Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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König Heinrich

Leider konnte Herr Kortüm dieses neu erwachte Leben nicht gleich in seinen ersten Regungen betreuen und in gute Bahnen lenken. Der Postbote legte einen schwarz geränderten Brief auf den großen Tisch unter der Windfahne. Kortüm las ihn und wurde vom Lesen so betrübt, daß er seine Echowände darüber vergaß. Erdmuthe Haupt zeigte an, daß ihre Schwester Bertha in ihrem vierundsiebenzigsten Lebensjahre sanft entschlafen war und auf dem Friedhof in Memleben am kommenden Donnerstag um elf Uhr begraben würde. Heute war Dienstag. Kortüm kannte die Verbindung des Schottengeländes mit Memleben; sie war äußerst verwickelt und zeitraubend.

»Ich muß also schon morgen fahren«, sagte er zu Frau Wingen.

Das alte Fräulein allein hinter dem Sarge ihrer Schwester hergehen zu lassen, kam Herrn Kortüm nicht in den Sinn. Sie wird in diesen Tagen immer an ihren Bruder denken, den Missionar im Pamir, dachte Kortüm. Der ist verschollen. Die Schwester tot. Und sie – ja, Geschwister sehen sich alt werden, aber im letzten Überlebenden verjüngt sich dann unversehens die Erinnerung in der Einsamkeit. Man sieht sich wieder im Elternhaus und denkt nach, wo der Weihnachtsbaum gestanden hat, und sieht sich vor dem Ladenfenster stehen und im Glasspiegel die Taschenuhr herausziehen, die man eben bekommen hat. Gefährlich. Man verlernt das Leben darüber. »Ich reise.«

Monich wollte seinen alten Freund die traurige Reise nicht allein tun lassen – Kortüms Gesundheit war angegriffen. Die Aufregungen der letzten Monate hatten ihn mitgenommen. »Ich komme mit«, sagte Monich und suchte seine Trauerkleidung zusammen.

Überrascht und gerührt sah Fräulein Erdmuthe den Herrn Kortüm in Gehrock und Zylinder die Dorfstraße entlangkommen und mit einem ebenfalls feierlich gekleideten unbekannten Herrn ihr kleines weinumranktes Haus betreten.

Armdick bespannten die kahlen Reben das niedrige Fachwerk bis über das Dach. Auf dem Hausflur roch es nach frischgestreutem feuchtem Sand, in dem die Tritte der Ankömmlinge knirschten.

Erdmuthe stand auf der Schwelle der Wohnstube: »Die Welt ist so groß, und man ist doch nicht vergessen.«

525 »Mein Freund Monich«, stellte Kortüm vor. »Groß? Oh, nicht größer als die Erinnerung.«

Die Herren traten ein, die Tür schloß sich hinter ihnen. Die Memleber sahen nichts mehr. Sie mußten sich nun schon gegenseitig ansehen; Memleben hätte nicht gedacht, daß »das alte Pastorfräulein« über so achtunggebietende Verwandtschaft verfügte. –

Die Fremden wohnten im Gasthof. Herr Kortüm langweilte sich. In der Ferne grollte der Donner eines Frühjahrsgewitters. Es begann zu regnen.

»Monich, sehen wir uns die Umgebung an.«

»'s regnet je.«

»Aber die Luft ist erfrischend. Wir können das alte Fräulein heute nicht mit unserem Besuch belästigen. Wir betrachten uns den Ort.«

Monich lehnte die Einladung ab. Er hatte sich vorgenommen, einen Schoppen in der Gaststube unten zu nehmen. Kortüm spannte seinen Schirm auf und machte sich allein auf den Weg. Die kahlen Dorfstraßen erheiterten den Trauergast nicht. Ein Haus wie das andere. Schon wollte er umkehren, als Kortüm einen riesenhaften Torbogen erblickte, der einsam und drohend für sich stand. Was dieses Ungeheuer zu bedeuten habe, fragte Kortüm einen jungen Menschen, der vom Felde kam und gegen die Nässe Kopf und Schultern mit einem Kartoffelsack umwickelt hatte.

»Das gehört zum Kloster.«

»Kloster? Ich sehe keins.«

»Das ist auch weg. Bloß da drüben rechts steht noch was davon. Da hat König Heinrich gewohnt.«

Kortüm hob den Kopf – der König Heinrich . . . Ja, jetzt fiel ihm ein, warum das Wort Memleben so feierlich klang und gar nicht passen wollte zu den gelben Autoschildern, auf denen es wie eine bloße Ortsbezeichnung stand. Hier hat der König Heinrich gewohnt, nahebei an der Riade seine große Schlacht geschlagen, und hier ist er auch gestorben. Nach Quedlinburg haben sie den Toten getragen. Aber sein Herz ist hier herum irgendwo beigesetzt.

