Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der Pächter

Eigenhändig öffnete Herr Kortüm heute sämtliche Fenster der Echostube. Dann ging er in die Küche, in die Wohn- und Schlafzimmer, sogar auf den Boden bemühte er sich, und wo Kortüm ein Fenster oder wenigstens eine Luke fand, machte er sie auf, so weit er konnte. Zwischen den weißgrauen Märzwolken hatte er ein Stück zartblauen Himmels entdeckt. Der harte Frühjahrswind konnte ihn nicht beirren, trieb der doch das Gewölk nach Westen und blies endlich den Dunst vor der Sonne weg, die das Schottengelände lange Wintermonate hindurch nicht gesehen hatte. Heute fiel ein erster klarer Lichtstrahl durch die Bodenluke. Herr Kortüm stellte sich auf die Zehen – so muß Noah zum Dachfenster seiner Arche hinausgeblickt haben: der Frühling, ist er da?

Entlegene Dachfenster klemmen oft und knirschen im Rost beim Öffnen. Diese Luke aber ging merkwürdig leicht auf. Herr Kortüm schob das kleine Dachfenster täglich hoch, klemmte mühsam seinen Kopf in den engen Eisenrahmen und hielt Umschau. Sein ganzer Trost war die Luke, und vorwurfsvoll hatte er mehrmals zu Lotte gesagt: »Wir waren zu nachgiebig. Man hat uns übers Ohr gehauen. Ich bin eingemauert. Langloff will mich lebendig begraben. Oder sehn Sie etwas, wenn Sie ein Fenster unten im Hause öffnen, wie?!«

Kortüms Fenster ging ebenso wie das Echofenster der darunter gelegenen Gaststube nach der Goldenen Aue hin. Der Echowirt konnte, wenn ihn die Lust ankam, beliebig weit nach Norden blicken mit seinen guten Augen, aber er sah nur die Aue, manchmal den Brocken, und mit dem ahnenden Blick die Heide dahinter, die Nordsee ganz draußen . . . Was er seinerzeit dem Professor Holdermann gezeigt hatte, das sah er – mehr nicht. Jedoch Herr Kortüm wollte in diesen aufregenden Wochen weder den Brocken kontrollieren noch die Nordsee: den Schottenhof wollte er sehen! Die Südwiese! Das Flügelhausganze! Nichts sah er davon. Die meisten Fenster seines ihm verbliebenen Echobezirks waren nach Norden gerichtet und die paar anderen nur nach Westen, zum Lohberg hin. Aber die Lohberghütte bewirtschaftete er selbst. Dort 516 konnte er jederzeit persönlich erscheinen und nach dem Rechten sehen. Langloffs Flügelhaus, dessen Schottenhof und Südwiese, Wand an Wand und Pfad an Pfad mit ihm, die vermochte er nicht zu betreten. Was trieb dieser Pächter Langloff im Verborgenen? Herr Kortüm nannte den Doktor seit dem letzten Januar nur noch seinen Pächter und lehnte sich beim Aussprechen dieses Titels so vornehm im Stuhl zurück, daß er wiederholt schon Anstoß erregt hatte.

Ja, was plante, dachte und unternahm dieser Pächter! In dem doch immerhin noch ihm, dem Herrn Kortüm gehörigen Flügelhaus hämmerte, stäubte, klopfte es, daß sich der Besitzer zornig fragte, was der Kerl an Schimpf und Schande seinem Besitz wohl antun möge. Der Echowirt besaß ja sein herrliches Arbeitszimmer nicht mehr, das ihm freien Blick nach allen Seiten gewährt hatte wie eine wohlkonstruierte Kommandobrücke. Auf den Boden mußte Herr Kortüm steigen, die letzte elende Dachluke links hinten öffnen und sich auf die Zehen stellen, wenn er etwas sehen wollte. Und was sah er selbst von dort oben! Ein knappes Drittel des Schottenhofes, einen Teil der Flügelhausdächer samt Essen, Blitzableitern und Fahnenstangen – den Ostflügel noch und ein paar Fenster vom Haupthaus. Zu einem klaren Urteil über seinen Pächter reichte dieser Ausblick keineswegs hin. Unruhig ging Kortüm auf dem Boden spazieren. Traurig stieg er die schmale Treppe wieder hinab, trat in seine Stube, stellte sich stumm vor die olivgrün tapezierte Ostwand und starrte diese Wand an. Das war eine seiner neusten Angewohnheiten geworden. Manchmal pochte er auch mit dem Knöchel an die Stelle der Ostwand, wo sein Lehnstuhl stand und von Rechts wegen ein Fenster in der verdammten Mauer hätte sein müssen! Schon konnte man an der Tapete einen dunklen Fleck an der Klopfstelle bemerken. Kortüm war sein ganzes Leben lang einen geraden und offenen Weg gegangen – aber jetzt regte sich in mancher Stunde die Lust in ihm, heimlich ein Loch in diese Wand zu bohren. Freilich war er vertraglich gebunden, keine Öffnung in Richtung des Langloffschen Sanatoriums zu schlagen. Aber ein Guckloch? Die Wände haben Ohren, sagt ein altes Sprichwort. Warum sollen Wände keine Augen haben? Er hatte doch die Pflicht, seinen Pächter im Auge zu behalten. Auf Spaziergängen, die immer mehr einer Schneckenlinie um das Flügelhaus ähnelten, konnte er schon von weitem bemerken, daß der Pächter wichtige Veränderungen vornahm. Die riesigen neuen Schilder mit der Aufschrift »Sanatorium Flügelhaus« beunruhigten Kortüm noch nicht so, wie die bunt bemalten Pfähle, die er alle paar hundert Meter 517 an der schlechten Straße von Besenroda zum Flügelhaus hinaus längs des Straßengrabens eingerammt sah.

