Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Als Kortüms Abhandenkommen nicht mehr zu bezweifeln war, bemächtigte sich des Schottengeländes eine ungeheure Aufregung. Als aber der Inhalt seines Testamentes bekannt wurde, schienen die Leute die Läden schließen und einen Redetag abhalten zu wollen. Allein die fahrplanmäßigen Verkehrsmittel bewegten sich noch in gewohnter Weise. Die übrige menschliche Tätigkeit wirkte jetzt im Schottengelände nur scheinbar fort; der Schmied hämmerte beim Reden daneben, der Schneider fand das Nadelöhr beim Horchen nicht, Hiebrich stopfte seine Würste zu dünn, dem Bäcker blieb das Brot sitzen, Lorenz zerschlug mit der Spitzhacke nachdenklich sein frischgemörteltes Mäuerlein. Das 726 Schottengelände gehörte einst uns, sagten die Leute. Kortüm kam, brachte das Land an sich, wandelte es um, machte es lebendig, baute und schaffte, sorgte und mühte sich, befruchtete – geringen Boden, den niemand gekannt hatte. Aber nun sprach alle Welt von diesem Land, es verzinste sich, sog fremdes Geld an, sprühte das Geld den Einwohnern in die Taschen. Kortüm verschwand – und siehe: das Schottengelände ist zurückgekehrt in sich, es gehört Lotten, unsereinem gehört es! Nur lebendig ist es geworden in des fremden Schaffers Händen, reich und wertvoll uns hinterlassen – ja, einer schafft, die andern leben. Wir besitzen, und die Schaffer gehn nur durch – – so redete das Schottengelände. Es fehlte bloß, daß sie ihre Haustüren bekränzten. Einer hielt den andern auf der Straße an und von der Arbeit ab. Nichts und niemand kam voran, nur das Lohberghaus blühte und gedieh. Wie in den Weltstädten tranken hier die Neugierigen schon von morgens zehn Uhr an Kaffee, und abends um zehn tranken sie noch. Der Segen des Dahingegangenen ruhte sichtlich auf seinem hinterlassenen Werk.

Unwiderstehlich sog das Lohberghaus die Gäste aus dem Sanatorium zu sich herauf. Doktor Langloff hatte seinem Vater eine kurze Schilderung der letzten außerordentlichen Begebenheiten gesandt und gebeten: »Besuche uns, sobald du irgend kannst. Die Sache ist nicht geheuer. Kommt Kortüm wieder, ist die Katastrophe da; alle Welt will diesen Mann sehen und bei ihm wohnen. Kommt er nicht wieder, ist es noch schlimmer; Frau Wingen wird Besitzerin, sie ist eine Hiesige, ist nicht fremd wie wir. Die Leute reden schon, als ob das Schottengelände zurückgekehrt wäre in sich selbst – kurz, lieber Vater, ich habe es satt und gehe lieber heute als morgen von hier fort.«

Diesen Brief konnte sich Langloff sparen. Sein Vater hatte die ungeheuerlichen Nachrichten bereits in der Zeitung gelesen. Er saß schon in der Bahn.

Als ihn sein Sohn ins Haus führen wollte, sagte der Alte: »Wir wollen mal erst 'n bißchen im Freien reden. Da weiß man, daß einen niemand behorchen kann.«

Der Doktor vertraute seinem Vater an, daß Mimi ein Kind erwarte und in ihrem Zustand an der Angst leide, den neuen Langloff in dieser Gegend zur Welt bringen zu müssen. Die unheimlichen Geschichten, die ewige Unruhe: »Lieber eine kleine Praxis in Geestemünde, als noch länger hier im Schatten Kortüms.«

Der Kapitän brummte vor sich hin. Sie waren eben um die östliche 727 Hausecke gebogen. Hier war es still. An der Mauer wucherten Brennesseln. Der Alte packte plötzlich den Arm seines Sohnes und blieb angewurzelt stehen. »Da«, sagte er, »da!«

Der Doktor zuckte die Schultern: »Mir ist schon alles gleich. Hanke hat das Ding heute heraufgeschickt. Die Leute haben es da an die Wand gelehnt. Sie wußten nicht, wohin damit. Morgen lasse ich es auf Kortüms Privatfriedhof schaffen.«

An der Wand lehnte ein Grabstein aus geschliffenem Granit. Die Inschrift lautete: »Hier ruht Friedrich Joachim Kortüm.« Kein Wort sonst war in den Stein gemeißelt.

