lotte lief durch das ganze Haus, auf den Boden, in den Keller. »Herr Kortüm!« Die Ärzte hörten es in dem leeren Hause rufen, unten, oben, hier, da: »Kortüm! Kortüm!«
Langloff und Stemmler kamen die Treppe herunter. Lotte legte in ihrer Angst die Hand auf Langloffs Arm, hielt ihn fest. »Lieber Gott«, flüsterte sie vor sich hin.
Da ging die Haustür auf. Ein Junge kam herein: »Frau Wingen! 713 Frau Wingen, Sie sollen gleich zu Herrn Monich kommen. Aber gleich. Un fix sollen Sie machen. 's wäre wichtig.«
Langloff lachte: »Da haben Sie's! Vielleicht sitzt der Tote auf Monichs Sofa und trinkt Kaffee.«
»Was wir uns nun auch gönnen wollen«, sprach Doktor Stemmler, »Sie haben eine schwere Nacht hinter sich, wie ich höre?«
Langloff nickte: »Entbindung.«
»Na, und uns hat denn Herr Kortüm ja von unserer ärztlichen Pflicht entbunden.«