»Der Gründer des Reichs«, murmelte Kortüm. »Und nur ein leeres Tor ist übrig?«

»Der Dom noch. Aber viel is auch nich mehr da. Dort. Nee, da drüben!«

526 Kortüm ging ein paar Schritte, um das Gotteshaus des Mannes zu sehen, der das Reich gebaut hatte.

»So rum müssen Sie gehn« – der Memleber zeigte dem Fremden den Pfad durch die Büsche. Kortüm trat in König Heinrichs Haus, wie der Wanderer in einen Wald eintritt: der freie Himmel bleibt offen über ihm, weil nur noch Pfeiler und Gewänd dastehen, wie Baum und Busch am Boden im Walde steht. Der Regen troff herein und sickerte in den Erdboden des steinernen Schiffs. Wie glasübergossen schimmerte das nasse Gemäuer. Der Memleber suchte an einem Pfeiler ein wenig Schutz vor dem Regen. Kortüm aber legte den Schirm zurück und sprach: »Treten Sie beiseite – was ist das?«

An dem Pfeiler leuchtete ein Bild unter dem rinnenden Wasser; ein Herr war da an die Wand gemalt, der Kopfhaltung nach ein großer Herr, sein Schwert war zu erkennen und der königliche Mantel um die Schultern.

»Das is er.«

Kortüm achtete des Regens nicht. Er sah den König an. Vor tausend Jahren war er hier gestorben, später hatten sie ihn ehrfurchtsvoll an die Wand gemalt. Nun war das Haus zerbrochen, kein Gestühl, kein Altar mehr – nur der König war noch da.

Das märzkahle tropfende Gebüsch bewegte sich im Wind. In der Ferne grummelte das Frühjahrsgewitter.

Langsam ging Kortüm nach dem Gasthof zurück. Ihn fröstelte. Er wollte sich in der Gaststube nach einem wärmenden Getränk umsehn, aber er traf es besser: der Wirt hatte inzwischen den Kachelofen geheizt. Mit dem Rücken an den Kacheln saß Monich und sagte vorwurfsvoll: »Bei dem Wetter kannst du dir je sonstwas holen.«

Kortüm schüttelte den Kopf und sagte: »Morgen mit dem frühesten, ob es regnet oder nicht, kommst du mit. Ich habe das Bild des Königs Heinrich gesehen.«

An den Fensterscheiben lief der Regen herab. Monich wollte eine Einwendung machen. Aber Herr Kortüm wischte über die Tischplatte: »Du mußt den König sehen. Wenn der nicht gelebt hätte, Monich, kämen die Deutschen nur noch in den Geschichtsbüchern anderer Völker vor, als Anmerkungen im Anhang.«

Monich sah sich in der warmen Gaststube um: »Kortüm, wer wohnte denn da hier?«

Herr Kortüm zuckte mit den Schultern: »Wie vor der Riadeschlacht – die Hunnen vielleicht.«

527 »So haben sie je uns genannt im Kriege.«

»Eine Verwechslung, Monich. Damals trieben sich in Europa allerlei farbige Leute herum. Seit undenklichen Zeiten spiegeln sich im Rheinstrom die Dome, Ende neunzehnhundertachtzehn aber spiegelten sich plötzlich Negerköpfe im Rhein. Ja, Europa war sich denn eine Verwechslung schuldig geworden, und es verging eine gute Zeit, bis die Europäer wieder erkennen konnten, wer zueinander gehört. Vieles ist vergessen, denn alles Leben ist ein Durchgang. Aber die große europäische Verwechslung soll festsitzen im Gedächtnis, damit sich Europa nicht noch einmal verwechselt: das wäre schade um Europa. Wir gehen in die Morgenandacht zu König Heinrich. Ich hätte nicht gedacht, daß man sein Bild noch an der Wand sieht und sein Herz schlagen hört in der alten Erde hier.«

Monich war nachdenklich geworden: »Der muß es auch nich leicht gehabt haben zu seiner Zeit. Die um uns rum haben uns nich geschätzt.«

»Dafür brauchen wir uns nicht mehr umzusehen, ob uns einer schätzt. Wir lieben. Was wir lieben wollen. Und wenn es uns gefällt zu lieben.«