Eines Tages brachte Monich Bescheid: »Straßenbauer kommen! Du kriegst 'ne neue Straße zu dir raus, Kortüm!«

Kortüm sah Monich an: »Ich . . . Monich?«

»Nu wer denn sonst – ach so. Je . . .«

»Dieser Langloff bekommt die Straße!« rief der Echowirt.

»Das is nu so, Kortüm.«

»Nein! Es ist so!« donnerte Herr Kortüm und schlug seine braune Mappe auf. »Sieh her: im Lauf der Jahre bin ich fünfmal persönlich wegen der Straße im Provinzialamt gewesen! Dreizehn Eingaben habe ich gemacht« – er suchte ein Papier heraus – »das ist die letzte! Lies sie, Monich. Kann man eindringlicher schreiben? Kann ein Mensch mehr Tatsachen zu seinen Gunsten vorbringen? In wärmeren Worten?«

Monich las den langen Brief. Er nickte immer öfter beim Lesen. Dann sagte er: »Das haste gut geschrieben, Kortüm. Da muß dir jeder, der's liest, recht geben.«

»Aber – wo ist meine Straße geblieben, Monich? Und wo kommt nun plötzlich die Langloff-Straße her, Monich?!«

»Gucke mal, Kortüm, das is vielleicht so – du schreibst: ich brauche 'ne Straße zu meinem Lokal, ich baue um, ich vergrößere, ich brauche nu erst recht 'ne gute Straße« – jetzt zog Monich die neuste Nummer des Besenröder Anzeigers aus der Tasche, entfaltete sie, klopfte mit dem Handrücken auf eine besondere Stelle dieses Blattes und fuhr fort: »Hier steht das auch ungefähr so, wie du das geschrieben hast in deinem Brief. Aber hier steht nichts davon, daß Langloff 'ne gute Straße zum Sanatorium Flügelhaus braucht. Nee, hier liest du bloß: die Provinz braucht sie. Un der Volksgesundheit wäre sie zuträglich. Hä, du bist rumgelaufen un hast überall gesagt: ich muß die Straße haben. Je, da haben sie dich eben angeguckt un gesagt: ›Sie?‹ Aber der da, der Hackemann verdammigte« – Monich schlug heftig auf den Besenröder Anzeiger – »der schreibt in dem Zeitungsartikel, daß er für sich gar nischt braucht. Der tritt in dem Artikel bloß für die gute Sache ein un für seine Mitmenschen. Un das, siehst du, das klingt gleich ganz anders. Wenn du sagst: ich – das macht sich nicht halb so gut, als wenn du sagst: die andern.«

Monich ging. Kortüm aber stieg wieder mühsam auf den Boden, stellte sich an der Dachluke auf die Zehen, klemmte seinen weißhaarigen Kopf in den Eisenrahmen und sah in zornigem Staunen, daß da unten 518 auf dem Schottenhof schon wieder fremde Männer herumgingen und haufenweise Stangen abluden mit rotgrünen Schildern. Ein Mann trug ein Dreibein, auf dem ein kleines Fernrohr befestigt war. Jemand brachte rotweiß lackierte Meßlatten. Das geschah auf dem kleinen Streifen Land, den Kortüm zu erblicken vermochte – was mochte erst im Verborgenen vor sich gehen! Ja, Kortüm war eingemauert und eingezäunt. Wenn er mehr wissen wollte, müßte er höflich an Doktor Langloffs Türe klopfen, ergebenst fragen – unmöglich! Kein Besitzer kann sich der Gefahr aussetzen, von seinem Pächter die Mitteilung entgegenzunehmen: Ich habe grade keine Zeit. Herr Kortüm konnte vorläufig nichts tun als Rätsel ratend zur Dachluke hinausgucken. Und das eine Rätsel war ja fast gelöst: was wollten die Leute da unten anderes, als die gute Straße von Besenroda zum Sanatorium Flügelhaus bauen, die sich niemals sanft und glatt hatte hinaufschlängeln wollen zum Flügelhaus Kortüms! –

»Jawoll«, sagte der alte Kapitän zu seinem Sohn, »so macht man das. Haha. Der Kortüm hat das Flügelhaus man bloß bauen können. Aber wir machen es rentabel. Das ist wie mitm Schiff, mein Junge: der eine baut's, damit der andre fährt.«

Kortüm hörte diese Worte nicht, aber er fühlte sie. Der neue Wind hier oben blies ihn hart an wie die scharfe Märzluft. Er klappte die Dachluke zu, stieg langsam die Bodentreppe hinab, setzte sich in seinen Lehnstuhl und klopfte hin und wieder an die Stelle der grünen Tapete, die besser nicht vermauert wäre.

Es kann keiner in einem Hause wohnen, der größer ist als das Haus.

 


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