Der Alte las. Er bog mit dem Stock die Brennesseln auseinander, um von den zitternden Blätterschatten ungestört die Buchstaben klar und unzweifelhaft zu sehen.

»Nee du«, sagte er leise, »nich auf den Friedhof. Da steht der Stein dann, und 's ist nichts drunter. Tu 's nicht, mein Junge. Eigentlich is es zum Fürchten. Ich bin sonst kein furchtsamer Mann. 'n Sturm, weißt du, ist 'n großer Wind, und wenn er einen falsch zu fassen kriegt, sackt das Schiff ab. Aber hier oben bläst was, auch 'n Wind, 'n stiller Sturm, ich kann's nich recht sagen – man fühlt's, du?«

Kortüm war fort. Fort, bestätigte das Polizeiamt; Aufenthaltsort unbekannt. Und es bewegte sich doch etwas Kortümsches, hauchte, wehte, wühlte auf, etwas von dem ewigen deutschen Wind, der zum Träumen bringt, was schlafen möchte; stampfend an den Trossen zerren läßt, was ankert; und in Fahrt und Fliegen reißt, was bewegbar ist.

Viele lasen diese Inschrift im Granit, alle lasen die erstaunlichen Nachrichten aus dem Schottengelände in der Zeitung.

Holdermann schüttelte den Kopf: »Nun hängt mein Kortümbild da oben in dem Berghaus. In die Nationalgalerie gehört es.«

Sidonie schob die Kaffeetasse weg und schlug auf das Zeitungsblatt: »Ich habe es gleich gesagt, Ulrich! Du, du erbst nie etwas.«

Frieback schrieb einen Brief mit folgender Anschrift: »An Kortüm Nachfolger, Lohberghaus, Post Besenroda« und stellte die Frage: »Kann ich mit zwanzig Urlaubern trotzdem kommen?«

Der Bälgetreter Wenzel sagte traurig: »Je, Herr Kortüm – wer so stirbt, dem kann ich keine Luft in die Bälge treten.«

Der Küster Bauspack aber sprach zu seinem von dem fehlgeschlagenen Begräbnis heimkehrenden Pastor: »Herr Superndent, dieser Herr Kortüm stand zu Begräbnisangelegenheiten schon immer auf gespanntem Fuße. Das weiß keiner besser als wir in Kranichstedt. Denken 728 Sie bloß an den Brand im Sarkophag. Nee nee, der gogelt 'n lieber an, als daß er sich 'neinlegt.«

Repshagen las und knurrte nur: »Das glaub ich nich.« Das Grand Hotel jedoch erließ im Fachblatt des Gaststättengewerbes einen Nachruf: »Kortüm ist dahingegangen! Wir vermögen es fast nicht zu glauben. Wer entsinnt sich bei dieser Nachricht nicht jener denkwürdigen Stunde auf dem Jenaer Marktplatz, als Kortüm den Preis der Kochfestwoche überreichte und unserem Fest eine so angenehme Wendung gab! Wir erheben uns im Geiste von unseren Plätzen und rufen: Du bleibst unser!«

Utzenstorff las die Nachricht unter der Aufschrift »Rätselhafte Vorgänge im Schottengelände – der verschwundene Tote.« Kortüm! Wenn wir das drehten . . . ! Aber ich drehe es nicht, das ist kein Film mehr. Er hob das Rotweinglas; spiegelte sich nicht die silberne Windfahne darin, das Kerzenlicht einer Silvesternacht? – »Wir lassen es ruhn – Kortüm, wo du auch bist!« sagte er und leerte das Glas.

Windhebel aber fuhr bei der Nachricht aus tiefem Arbeitsrausch auf und rief: »Unbegrabbar!«

Konstanze prüfte noch einmal das Datum der Zeitung: »Ich habe dir's gesagt, Klaus. Es muß Kortüm gewesen sein. Der Logenschließer, dem das Opernglas fehlt, hat mich gefragt, wer der Herr gewesen sein könnte. Der Fremde hat zu mir gewollt. Ich habe ihn mir beschreiben lassen – Kortüm, wie er leibte und lebte.«

»Dann wäre er doch zu dir gekommen.«

Sie spielte versonnen mit Klaus' Bleistift: »Er hat das Flügelhaus einer Frau vermacht, die wirtschaften kann.«

»Einer Frau, die zu Hause ist im Schottengelände; Kortüm gibt zurück, was er von der Erde geliehen hat«, lächelte Klaus.

»Wenn wir das könnten mit unserer Arbeit, du? Die größte der Künste, Klaus.«

»Aber die letzte.«

 


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