Am anderen Morgen schien die schönste Sonne. Kortüm und Monich legten die Trauerkleidung an und gingen zur Domruine. Unterwegs erzählte Kortüm seinem Freund, was er wußte von Heinrich, dem König der Könige, der hier auf diesem Stück Erde im Jahre neunhundertsechsunddreißig in die Ewigkeit eingegangen war. Von Heinrichs Sohn sprach Kortüm, der auch in Memleben gestorben war und dem sie den Beinamen »Der Große« gegeben hatten. »Auf die anderen Pfeiler der Kirche sind auch Bilder gemalt«, sagte Kortüm. »Gewiß stellt ein Bild Otto den Großen dar, wir müssen alles genau betrachten. Gestern habe ich nur an König Heinrich gedacht.«

In Monich aber war seit dem vergangenen Abend die Erinnerung an den Krieg und die Jahre nach dem Krieg aufgestiegen. Er hatte schlecht geschlafen, qualvoll geträumt und wollte sich nun die Leiden jener dunklen Zeit von der Seele reden. Kortüm hörte eine Weile zu, dann blieb er stehen und legte die Hand auf Monichs Arm: »Du hast dir's gut gemerkt. Ich habe es mir sogar aufgeschrieben, damit ich's nicht vergesse. Von Zeit zu Zeit liest man es wieder. Da und dort muß man ein Wort, einen Satz ausstreichen, andres drüberschreiben. Kürzlich habe ich einen ganzen Abschnitt zukleben müssen – Monich, 528 wir leben in einer wunderbaren Zeit. Die Geschichte läuft heute schnell. Deine Tinte ist noch nicht trocken, und Klio, das alte Mädchen, ist schon vorbei, auf Flügeln davon – und du sitzt da. Sieh mal, du hast immer da 'nüber gesehn, sagst du, nach der Grenze, und wie du dir auch die Augen aus dem Kopf gestarrt hast: immer blickte dich nur die schwarze Höhlung eines Geschützrohres an – ›Seele‹ nennt der Artillerist das Innere des Kanonenrohrs: merkwürdiger Ausdruck, Monich, wie? – ja, und eines anderen Tages? Da blickt dich von dort und derselben Stelle wirklich eine Seele an, ein menschliches Menschenantlitz – aber da ist der Heinrichsdom!«

Immer erwartungsvoller war Monich geworden. Jetzt schlug er die Büsche auseinander, sie traten ein in die Kathedrale ohne Dach und Gewölbe, in dieses Gotteshaus des deutschen Wesens mit dem offenen Himmel über sich und dem Herz des Gründers des Reiches im Erdboden unter sich. Monich starrte die grauen Pfeiler an. Kortüm hob die Augenbrauen hoch und sah auch Pfeiler um Pfeiler an: hier war es doch . . . nein, vielleicht dort . . . doch, hier! Nichts war zu sehen als grauer Stein und bröckliges Mauerwerk. Da und da ein bleicher Hauch von Farbe vielleicht – nichts sonst!

Monich sah Kortüm an.

Kortüm ging nochmals alle Pfeiler ab. Er suchte den Pfad wieder, den er gestern gekommen war, stellte sich an dieselbe Stelle, nahm den Zylinder ab, sah scharf den Pfeiler an: klares, märzlich hartes Sonnenlicht beschien die Quadern . . . es blieb dabei, nichts war zu sehen. Ein Hauch, eine Ahnung von Farbe. Aber kein König, kein Kaiser . . .

»Ich verstehe es nicht, Monich.«

»Die Reise, Kortüm, 's Wetter, die Anstrengung – du hast's im Traume gesehn.«

»Dort an dem Pfeiler habe ich König Heinrich gesehen.«

»Dann is es Zauberei gewesen.«

»Es war Wirklichkeit!«

»Je, Kortüm . . .«

Auf dem Boden lag ein altes verstümmeltes Kapitäl. Mühsam setzte sich Herr Kortüm. Er war sehr nachdenklich geworden. Schließlich mahnte ihn Monich: »'s is nu Zeit. Sie läuten schon.«

Die Trauergäste gingen zu Fräulein Erdmuthes Haus, sie wandelten hinter Berthas Sarg her. Unruhig hörte Herr Kortüm die Leichenrede an. Der Pastor sprach vom Verschwinden des Menschen von der Erde. Kortüm grübelte über das Verschwinden König Heinrichs.

529 Fräulein Erdmuthe hatte die beiden auswärtigen Herren zu Tisch geladen. Sie war ruhig und gefaßt. Die alte Dame stand zu hoch in Jahren, um dem Tod allzuviel Reverenz zu erweisen. Ihre Gedanken gingen rückwärts. Von Ernst Haupt erzählte sie, dem Missionar, ihrem Bruder. Beim Kaffee suchte sie eine Landkarte hervor und zeigte Herrn Kortüm den Weg, den der mutige Mann gezogen war. Fräulein Erdmuthe brachte schließlich eine alte perlenbestickte Ledermappe und zog eine Photographie ihres Bruders heraus. Kortüm betrachtete lange das vergilbte Bildchen: »Seltsam. Er sieht aus wie ein Prediger in Halle an der Saale, und in Wahrheit lebt er hinter dem Euphrat, im Pamir.«

»Das sind seine letzten Briefe.«

Die Blätter waren mit dünnem Bleistift sauber beschrieben, aber am Briefkopf standen wunderbare Worte aus Tausendundeiner Nacht: Kaschgar, Gilghit, Taschkent.

Kortüm genoß diese Schreiben wie der Musiker eine Partitur. Wo der Laie nur schwarze Notenköpfe sieht, wogt dem Kenner ein Tönemeer entgegen. Kortüm sah die frommen Papierblättchen an und erblickte eine ungeheure gelbgraue Sandewigkeit. »Die Sonne geht eben unter, liebe Schwester«, las er, und über einem vereisten rissigen Felsgrat hing ein glutroter Ball, Kamelreiter stiebten aus dem Sand, verschwanden wie Spuk . . .

Und Herr Kortüm begann zu erzählen von seinen großen Reisen.

»Ich werde doch noch vorm Ende meiner Tage den Mittelpunkt der Erde betreten«, schloß er.

Das alte Fräulein lächelte, sann eine Weile vor sich hin – jetzt nahm sie die Photographie, das Briefbündel, wand einen Faden darum und sagte: »Nehmen Sie das, Herr Kortüm. Wenn Sie auch selber nicht hinkommen – Sie kennen viele Menschen. Leute aus aller Welt kommen zu Ihnen. Wer kommt noch zu mir? Heben Sie die Papiere meines Bruders auf. Ich suche noch das andere zusammen, was ich habe. Denken Sie immer einmal daran. Fragen Sie den und jenen, der bei Ihnen einkehrt. Und wenn Sie etwas hören, so sagen Sie mir's. Wenn ich nicht mehr lebe, sagen Sie mir's doch. Ich fühle es dann.«

Monich hatte die Kortümschen Erzählungen aus weiter Welt mißtrauisch angehört. Die Überreichung dieser Papiere beunruhigte ihn vollends: »Kortüm, bleib hier. Wenn du so siehst, wie da draußen der Mensch abhanden kommt – hier weißte doch, wo du bist.«

»Weiß ich das?« rief Herr Kortüm. »Alles ist unsicher«, und er erzählte das unheimliche Erlebnis im Heinrichsdom.

530 »Waren Sie gestern dort? Beim Gewitter?« fragte Fräulein Erdmuthe. »Ja, dann hat es schon seine Richtigkeit. Es ist merkwürdig mit den Memleber Bildern. Mein Vater und mein Großvater waren Pastoren hier in der Gegend, und zu deren Zeit wußte man es auch schon. Bei trockenem Wetter, wenn die Sonne scheint, sind die Bilder so gut wie unsichtbar. Aber bei Unwetter, wenn es regnet und eist, treten sie hervor. Ein Gelehrter hat meinem Vater einmal erzählt: wie die Bilder gemalt wären, wüßte man nicht genau, aber daß sie unter dem Wasser deutlich würden, das stimme schon.«

Kortüm stand auf und sprach: »Man hat es gehört. Es ist an dem. Uns ist ein Zeichen gegeben. Im Unwetter tritt König Heinrich hervor aus der Wand, die gebaut ist über seinem Herzen. Und wird uns sichtbar. Dieses Wunder geschieht mitten unter uns. Seit Generationen. Wir werden in jedem Jahre, einmal im Regen, das andere Mal bei Sonne, über Deutschland nachdenken auf diesem Stück Erde hier, in der König Heinrichs Herz ruht und über der er in Erscheinung tritt, wenn wir im Unwetter sind.«

Herr Kortüm zwang Monich, noch zwei Tage in Memleben zu bleiben. Am dritten regnete es endlich wieder, und Monich sah den König.

Kortüm verbrachte die Nachmittage bei Fräulein Erdmuthe, ließ sich erzählen und erzählte selber viel vom Mittelpunkt der Erde, den er immer noch nicht betreten habe. Er lernte den verschollenen Missionar kennen, als ob er mit ihm aufgewachsen wäre, und verwahrte sorgfältig die Dokumente seines Daseins, die ihm Erdmuthe Haupt anvertraute.

 


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